Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 02.12.2021, Az.: 1 A 1252/20
Schätzung; Schätzungsbefugnis; Schmutzwassergebühr; Selbstablesung; Wasserzähler
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 02.12.2021
- Aktenzeichen
- 1 A 1252/20
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2021, 71099
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 162 AO 1977
- § 69 Abs 1 FGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Stellt sich heraus, dass bei der Selbstablesung eines Wasserzählers über Jahre irrig die letzte Stelle des Zählerstandes weggelassen wurde, darf die Differenz zwischen dem tatsächlichen Zählerstand und dem zuletzt falsch abgelesenen Zählerstand nicht komplett dem aktuellen Veranlagungszeitraum zugeschlagen werden. Vielmehr hat eine möglichst wirklichkeitsnahe Schätzung zu erfolgen, bei der die Wassermengen auf die Vorjahre zu verteilen sind; das Verwaltungsgericht ist zu einer solchen Schätzung nicht befugt.
Tenor:
Der Schmutzwassergebührenbescheid der Beklagten vom 15. Januar 2020 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand:
Der Kläger wendet sich gegen die Festsetzung von Schmutzwassergebühren.
Der Kläger ist Eigentümer des mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks F. in G., welches von seinem Vater und zwei weiteren Mietparteien bewohnt wird. Unter dem 15. Januar 2020 erhielt der Kläger eine Jahresverbrauchsabrechnung des Wasserverbandes Nordhannover, der als Anlage ein Bescheid über Schmutzwassergebühren im Namen und im Auftrag der Beklagten beigefügt war. Mit diesem wurde für den Zeitraum vom 1. Januar bis 31. Dezember 2019 bei einem Verbrauch von 1.811 m3 eine Schmutzwassergebühr i. H. v. 3.839,32 EUR festgesetzt. Die in Ansatz gebrachte Wassermenge beruhte auf einer Ablesung des Wasserzählers durch den Versorger Ende 2019, welcher einen aktuellen Stand von 1.980 m3 aufwies. Im Vorjahr wurde ein Zählerstand von lediglich 169 m3 selbst abgelesen und mitgeteilt. Nach Darstellung des Klägers wurde bei den von seinem betagten Vater vorgenommenen Selbstablesungen seit einem Zählerwechsel im Jahre 2010 jeweils die letzte Ziffer des Zählerstandes in der Annahme weggelassen, dass es sich dabei um eine nicht mitzuteilende Nachkommastelle handele. Tatsächlich zeigt der Zähler im numerischen Feld keine Nachkommastellen an.
Der Kläger hat gegen den Schmutzwassergebührenbescheid am 17. Februar 2020 Klage erhoben. Der Wasserverband Nordhannover habe eine Leitungsüberprüfung vorgenommen und keine Beschädigung an den Rohrleitungen feststellen können. Die hohe Differenz beruhe auf einer falschen Ablesung des Wasserzählers im Abrechnungszeitraum 2018. Die Annahme des Vaters des Klägers, dass es sich bei der letzten Ziffer des Wasserzählers um eine nicht mitzuteilende Nachkommazahl gehandelt habe, beruhe auf seiner Vertrautheit mit älteren Wasseruhren, bei denen dies üblich gewesen sei. Es sei mithin von einem ursprünglichen Zählerstand am 1. Januar 2019 zwischen 1.690 m3 und 1.699 m3 auszugehen, so dass sich ein Jahresverbrauch von schlechtestenfalls 290 m3 und bestenfalls 281 m3 errechne, der der mit einem statistisch wahrscheinlichen Verbrauch von 45 m3 je erwachsener Person im Einklang stehe. Es werde weiter aufzuklären sein, ob und wie der Zählerstand über Jahre hinweg falsch abgelesen worden sei. Der Bescheid für den Abrechnungszeitraum 2019 sei jedenfalls schlichtweg falsch.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid der Beklagten vom 15. Januar 2020 zur Kundennummer 1993016680 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der angegriffene Bescheid sei nicht rechtswidrig. Dem Bescheid sei der Zählerstand des Hauptwasserzählers zum Beginn und Ende des Abrechnungsjahres zugrunde gelegt worden. Der Kläger habe keinen belastbaren Beweis dafür erbringen können, dass die Abwassermenge von 1.811 m3 nicht in dem betreffenden Abrechnungszeitraum erzeugt worden sei. Selbst bei Falschablesung des Zählerstandes wäre das Abwasser über Jahre hinweg erzeugt und somit in den Vorjahren angefallene Gebühren hinterzogen worden. Diese würden im Rahmen der Festsetzungsverjährung nachgefordert. Die Festsetzungsfrist betrage bei leichtfertiger Steuerverkürzung fünf Jahre, was auch dann gelte, wenn die Verkürzung durch eine Person begangen worden sei, derer sich der Schuldner zur Erfüllung seiner Pflichten bedient habe. Die in der Vergangenheit nicht rechtzeitig erklärten und gezahlten Abgaben müssten zudem mit einen Zinssatz von 6 % pro Jahr verzinst werden.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die nach dem Übertragungsbeschluss der Kammer vom 19. Mai 2020 der Einzelrichter entscheidet (§ 6 Abs. 1 VwGO), hat Erfolg.
Die Anfechtungsklage ist insgesamt zulässig; das Verfahren hat sich nicht durch eine bereits erfolgte Teilaufhebung des angegriffenen Bescheides teilweise erledigt. Der Schriftsatz der Beklagten vom 10. Juni 2020 war entgegen der ursprünglichen Annahme des Einzelrichters nicht dahingehend zu verstehen, dass der streitgegenständliche Bescheid bereits angepasst worden ist und von einer maßgeblichen Wassermenge für 2019 in Höhe von 290 m3 anstelle von 1.811 m3 ausgegangen wurde, was bei einer Gebühr von 2,12 EUR/m3 zu einer verbleibenden Gebühr von 614,80 EUR geführt hätte. Die Beklagte wollte eine Anpassung des Bescheides nicht isoliert vornehmen, sondern nur im Rahmen eines Vergleichs mit der von ihr vorgeschlagenen Kostenregelung. Außergerichtlich ist eine Einigung zur Kostentragung nicht zustande gekommen. Dementsprechend ist die Beklagte der Anregung des Einzelrichters vom 7. Juli 2020, eine Anpassung (zusätzlich zur vom Einzelrichter angenommenen Prozesserklärung) noch in "Bescheidform" vorzunehmen, letztlich nicht gefolgt. In Anbetracht dessen kann nicht davon ausgegangen werden, dass der Bescheid durch eine Prozesserklärung bereits zum Teil aufgehoben worden und eine teilweise Erledigung eingetreten wäre.
Die Klage ist begründet. Die Festsetzung der Schmutzwassergebühr auf der Grundlage eines Wasserverbrauchswertes von 1.811 m3 durch den Bescheid vom 15. Januar 2020 ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, so dass der Bescheid aufzuheben ist (vgl. § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Rechtliche Grundlage für Festsetzung von Schmutzwassergebühren ist die Satzung der Beklagten über die Erhebung von Beiträgen, Gebühren und Kostenerstattungen für die zentrale Schmutzwasserbeseitigung (Schmutzwasserabgabensatzung – SAS). Nach § 12 Abs. 1 SAS wird die Schmutzwassergebühr nach der Schmutzwassermenge bemessen, die in die öffentliche zentrale Schmutzwasseranlage gelangt; dabei gilt nach § 12 Abs. 2 Buchst. a SAS als in die Schmutzwasseranlage gelangt insbesondere die dem Grundstück aus öffentlichen oder privaten Wasserversorgungsanlagen zugeführte und durch Wassermesser ermittelte Wassermenge.
Die für das Jahr 2019 angesetzte Wassermenge stellt sich vor dem Hintergrund fehlerhafter Ablesungen und damit eines unzutreffend angenommenen Zählerstandes für den Beginn des Erhebungszeitraums als ersichtlich überhöht dar. Die Darstellung des Klägers, dass die für 2019 in Ansatz gebrachte Schmutzwassermenge auf vorangegangenen fehlerhaften Selbstablesungen durch seinen betagten Vater beruht, erscheint plausibel. Das Gericht geht nicht davon aus, dass der Kläger eine Falschablesung nur vorschiebt, um einen tatsächlich doch insgesamt in 2019 angefallenen Wasserverbrauch in Höhe von 1.811 m3 zu verschleiern. Dies ist zwar theoretisch denkbar, denn eine entsprechende Durchflussmenge kann auch ohne Störungen im Leitungssystem etwa infolge defekter Wasserhähne oder Toilettenspülungen erreicht werden. Von einer solchen Konstellation geht der Einzelrichter aber nicht aus, weil die Erklärung des Klägers für den Fehler seines Vaters bei der Selbstablesung des Wasserzählers gut nachvollziehbar und auch ansonsten glaubhaft ist. Es gibt in der Tat verschiedene Anzeigen auf Wasserzählern. Die dem Einzelrichter bekannten Wasserzähler messen zwar alle auf vier Stellen hinter dem Komma genau, die Nachkommastellen werden aber nur bei wenigen Wasseruhren komplett im eigentlichen numerischen Ablesefeld – dann als rot hinterlegte Ziffern – abgebildet. Zum Teil fehlen dort Nachkommastellen ganz – wie bei dem Wasserzähler im klägerischen Wohnhaus – und stattdessen gibt es vier kleine rote Zeiger unterhalb des Ablesefeldes für den Verbrauch x 0,1 bis x 0,0001. Andere Wasserzähler kombinieren im numerischen Feld angezeigte Nachkommastellen mit den kleinen roten Zeigern dergestalt, dass insgesamt eine auf vier Nachkommastellen genaue Ermittlung des Zählerstandes möglich ist (beispielsweise zwei numerisch angezeigte Nachkommastellen und zwei Zeiger). Vor diesem Hintergrund kann nachvollzogen werden, dass der Vater des Klägers bei der Ablesung des im numerischen Feld keine Nachkommastellen aufweisenden Zählers die letzte Ziffer als nicht maßgeblich betrachtet hat. Plausibel ist diese insbesondere in Anbetracht des vom Kläger im Rahmen der mündlichen Verhandlung geschilderten Umstandes, dass der bis 2010 verbaute ältere Wasserzähler im numerischen Feld eine Nachkommastelle aufwies, der dann neu verbaute Zähler allerdings nicht mehr.
Zwar trifft der Einwand der Beklagten zu, dass – bei ja unstreitig einwandfrei funktionierendem Wasserzähler – die abgelesene Schmutzwassermenge unter Zugrundelegung dieses Geschehensablaufs zu einem Großteil letztlich bereits in den Vorjahren angefallen ist. Dies rechtfertigt es jedoch nicht, die gesamte Wassermenge von 1.811 m3 ausschließlich dem Erhebungszeitraum 2019 zuzuschlagen. Die Beklagte hat schon gar nicht versucht, den tatsächlichen Verbrauch in diesem (und den vorangegangenen) Veranlagungszeitraum abzubilden, sondern hat vereinfachend auch solche Verbrauchsmengen zugeschlagen, die in Wirklichkeit schon in vorherigen Veranlagungszeiträumen angefallen waren. Die richtige Vorgehensweise wäre indessen eine Schätzung gewesen. Eine Schätzung des Wassermengenverbrauchs war ungeachtet des Umstandes, dass die Schmutzwasserabgabensatzung keine einschlägige Rechtsgrundlage für die vorliegende Situation fehlerhafter Selbstablesungen enthält, möglich und geboten. Satzungsrechtliche Schätzungstatbestände für "typische" Situationen – wie hier etwa in § 12 Abs. 3 SAS für den Fall, dass der Wassermesser nicht richtig oder überhaupt nicht anzeigt – sind nicht abschließend und sperren die gesetzliche Regelung in § 11 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b und Abs. 6 NKAG i. V. m. § 162 Abs. 1 Satz 1 AO nicht (vgl. Nds. OVG, Beschl. v. 19.12.2018 - 9 LA 48/18 -, juris Rn. 20 f.). Danach hat die Körperschaft, der die Abgabe zusteht, die Grundlagen zu schätzen, soweit sie diese nicht ermitteln oder berechnen kann. Eine solche Situation liegt hier vor, da zwar der Zählerendstand bei Ablesung des Zählers von 1.811 m3 zuverlässig ermittelt werden konnte, nicht aber die tatsächlichen Zählerstände der Vorjahre. Hier liegt es letztlich nicht anders als in einer Konstellation, in der die Verbräuche der Vorjahre jeweils geschätzt wurden und dann eine Ablesung erfolgt (vgl. dazu ausführlich Nds. OVG, Beschl. v. 19.12.2018 - 9 LA 48/18 -, juris). Sowohl frühere Schätzungen als frühere falsche Selbstablesungen führen zu der gleichen Problematik, nämlich wie ein dann abgelesener Verbrauch auf vorangegangene Veranlagungszeiträume aufzuteilen ist. Dies hat durch Schätzung zu erfolgen; für die zutreffend geschätzten Wassermengen kann innerhalb der Festsetzungsverjährungsfrist eine Nacherhebung erfolgen. Für eine wirklichkeitsnahe Umlage der Wassermenge auf die Vorjahre wäre es naheliegend gewesen, sich an den jeweils nach Selbstablesung übermittelten Zählerständen zu orientieren, welche ja "nur" hinsichtlich der letzten Ziffer unzureichend waren, wobei diese zwangsläufig jeweils zwischen 0 und 9 liegen mussten. So ging die Beklagte allerdings nicht vor. Es ist gerade nicht ausreichend, den abgelesenen Gesamtverbrauch schlicht komplett dem gerade abzurechnenden letzten Veranlagungszeitraum zuzuschlagen, wenn – wie vorliegend – klar ist, dass die Zählerdifferenz nicht ausschließlich in diesem Veranlagungszeitraum zustande kam.
Das Gericht ist nicht befugt, eine Schätzung selbst vorzunehmen und eine erfolgte Gebührenfestsetzung infolgedessen teilweise aufrecht zu erhalten. Dies gilt auch dann, wenn – wie hier – die Schätzung nicht mit größeren Schwierigkeiten verbunden ist, weil der richtige Zählerstand der zuletzt erfolgten Selbstablesung zwischen 1.690 m3 und 1.699 m3 gelegen haben muss. Nach der Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts steht den Verwaltungsgerichten – anders als den Finanzgerichten (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO) – eine eigenständige Schätzungsbefugnis nicht zu; ein Verwaltungsgericht kann lediglich die gewählte Schätzungsmethode und das Ergebnis der Schätzung überprüfen und dieses bei Fehlern in der Höhe korrigieren. Eine Korrektur nur der Höhe nach ist jedoch nicht möglich, wenn bereits die gewählte Schätzmethode ungeeignet ist (vgl. Beschl. v. 19.12.2018 - 9 LA 48/18 -, juris Rn. 31). Nicht anders liegt es, wenn eine gebotene Schätzung bislang noch gar nicht vorgenommen worden ist. So liegt es hier; der angegriffene Bescheid unterliegt deshalb vollumfänglich der Aufhebung und kann auch nicht etwa für das Veranlagungsjahr 2019 anteilig aufrechterhalten werden. Ob der Kläger letztlich im Ergebnis wirtschaftlich besser steht, wenn die Beklagte in der von ihr bereits aufgezeigten Weise verfährt und eine Nacherhebung nebst Verzinsung vornimmt, ist dabei nicht von Relevanz. Dieser Aspekt ist im Verhandlungstermin im Rahmen der Einigungsbemühungen erörtert worden; eine Einigung ist aber letztlich nicht zustande gekommen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i. V. m. § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.