Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 26.01.2006, Az.: 2 A 142/05
Eingliederungshilfe; Kosten; Kostenübernahme; Legasthenie; Legastheniebehandlung; Legasthenietherapie; Legastheniker; Teilhabegefährdung
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 26.01.2006
- Aktenzeichen
- 2 A 142/05
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2006, 53402
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 35a SGB 8
- § 53 Abs 4 SGB 12
- § 54 Abs 1 Nr 1 SGB 12
Tatbestand:
Die Beteiligten streiten über eine Verpflichtung des Beklagten, die Kosten der bei der Klägerin durchgeführten außerschulischen Legasthenietherapie zu übernehmen.
Die am ... geborene Klägerin besucht zur Zeit die 5. Klasse der J. -Realschule in K. -L.. Bereits in der Grundschule - im 3. Schuljahr - fiel auf, dass sie sehr große Schwierigkeiten mit der Rechtschreibung hatte, weshalb sie erstmals im Dezember 2003 und sodann erneut Anfang März 2004 dem Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie M. N. aus O. vorgestellt wurde, der bei der Diagnostik die Testverfahren K-ABC (Intelligenztest), WRT2+ (Rechtschreibtest), ZLT (Lesetest) und MOTTIER (Überprüfung der Lautdifferenzierungsfähigkeit und auditiven Merkfähigkeit) einsetzte. Die Untersuchungsergebnisse zeigten nach Auffassung von Herrn N., dass die allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeiten der Klägerin im durchschnittlichen Bereich lägen (IQ: 92), jedoch ihre Rechtschreibefähigkeiten weit unterdurchschnittlich seien (Prozentrang 6 beim WRT3+). Da die Ergebnisse im Lesetest eher im durchschnittlichen Bereich lagen, kam Herr N. zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin eine isolierte Rechtschreibstörung (ICD10: F81.1) vorliege. Die Klägerin sei bezüglich ihrer Schreibfähigkeiten bereits extrem misserfolgsorientiert und blockiere insbesondere die häusliche Hausaufgabensituation. Sie lese ungern und wenig. Von ihrer Umwelt werde sie als ein eher ängstliches, schnell zu verunsicherndes Mädchen beschrieben. Der interfamiliäre Stress wegen der Hausaufgabensituation und ihr ausgeprägter Widerstand gegen das Schreiben werde, wie bereits erkennbar sei, zu einer erheblichen Belastung in Beziehungen zu ihrer familiären und schulischen Umgebung führen. Eine Förderung innerhalb der Schule reiche derzeit wegen Ausmaß und Besonderheit der zugrundeliegenden Funktionsstörungen und vor dem Hintergrund der sich etablierenden emotionalen Beeinträchtigung nicht aus. Ohne Einleitung geeigneter qualifizierter Hilfen werde ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweichen, und eine Beeinträchtigung ihrer Teilnahme am Leben in der Gesellschaft sei daher zu erwarten. Ärztlicherseits sei die Durchführung einer Legasthenietherapie mit zunächst 40 Behandlungssitzungen als Einzelbehandlung indiziert.
Nachdem die Mutter der Klägerin bereits telefonisch am 25.02.2004 beim Beklagten die Kostenübernahme für eine ambulante Legastheniebehandlung für die Klägerin beantragt hatte, stellte sie dafür unter dem 25.03.2004 einen erst am 05.05.2004 beim Beklagten eingegangenen schriftlichen Antrag. Beigefügt war ein Schulbericht der P. schule in Q. vom 22.03.2004, in dem von der Klassenlehrerin der Klägerin unter anderem folgende Angaben gemacht wurden:
(Zu schulischen Fördermaßnahmen:) Die Klägerin habe im vergangenen Schuljahr sowie im laufenden Schuljahr Förderunterricht in Mathematik und Deutsch genossen. Inhaltlicher Schwerpunkt der Fördermaßnahmen sei unter anderem die Rechtschreibung (lautgetreues Schreiben) gewesen. Das Lern- und Arbeitsverhalten der Klägerin in den Förderstunden sei positiv und bemüht, die Lernfortschritte seien jedoch langsam.
(Zum Verhalten des Kindes bei Erfolg/Misserfolg:) Sie zeige Freude bei Erfolg, bei Misserfolgen sei sie in sich gekehrt und deprimiert.
(Zum Verhalten in sozialen Situationen:) Die Klägerin habe gute soziale Kontakte, sei eher lebhaft aktiv. Sie zeige keine Auffälligkeiten in sozialen Situationen und sei sehr gut in die Klassengemeinschaft integriert. Sie habe gute Kontakte zu allen Mitschülern und eine enge Freundschaft zu einer Mitschülerin.
(Bemerkungen/Anregungen:) Die Klägerin brauche mehr Erfolgserlebnisse, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Eine Rechtschreibtherapie könnte dazu beitragen.
Nachdem auf Aufforderung des Beklagten der Arzt M. N. mit Schreiben vom 14.07.2004 seine fachärztliche Stellungnahme hinsichtlich der von ihm festgestellten Testergebnisse weitergehend erläutert hatte, erhielten die Eltern der Klägerin mit Schreiben des Beklagten vom 25.08.2004 den Hinweis, dass die von den Jugendämtern der Landkreise D., O. und R. sowie der Städte O. und S. zum 01.08.2003 neu eingerichtete Fachstelle § 35 a SGB VIII eine Begutachtung veranlassen werde.
Am 03.11.2004 wurde die Klägerin in der Fachstelle vorgestellt, die unter anderem einen Rechtschreibtest (DRT3) durchführte, den die Klägerin mit einem Prozentrang von 15 und einem T-Wert von 39/40 als Ergebnis bewältigte. Die Fachstelle kam daraufhin zu dem Ergebnis, dass bei der Klägerin aufgrund des erreichten relativ guten Ergebnisses im Rechtschreibtest nicht von einer isolierten Rechtschreibstörung zu sprechen sei. Ihre Rechtschreibleistungen wichen nur unwesentlich von ihren allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeiten ab. Auch qualitativ könne nicht von einer Rechtschreibstörung ausgegangen werden, da die Klägerin lautgetreu schreiben könne. Es liege keine Legasthenie vor.
Daraufhin lehnte der Beklagte mit Bescheid vom 10.12.2004 den Antrag der Klägerin auf Eingliederungshilfe ab, da nach den Erkenntnissen der Fachstelle keine Legasthenie bei der Klägerin vorliege. Der hiergegen eingelegte Widerspruch wurde mit Widerspruchsbescheid des Beklagten vom 25.02.2005 zurückgewiesen. Der Beklagte hatte zuvor eine Stellungnahme der Fachstelle eingeholt, nach der die Rechtschreibleistungen eines Kindes, um bei ihm die Diagnose einer Legasthenie nach den ICD10 stellen zu können, 2 - und nach den Anforderungen des AWMF 1 ½ - Standardabweichungen (das entspricht 20 bzw. 15 T-Wert Punkten) unter den allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeiten - gemessen mit einem normierten Intelligenztest - liegen müssten. Bei der Klägerin liege aber keine ausreichende Differenz zwischen ihrer Rechtschreibfähigkeit und ihren allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeiten vor, so dass für sie die Diagnose „LRS“ nicht vergeben werden könne. Dies sei bereits unter Zugrundelegung der Ergebnisse des Ausgangsgutachtens von Herrn N. vom 08.03.2004 festzustellen.
Die Klägerin hat am 29.03.2005 Klage erhoben. Im Gutachten des Facharztes N. vom 08.03.2004 sei für sie eine Teilleistungsschwäche im Lese und Rechtschreibbereich diagnostiziert worden. Damit diese Rechtschreibschwäche nicht zu einer Anpassungsstörung (F43.2 nach ICD10) führe, hätten sich ihre Eltern entschlossen, ab Mai 2004 mit der Legasthenietherapie für sie zu beginnen. Die Funktionsschwäche der Klägerin habe infolge der anhaltenden Misserfolgserlebnisse, Kränkungen und Entmutigungen zu Ängsten, beginnender Vermeidungshaltung und Schulunlust geführt. Deshalb drohe ihr das Entstehen einer seelischen Behinderung, was mit der Legasthenietherapie aber vermieden werden könnte. Auf diese Therapie habe sie nach § 35 a Abs. 1 SGB VIII einen Rechtsanspruch. Bei ihr liege nämlich eine über 6 Monate anhaltende seelische Störung vor, durch die ihre Fähigkeit zur Eingliederung in die Gesellschaft beeinträchtigt werde. Sie leide an einer Schulphobie, die totale Schul- und Lernverweigerung und der Rückzug aus jedem sozialen Kontakt sowie die Vereinzelung in der Schule sei deshalb zu befürchten. Um dem entgegenzuwirken, habe die Klägerin eine Legasthenietherapie als erfolgversprechende Eingliederungsmaßnahme frühzeitig begonnen. Der Beklagte habe sich nur unzureichend mit der fachärztlichen Stellungnahme von Herrn N. vom 08.03.2004 auseinandergesetzt und in den angefochtenen Bescheiden nicht aufgezeigt, weshalb seine ärztlichen Einschätzungen unrichtig sein sollten. Auch die Sprach- und Legasthenietherapeutin T. -U. bestätige - mit Schreiben vom 24.09.2005 -, dass bei der Klägerin nach wie vor eine Lese- und Rechtschreibschwäche vorliege. Die Klägerin habe durch die seit nunmehr über einem Jahr andauernde Therapie ihren Leistungsstand jedoch erheblich verbessern können. Ein Therapieabbruch würde zu ihrer Verunsicherung führen. Für den Erfolg der Behandlung sprächen auch die besseren Ergebnisse, die die Klägerin bei der Diagnostik durch die Fachstelle im Unterschied zur Anfangsdiagnostik durch Herrn N. erzielt habe. Die Klägerin hätte beim Besuch der Fachstelle bereits 17 Stunden LRS-Therapie absolviert gehabt. Soweit sich die Fachstelle hinsichtlich der Ablehnung der Diagnose „LRS“ lediglich auf die Bewertung der T-Werte stütze, sei dies zu einseitig, ebenso müsste die jeweilige psychosoziale Anpassung der Kinder Berücksichtigung finden.
Die Klägerin beantragt,
den Beklagten unter Aufhebung seines Bescheides vom 10.12.2004 und seines Widerspruchsbescheides vom 25.02.2005 zu verpflichten, ihr ab Antragstellung (05.05.2005) Eingliederungshilfe durch Übernahme der Kosten für eine Legasthenietherapie für 40 Stunden zu bewilligen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er tritt der Klage unter Verteidigung der angefochtenen Bescheide entgegen und führt ergänzend aus, dass Voraussetzung für die Diagnose einer Legasthenie nach dem allgemein gültigen Qualifikationssystem des ICD10 eine ausreichend große Differenz zwischen den Rechtschreibfähigkeiten und den allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeiten des Kindes sei. In Anwendung von normierten Rechtschreibtests müssten 1 ½ bis 2 Standardabweichungen, was 15 - 20 T-Wertpunkten entspräche, zwischen den Rechtschreibleistungen und den allgemeinen Leistungsmöglichkeiten (Intelligenz) festgestellt werden. Dies treffe auf die Klägerin nicht zu. Soweit die Klägerin darauf verweise, dass sie im Hinblick auf die durchgeführten Therapiestunden bereits Fortschritte erzielt habe, dürfe nicht der Schluss gezogen werden, dass allein aus diesen Erfolgen auf das Vorliegen einer Legasthenie geschlussfolgert werden könne.
Das Gericht hat über die Frage, ob vor bzw. bei Beginn der Legasthenietherapie die Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gemeinschaft beeinträchtigt oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten war, durch Vernehmung ihrer Mutter als Beteiligte Beweis erhoben. Wegen des Ergebnisses der Beweisaufnahme wird auf das Sitzungsprotokoll vom 08.12.2005 Bezug genommen. Weitere Beweisantrage der Klägerin, die sich im Einzelnen aus den Sitzungsprotokollen vom 08.12.2005 und 26.01.2006 sowie ihren Anlagen ergeben, hat die Kammer abgelehnt. Auch insoweit wird auf beide Sitzungsprotokolle Bezug genommen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die Gerichtsakte im Übrigen und auf die Verwaltungsvorgänge des Beklagten (Beiakten A und B) Bezug genommen. Diese Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist nicht begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 10.12.2004 und der ihn bestätigende Widerspruchsbescheid vom 25.02.2005 sind im Ergebnis rechtmäßig, so dass die Klägerin keinen Anspruch auf Förderleistungen für 40 Stunden Legasthenietherapie durch den Beklagten hat (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch auf Übernahme der Kosten für eine Legasthenietherapie aus Mitteln der Jugendhilfe ist § 35 a SGB VIII. Soweit der Bedarf der Klägerin im Jahre 2004 entstanden ist, beantwortet sich die Frage, ob sie zum berechtigten Personenkreis der Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder und Jugendliche gehört, nach § 35 a Abs. 3 SGB VIII i.V.m. §§ 39 Abs. 4, 40 Abs. 1 Nr. 4 i.V.m. § 3 der Verordnung nach § 47 BSHG (Eingliederungshilfe-Verordnung). Soweit der Bedarf im Jahre 2005 entstanden ist, ergeben sich die - inhaltsgleichen - Voraussetzungen aus §§ 53 Abs. 4, 54 Abs. 1 Nr. 1 SGB XII i.V.m. § 3 Eingliederungshilfeverordnung.
Gemäß § 35 a Abs. 1 SGB VIII i.d.F. des Gesetzes vom 30.07.2004 (BGBl I S. 2014) haben Kinder oder Jugendliche Anspruch auf Eingliederungshilfe, wenn
ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als 6 Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht und
daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.
Ob bei der Klägerin eine seelische Störung vorliegt, also das erste der beiden Tatbestandsmerkmale, die kumulativ vorliegen müssen, gegeben ist, lässt die Kammer dahin stehen. Denn nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist das Gericht zu der Überzeugung gelangt, dass bei der Klägerin jedenfalls eine Teilhabebeeinträchtigung am Leben in der Gemeinschaft, also das zweite Tatbestandsmerkmal, weder vorliegt noch zu erwarten ist.
Die Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft wird bei Teilleistungsstörungen - wie der Legasthenie - nach der Intensität der Auswirkungen der seelischen Störung abgegrenzt, indem gefragt wird, ob die seelische Störung so intensiv ist, dass sie über bloße Schulprobleme und Schulängste, die andere Kinder teilen, in behinderungsrelevanter Weise hinausgeht, z. B. zu einer auf Versagensängsten beruhenden Schulphobie, einer totalen Schul- und Lernverweigerung, dem Rückzug aus jedem sozialen Kontakt und der Vereinzelung in der Schule geführt hat bzw. zu führen droht (vgl. BVerwG, Urt. v. 26.11.1998 - 5 C 38.97 -, FEVS 49, 487 ff.). Erforderlich ist also, dass eine nachhaltige Einschränkung der sozialen Funktionstüchtigkeit des Kindes vorliegt oder droht. Daraus folgt, dass bei bloßen Schulproblemen, wie sie auch andere Kinder haben, z.B. Gehemmtheit, Versagensängsten oder Schulunlust, eine seelische Behinderung noch nicht gegeben ist. Es verbietet sich demnach, jede Beeinträchtigung in der Schule, die aufgrund der Legasthenie eintritt, schon als Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben der Gesellschaft zu definieren. Nur eine solche Sichtweise ist interessengerecht, da es primär die Aufgabe der Schule ist, eine Lese- oder Rechtschreibschwäche durch geeignete Maßnahmen zu beheben oder in ihren Auswirkungen abzumildern. Es ist daher angezeigt, den Nachweis weit mehr als üblicher schulischer Probleme im Fall mangelhafter Rechtschreibleistungen zu fordern, bevor ein Anspruch auf Eingliederungshilfe entstehen kann. Es ist nach den vorstehenden Maßgaben bei der Klägerin nicht von einer bestehenden oder drohenden Beeinträchtigung der Fähigkeit zur Teilhabe am Leben in der Gemeinschaft auszugehen. Denn ihre Möglichkeiten zur Teilhabe in der Gemeinschaft weichen nach den sich aus dem Verwaltungsvorgang und der Beweisaufnahme ergebenden Lebensumständen nicht in schwerwiegender Weise von dem alterstypischen Durchschnitt ab. Sie lebt - nicht anders als viele andere Kinder - in einer normalen, sie stützenden und unterstützenden Familiensituation. Sie leidet auch nicht unter wesentlichen Erkrankungen. Soweit die Klägerin nicht von der Hand zu weisende Probleme und Ängste im Hinblick auf den Deutschunterricht in der Schule hatte, haben diese allerdings keinen Umfang erreicht, der von dem anderer, in diesem Schulfach leistungsschwacher Schüler abweichen würde. Dies wird zunächst durch die vorgelegten Zeugnisse der Klägerin für das dritte Schuljahr bestätigt. Danach entsprach ihr Sozialverhalten den Erwartungen „in vollem Umfang“. Sie nahm mit viel Freude am Textilunterricht teil. Auch der Schulbericht vom 22.03.2004 weist auf keinerlei nennenswerte soziale Probleme der Klägerin in der Schule hin. Im Sportunterricht sei die Klägerin trotz ihres relativ hohen Körpergewichts sehr motiviert gewesen. Ihr Lern- und Arbeitsverhalten wurde als „positiv, bemüht“ gekennzeichnet, sie habe gute soziale Kontakte und sei „eher lebhaft aktiv“. Sie zeige keine Auffälligkeiten in sozialen Situationen, sei in die Klassengemeinschaft sehr gut integriert, habe gute Kontakte zu allen Mitschülern und eine enge Freundschaft zu einer Mitschülerin. Damit ist also von einem positiven sozialen Verhalten mit weitgehend ungestörtem Kontakt der Klägerin zu ihren Mitschülern auszugehen. Die beschriebenen Ängste im Deutschunterricht haben keineswegs zu einer völligen Schulphobie oder Leistungsverweigerung geführt. Was der Klägerin nach Meinung ihrer Lehrerin fehle, seien mehr schulische Erfolgserlebnisse, um ihr Selbstbewusstsein zu stärken. Dass die vorgetragenen Schulängste der Klägerin nennenswert von dem alterstypischen Durchschnitt abweichen würden, ergibt sich nach den aus den Akten ermittelten Umständen also nicht. Selbst wenn die Lehrerin durchaus die Gefahr schulischer Probleme in der Zukunft sieht und die Klägerin Schwierigkeiten hat, ihre Rechtschreibschwäche zu akzeptieren, bedeutet dies noch nicht, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit in der Zukunft eine Schulphobie entwickeln wird. Eine seelische Störung muss auch nicht zwingend zu einer seelischen Behinderung führen. Sie ist häufig einer kinderärztlichen, kinderpsychiatrischen oder kinder- bzw. familienpsychotherapeutischen Behandlung zugänglich (vgl. Vondung in LPK-SGB VIII: § 35a Rn. 7 unter Hinweis auf Lempp, Die seelische Behinderung bei Kindern und Jugendlichen als Aufgabe der Jugendhilfe, S. 27).
Auch in dem Elternfragebogen aus November 2004 finden sich keine Hinweise darauf, dass die Klägerin in einem belastenden Umfeld aufwachsen würde. Die Klägerin habe beim Chorsingen und am Voltigieren teilgenommen, sie habe zwei Freundinnen, sie sei ein liebes, nettes, hilfsbereites und gehorsames Mädchen. Bei den abgefragten Eigenschaften und Verhaltensweisen des Kindes gaben die Eltern ebenfalls keine Auffälligkeiten an, die Rückschlüsse auf mangelnde soziale Integration zuließen.
Die oben dargestellten und in den Verwaltungsvorgängen dokumentierten Erkenntnisse der Kammer sind in der Beweisaufnahme eindrucksvoll bestätigt worden. Die Mutter der Klägerin hat ihre Tochter zwar als „zu langsam und zu ruhig“ und als wenig selbstbewusst - sie traue sich wenig zu - geschildert. Doch sei sie im Freizeitbereich in ihrer Umwelt integriert. Sie sei früher im Schwimmverein und beim Chorsingen gewesen, habe dies nur aufgegeben, weil ihre Freundinnen da nicht mehr dabei gewesen seien bzw. sie sich für „zu alt“ für den Chor gehalten habe. Jetzt sei sie Mitglied der Jugendfeuerwehr und voltigiere. Sie sei zwar eher still und habe wenig freundschaftliche Beziehungen, doch habe sie an zahlreichen Aktivitäten teilgenommen, gehe gern zur Schule, habe kein gestörtes Verhältnis zu anderen Kindern und keine ausdrückliche Außenseiterstellung. Sie könne auch gut mit Hänseleien wegen ihres Gewichtes umgehen.
Weiterer Beweis als die erfolgte Vernehmung der Mutter der Klägerin war nicht zu erheben.
Soweit die Klägerin zunächst beantragt hatte, den Arzt M. N. als sachverständigen Zeugen dazu hören, ob sich die im März 2004 diagnostizierten „inneren Unsicherheiten“ infolge der durchgeführten Therapie gebessert hätten, war dem schon deshalb nicht nachzugehen, weil es für den Ausgang des Rechtsstreites lediglich auf die Frage der Therapienotwendigkeit im Frühjahr 2004 und nicht auf den „Istzustand“ ankommt.
Auch die weiteren Beweisanträge der Klägerin waren abzulehnen. Es war nicht notwendig, Beweis zu erheben über die Behauptungen, dass im Frühjahr 2004 eine Teilhabe der Klägerin am Leben in der Gemeinschaft infolge der Legasthenie dadurch drohte, dass
- der Klägerin keine Deutschnote erteilt werden konnte,
- die Klägerin erwarten musste, wegen der Rechtschreibschwäche keine Realschulempfehlung zu erhalten,
- die familiäre Situation stark belastet wurde, weil die Mutter bis zu vier Stunden lang die Hausaufgaben betreuen musste, ohne dass sich der gewünschte Erfolg zeigte, was zu starken Spannungen führte,
- die Klägerin sich schulisch „selbst aufgab“, weil sie bei den Rechtschreibaufgaben resignierte,
- die Klägerin sich von den Mitschülern mit Gymnasialniveau zurückzog und nur den Kontakt mit Freunden/Mitschülern mit vergleichbaren Problemen (z. B. ADS) noch aufrecht erhielt,
durch (erneute) Vernehmung der Mutter der Klägerin und des Herrn M. N. .
Zum einen ist zum Gegenstand des Beweisantrages der unbestimmte Rechtsbegriff der Teilhabegefährdung selbst gemacht worden und nicht das (dem Beweis zugängliche) Vorliegen seiner tatsächlichen Voraussetzungen. Nach Auffassung von Stähr (in Hauck/Haines, SGB VIII, Rn. 31 zu § 35 a), die die Kammer teilt, beruht die Feststellung einer Beeinträchtigung einer Teilhabe am Leben in der Gesellschaft nicht primär auf medizinischer Diagnostik, sondern ist ein sozialrechtliches Konstrukt. Es geht um die Beschreibung eines Gesamtzustandes, der nur teilweise mit medizinischen Kategorien erfasst werden kann, insgesamt aber in ausschlaggebender Weise mit den Merkmalen sozialer Integrationsfähigkeit zu bestimmen ist, so dass deren Fehlen den Rechtsanspruch auf geeignete Hilfen auslöst. Es hängt indessen von den jeweiligen gesellschaftlichen Anschauungen ab, wie Art und Umfang von Beeinträchtigungen der sozialen Integrationsfähigkeit zu konstatieren sind. Für die Feststellung einer nachhaltigen Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben in der Gesellschaft stehen objektive Merkmale im Sinne eines messbaren Vergleichs mit anderen Behinderungen nicht zur Verfügung. So ist es zwar denkbar, die subjektive Seite einer Behinderung einzubeziehen und darauf abzustellen, wie weit das Kind oder der Jugendliche sich selbst als behindert empfindet. Dies ist aber nur ein begrenzt fassliches Kriterium. Primärer Gesichtspunkt muss vielmehr das Ausmaß einer (objektiv) festzustellenden Beziehungsstörung zwischen dem Kind bzw. Jugendlichen und seiner Lebensumwelt sein. Der Blick auf den Zustand der Interaktion, d. h. auf die wechselseitige Beziehung zwischen dem Kind und seinen Mitmenschen, wie es die Kammer (oben bereits dargestellt) in hinreichendem Umfang getan hat, gibt deshalb noch am ehesten Auskunft über die Beeinträchtigung der sozialen Integrationsfähigkeit.
Im Übrigen gilt Folgendes:
Wenn die Klägerin eine Teilhabegefährdung darin sieht, dass ihr keine Deutschnote im Frühjahr 2004 erteilt werden konnte, so steht die Behauptung dahinter, dass die Nichtbenotung im Fach Deutsch ihre schulische Integration beeinträchtigt oder gefährdet hat. Formulierte man die Beweisfrage so, wären die benannten Zeugen untaugliche Beweismittel. Denn sowohl die Mutter der Klägerin als auch Arzt N. könnten nicht selbst Erlebtes, sondern allenfalls „aus zweiter Hand“ berichten. Die Kammer musste auch nicht von Amts wegen die Lehrerin der Klägerin insoweit als Zeugin vernehmen, denn aus den Akten ergibt sich eindeutig das Vorliegen einer guten schulischen Integration der Klägerin. Im Übrigen gibt es keinerlei Anhaltspunkte für die Annahme, dass in der Nichtvergabe einer Rechtschreibnote eine schulische Ausgrenzung gesehen werden könnte. Das Gegenteil ist eher der Fall. Denn die Schulen sind ausdrücklich angewiesen, bei Legastheniekindern zu ihrem „Schutz“ keine Note in Rechtschreibung zu vergeben.
Soweit im Beweisantrag die weitere Frage aufgeworfen wird, ob der Klägerin eine Teilhabegefährdung dadurch drohte, dass sie erwarten musste, wegen der Rechtsschreibschwäche keine Realschulempfehlung zu erhalten, ist eine Beweiserhebung unnötig, denn es ist bei einem Blick in das Abschlusszeugnis der 4. Klasse der Klägerin offenkundig, dass sie lediglich eine Hauptschulempfehlung erhalten hatte, dann aber entsprechend ihrem Wunsch und mit dem Einverständnis ihrer Eltern in der Realschule in K. -L. beschult wurde. Daraus ist zu schließen, dass es für die Eltern der Klägerin (und auch für sie selbst) nie ernsthaft zur Debatte stand, dass sie auf die Hauptschule gehen sollte.
Soweit die Klägerin über die starke Belastung der familiären Situation wegen der überlangen notwendigen Zeit für die Hausaufgaben Beweis erheben lassen will, wäre eine solche Beweisaufnahme überflüssig, da dies sich bereits so wie von der Klägerin behauptet aus den Akten ergibt. Der Kammer ist sowohl bekannt, dass sich die Hausaufgaben teilweise über Stunden (und manchmal ohne Erfolg) hinzogen haben, als auch, dass daraus starke familiäre Spannungen resultierten. Dass sich aus diesen Erkenntnissen Konsequenzen im Hinblick auf eine Teilhabegefährdung ergäben, sieht die Kammer nicht. Vielmehr handelt es sich um eine rechtliche Bewertung, die nicht im Wege der Beweisaufnahme vorgenommen werden kann. Zudem können familiäre Spannungen keine gesellschaftliche Ausgrenzung darstellen.
Die im Beweisantrag formulierte Behauptung, dass sich die Klägerin schulisch „selbst aufgab“, weil sie bei den Rechtschreibaufgaben resignierte, ist ohne jeden tatsächlichen Anknüpfungspunkt, also quasi „ins Blaue hinein“ abgegeben worden. Die Kammer ist im Übrigen bereits vom Gegenteil überzeugt. Die Mutter der Klägerin hat nämlich ausgesagt, dass ihre Tochter schon früher gern zur Schule gegangen sei und kein gestörtes Verhältnis zu anderen Kindern bzw. eine Außenseiterstellung habe. Auch spricht die Tatsache, dass die Klägerin selbst ausdrücklich auf die Realschule wollte und diesen Wunsch dann auch in die Tat umgesetzt hat, dagegen, dass sie sich schulisch aufgegeben haben könnte. Vielmehr hatte sich die Klägerin einiges für ihre schulische Zukunft vorgenommen. Mangels Anknüpfungstatsachen war deshalb auch diese Beweisfrage als unzulässig (Beweisermittlungsantrag) abzulehnen.
Ebenso ist allen Beteiligten bekannt, dass die Klägerin keinen wesentlichen Kontakt zu Mitschülern mit „Gymnasialniveau“ hatte und sich hauptsächlich mit Kindern abgab, die sich auf ihrem schulischen Leistungsstand befanden. In dieser Feststellung kann aber kein Anknüpfungspotenzial für eine gesellschaftliche Ausgrenzung erblickt werden, weshalb keine Notwendigkeit einer Beweisaufnahme besteht. Hinzu kommt, dass die aus dieser bekannten Tatsache zu ziehenden Folgerungen lediglich rechtliche sind, also einer Beweisaufnahme von vornherein nicht zugänglich sind.
Auch war der Antrag abzulehnen, Beweis darüber zu erheben, ob bei Kindern, die an Legasthenie leiden, typischerweise die beruflichen Einstiegschancen geringer seien als bei anderen Kindern, ob bei ihnen die erreichten schulischen Abschlüsse nicht den allgemeinen Lern- und Leistungsmöglichkeiten entsprächen und ob die sozialen Kontakte sich meist auf einen eingeschränkten Personenkreis bezögen, weil das Selbstbewusstsein des Legasthenikers nicht intakt sei. Auf die Beantwortung dieser drei aufgeworfenen Fragen kommt es für die Entscheidung des vorliegenden Rechtsstreites nicht an. Denn die Gewährung von Jugendhilfe ist nicht davon abhängig, wie „typischerweise“ bestimmte Lebensverhältnisse ausgestaltet sind, sondern davon, wie sich die Situation im konkreten Einzelfall darstellt. Die Klägerin kann deshalb auch nicht mit dem Argument Gehör finden, dass alle Legastheniker aufgrund ihrer Teilleistungsstörung im Laufe ihrer Schulzeit so versagen würden, sie keinen Schulabschluss schafften und deshalb ihr das Entstehen von Neurosen (sogenannte „sekundäre Neurotisierung“) drohe, die Krankheitswert hätten. Die abstrakte Möglichkeit, dass durch die Schwierigkeiten der Klägerin mit der Rechtschreibung ihre beruflichen Zukunftschancen sich verringerten, reicht nicht für die Annahme einer möglichen Beeinträchtigung der Teilhabe am Leben der Gemeinschaft aus. Dass die Klägerin ggf. nur eine eingeschränkte Auswahlmöglichkeit unter verschiedenen Berufsfeldern haben wird, ist bloße Spekulation und kann nicht dazu dienen, eine erhebliche Beeinträchtigung der aktiven und selbstbestimmten Teilnahme am gesellschaftlichen Leben zu begründen. Dies gilt umso mehr, als nach den Erkenntnissen aus der mündlichen Verhandlung die Klägerin wohl insgesamt den Anforderungen der Realschule noch gerecht werden kann und damit durchaus gute Chancen auf einen Schulabschluss hat, der ihr vielfältige berufliche Möglichkeiten eröffnen wird.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 S. 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus §§ 167 VwGO i.V.m. 708 Nr. 11, 711 ZPO.