Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 07.09.2022, Az.: 3 A 2353/17

Alkoholembryopathie; Einstufung; Fas; FAS; FASD; Sonderpädagogische Vollzeitpflege; Sozialpädagogische Vollzeitpflege; Vollzeitpflege

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
07.09.2022
Aktenzeichen
3 A 2353/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 59655
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Die beispielhafte Einordnung des Schädigungsbildes einer "Alkoholembryopathie" - synonym: FAS(D) - als (bloßer) "Risikofaktor in der Vorgeschichte des Kindes" in die Kategorie der sogenannten "sozialpädagogischen Vollzeitpflege" in den vom Nds. Landesjugendamt veröffentlichten, zuletzt in 2016 aktualisierten "Nds. Empfehlungen zur Pflegekinderhilfe" unterliegt erheblichen systematisch-methodischen aber auch fachlichen Bedenken.
2. Gibt sich ein örtlicher Jugendhilfeträger eigene Richtlinen u.a. zur Kategorisierung von Vollzeitpflegeverhältnissen nach den Bedarfslagen der Kinder, ist er bei der Einstufung eines bestimmten Vollzeitpflegeverhältnisses daran gebunden und sein Beurteilungsspielraum insoweit eingeschränkt.
3. Mit der Einstufung von Fällen, die den §§ 53, 54 SGB XII a.F. unterlagen, sowie von Kindern mit "wesentlicher seelischer Behinderung" als typische Fälle einer Bedarfslage für eine sog. sonderpädagogische Vollzeitpflege knüpfen die "Nds. Empfehlungen zur Pflegekinderhilfe" an die eingliederungshilferechtliche Begrifflichkeit der "Wesentlichkeit" an. Ob in dem Sinne eine im Einzelfall vorliegende seelische Behinderung "wesentlich" ist, unterliegt uneingeschränkt der verwaltungsgerichtlichen Kontrolle und Beurteilung.
4. Eine grundsätzliche Zugrundelegung der Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung bei Verpflichtungsklagen auf Gewährung von Jugendhilfeleistungen erscheint unter dem Blickwinkel des Art. 19 Abs. 4 GG als nicht gerechtfertigt, da sich dieses aus dem materiellen Jugendhilferecht nicht ableiten lässt.

Tenor:

Der Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 02.02.2017 verpflichtet, den Klägern für ihr Pflegekind D. rückwirkend für den Zeitraum ab dem Zeitpunkt des Eingangs des dahingehenden Antrags der Kläger vom 21.09.2016 beim Beklagten bis einschließlich 03.02.2022 Hilfe zur Erziehung gemäß den §§ 27, 33 SGB VIII in Form der sonderpädagogischen Vollzeitpflege zu gewähren.

Der Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Dem Beklagten wird nachgelassen, eine Kostenvollstreckung seitens der Kläger mittels Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leisten.

Tatbestand:

Die Kläger begehren die rückwirkende Heraufstufung der von der Klägerin zu 2) geleisteten Vollzeitpflege ihres (früheren) Mündels D. von der sogenannten sozialpädagogischen in die sogenannte sonderpädagogische Vollzeitpflege.

Der im Februar 2004 geborene D. ist leibliches Kind von jedenfalls seinerzeit drogenabhängigen Eltern. Die Kindesmutter hatte unstreitig auch während der Schwangerschaft verschiedene Suchtstoffe konsumiert. D. erlitt infolgedessen bereits vorgeburtlich eine hirnorganische Schädigung. Durchgängig diagnostiziert seit 2013 ist von der psychiatrischen Institutsambulanz der Tagesklinik E. insoweit (u.a.) eine fetale Alkohol-Spektrum-Störung (Q 86.0; FASD), wobei insbesondere der Ausprägungsgrad und die daraus resultierenden Auswirkungen im Einzelnen zwischen den Beteiligten streitig sind.

Weiterhin wurden für D. im Juli 2013 in der Tagesklinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie in F. u.a. die Diagnose „Sonstige emotionale Störung des Kindesalters (ICD-10 F93.8)“ gestellt und kognitive Fähigkeiten im unteren durchschnittlichen Bereich (Gesamt-IQ: 87) ermittelt. Die Diagnose „Sonstige emotionale Störung des Kindesalters (ICD-10 F93.8)“ stellte auch die Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeutin G. in einer vom Beklagten eingeholten fachlichen Stellungnahme gemäß § 35a SGB VIII vom 12.01.2017. Diese diagnostizierte zusätzlich eine isolierte Rechtschreibstörung (ICD-10 F81.1) und ermittelte für den Gesamt-IQ einen Wert von 93.

Seit August 2013 erhält D. fortlaufend regelmäßig eine spezifische Krankengymnastik zur Verbesserung der Funktionalität seines zentralen Nervensystems (KG-ZNS).

Seit September 2013 bezieht D. Leistungen aus der Pflegeversicherung. Nachdem seinerzeit seitens der Pflegeversicherung eine Eingruppierung in Pflegestufe 1 erfolgt war, ist D. seit der Umstellung der Leistungseinstufungen der Pflegeversicherung im Jahr 2017 in den Pflegegrad 3 eingruppiert.

Mit Bescheid aus dem Dezember 2013 erkannte das Nds. Landesamt für Soziales, Jugend und Familie D. einen GdB von 70 mit den Merkmalen G (Beeinträchtigung der Bewegungsfähigkeit im Straßenverkehr auf Grund einer Störung der Orientierungsfähigkeit), B (Berechtigung zur kostenlosen Mitnahme einer Begleitung) und H (Hilflosigkeit) zu; im Februar 2015 wurde diese Anerkennung ergänzend rückwirkend zum 01.10.2005 ausgesprochen.

D. wurde zunächst in zwei Waldorfschulen beschult, wo er nicht gut zurechtkam. Ab Januar 2014 besuchte er eine Förderschule für Lernen und Sprache, die er im Sommer 2021 mit dem Erwerb des Hauptschulabschlusses beendete. Seitdem absolviert er ein stundenreduziertes FSJ. Auf der Basis einer Begutachtung durch den Medizinischen Dienst der Agentur für Arbeit liegt aktuell eine Kostenzusage für eine Aufnahme H. in das Berufsbildungswerk I. ab April 2023 vor, wo zunächst eine dreimonatige Eignungsabklärung bezüglich der weiteren beruflichen Entwicklungsmöglichkeiten vorgesehen ist.

Seit Eintritt der Volljährigkeit steht D. für die Aufgabenbereiche Sorge für die Gesundheit, Vermögenssorge (mit Einwilligungsvorbehalt), Wohnungsangelegenheiten, Geltendmachung von Ansprüchen auf HLU, Rechts-/Antrags- und Behördenangelegenheiten) unter Betreuung der Kläger.

Die Kläger haben D. bereits kurz nach seiner Geburt auf Vermittlung des Beklagten als Vollzeitpflegekind gemäß §§ 27, 33 SGB VIII zunächst im Rahmen einer „allgemeinen“ Vollzeitpflege in ihren Haushalt aufgenommen. Pflegeperson im Sinne des SGB VIII ist die Klägerin zu 2). Die Kläger wurden im Januar 2011 als Vormünder für D. bestellt. Im Juni 2011 stufte der seinerzeit (zwischenzeitlich) zuständige örtliche Jugendhilfeträger (LK J.) das Vollzeitpflegeverhältnis auf Antrag der Kläger als sog. „sozialpädagogische Vollzeitpflege (Pflegeform 2)“ ein. Nach dem (Rück-)Übergang der örtlichen Zuständigkeit nach dem SGB VIII auf den Beklagten bewilligte dieser den Klägern für D. mit Bescheid vom 19.06.2013 und nachfolgend fortlaufend bis zum Eintritt der Volljährigkeit Hilfe zur Erziehung in Form der Vollzeitpflege unter Übernahme der Einstufung als sozialpädagogische Vollzeitpflege. Seitdem zahlte der Beklagte an die Klägerin zu 2) als Pflegeperson ein monatliches Pflegegeld unter Berücksichtigung der Empfehlungen zu dessen Berechnung in einem regelmäßig aktualisierten Runderlass des Nds. Ministeriums für Soziales, Gesundheit und Gleichstellung sowie in Anwendung seiner eigenen, von seinem Jugendhilfeausschuss beschlossenen „Richtlinien … für die Gewährung von Leistungen zum Unterhalt für außerhalb des Elternhauses untergebrachte Minderjährige und junge Volljährige“ (im Folgenden: Richtlinien) nebst regelmäßig aktualisierten Anlagen. Namentlich die Anlage 1 der Richtlinien, in der für die in den Richtlinien selbst festgelegten verschiedenen Formen der Vollzeitpflege differenzierende Beschreibungen der Bedarfslagen der zu betreuenden jungen Menschen und der fachlichen Anforderungen an die jeweiligen Pflegepersonen formuliert sind, basiert weitestgehend wort- bzw. jedenfalls inhaltlich deckungsgleich auf den sog. „Nds. Empfehlungen zur Pflegekinderhilfe“ des Landesjugendamtes (im Folgenden: Nds. Empfehlungen), die zuletzt im Juni 2016 aktualisiert worden sind (abrufbar unter: https://soziales.niedersachsen.de/live/search.php).

Daneben leistete der Beklagte zeitweilig ergänzende ambulante Jugendhilfeleistungen für D. als Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII (Lerntherapie, Schulbegleitung/-assistenz, LRS-Therapie) und gewährte Kostenzuschüsse für bestimmte Aktivitäten H. (Schlagzeugunterricht) bzw. im Rahmen des Pflegeverhältnisses erforderliche Fahrten. Außerdem übernahm der Beklagte, nachdem er das zunächst abgelehnt hatte, ab Januar 2017 Kosten für eine von der Klägerin zu 2) in Anspruch genommene externe Supervision (1 h/Monat).

Seit März 2021 erhielt D. von dem Beklagten zusätzlich Leistungen gemäß § 35a SGB VIII in Form eines trägerübergreifenden persönlichen Budgets in Höhe von 170,- EUR monatlich, welches nach den zu Grunde liegenden Zielvereinbarungen mit einem Stundensatz von 15,- EUR der Beschäftigung einer persönlichen Assistenz für die Alltagsbewältigung und Freizeitgestaltung im Umfang von 10 Stunden/Monat dienen sollte. Diese Leistung wurde nach dem Eintritt der Volljährigkeit fortgesetzt.

Die Klägerin zu 2) absolvierte von 2011 – 2013 eine im Einzelnen nicht staatlich geregelte Schulung zu einer (sog.) systemischen Familienberaterin. Im Jahr 2013 nahm sie an einer ergänzenden Schulung zum Thema „Umgang mit frühen Störungen in der systemischen Familienberatung“, in den Jahren 2014 – 2015 an einer weiteren ergänzenden Schulung zum Thema „Beratung und Begleitung von Menschen mit FASD“ und im Jahr 2016 an einer ergänzenden Schulung zum Thema „systemische Zugänge bei schwierigem Verhalten von Kindern und Jugendlichen“ teil. Im Jahr 2014 nahm die Klägerin zu 2) zudem ein Studium der Sozialen Arbeit auf, welches sie im Januar 2021 erfolgreich abschloss.

Mit anwaltlichem Schreiben vom 21.09.2016 beantragten die Kläger beim Beklagten schriftlich ausdrücklich die Heraufstufung der Vollzeitpflege in die Pflegeform 3 (sonderpädagogische Vollzeitpflege). Zur Begründung verwiesen sie einerseits auf die weitere pädagogische Qualifizierung der Klägerin zu 2) sowie andererseits auf den besonders erhöhten Betreuungsaufwand, der aus dem FASD und der daraus resultierenden Behinderung und den Verhaltensauffälligkeiten H. resultiere. U.a. in der Fortschreibung des Hilfeplans vom 28.11.2016 (GA, Bl. 66) werden insoweit die Angaben der Kläger zu näheren Einzelheiten des Alltags in der Familie wiedergegeben.

Diesen Antrag lehnte der Beklagte mit formlosem Schreiben vom 02.02.2017 ab. Zur Begründung ist darin ausgeführt, dass die Kläger sehr gut beschreiben könnten, dass es D. schwerfalle, Routinen in seinen Handlungsabläufen auszubilden, sich selbst und seinem Tag Struktur zu geben oder Handlungen gezielt zu planen. Oft müssten die Kläger insoweit korrigierend eingreifen, was D. als Frustration für sich erlebe und worauf er mit Impulsdurchbrüchen reagiere. Diese Einschränkungen in der Alltagskompetenz ließen sich vom häuslichen Umfeld auf alle anderen Lebensbereiche übertragen. Nach der von ihm – dem Beklagten – formulierten Richtlinie zur Einstufung der Pflegeverhältnisse seien unter Berücksichtigung der Bedarfslage H. und der ihm bereits ergänzend gewährten ambulanten Hilfen einerseits sowie in Abgrenzung zu anderen Pflegekindern in Vollzeitpflege mit einer noch intensiveren Bedarfslage andererseits die Bedingungen für eine Einstufung als sonderpädagogische Pflege nicht gegeben. Jene sei solchen Pflegeverhältnissen vorbehalten, bei denen weitere Belastungsfaktoren wie zusätzliche körperliche Beeinträchtigungen oder chronische Erkrankungen wie etwa Epilepsie oder Diabetes vorlägen, sich die Kinder im Grenzbereich zur geistigen Behinderung befänden oder pädagogisch bzw. therapeutisch kaum erreichbar seien, grenzüberschreitendes Verhalten bis hin zur Straffälligkeit zeigten oder auch mit erwachsener Anleitung nicht gruppenfähig seien. Das treffe auf D. nicht zu. Aus den Hilfeplangesprächen sei deutlich geworden, dass die Betreuung und Begleitung von D. gut gelinge, wenn er einen direkten erwachsenen Ansprechpartner habe, der sich auf ihn einlasse und ihm zeitnah Rückmeldungen und Strukturen biete. Darüber hinaus könnten individuelle Bedarfe in der Vollzeitpflege beantragt werden, wozu beispielsweise eine geeignete stundenweise Betreuungskraft zähle. Im Verlauf der Vollzeitpflege, d.h. mit zunehmendem Alter H. bleibe wichtig zu beobachten, wann eine Überleitung in den Bereich des SGB XII und damit eine langfristige Unterstützung H. sinnvoll sei. Wegen der weiteren Einzelheiten der Begründung wird auf den Bescheid verwiesen.

Die Kläger haben dagegen am 17.03.2017 Klage erhoben, zu deren Begründung sie im Wesentlichen vortragen:

Die Einstufung des Pflegeverhältnisses in die Kategorie der sozialpädagogischen Vollzeitpflege sei fachlich nicht vertretbar und von einem etwaigen Beurteilungsspielraum des Beklagten deshalb nicht gedeckt. Ihr Pflegekind gehöre wegen seiner wesentlichen seelischen Behinderung in die Zielgruppe der sonderpädagogischen Vollzeitpflege. Er sei entgegen der Auffassung des Beklagten vom „Vollbild“ eines FASD betroffen. Es liege infolge des FASD eine dauerhafte hirnorganische Schädigung vor, bei der sämtliche Hirnregionen beeinträchtigt sein könnten. Besonders betroffen sei das Frontalhirn, welches für die Exekutivfunktionen (Handlung – Planung), die Impulssteuerung sowie das Lernen aus Erfahrung verantwortlich sei. Insbesondere die Beeinträchtigung der Exekutivfunktionen, die auch bei ihrem Pflegekind vorliege, führe zu einem erheblichen Bedarf an Beaufsichtigung und Anleitung. FASD-geschädigte Menschen seien daher in der Regel lebenslang für eine Reihe von häufig und wiederkehrenden Verrichtungen zur Sicherung der persönlichen Existenz im Ablauf jeden Tages auf fremde Hilfe angewiesen und würden deshalb bundesweit von den Jugendhilfeträgern jedenfalls häufig der sonderpädagogischen Pflegeform zugerechnet. Der insoweit typische Hilfebedarf treffe auch auf D. zu, wie sich den insoweit gleichbleibenden Bedarfslagenbeschreibungen in den jeweiligen Hilfeplanprotokollen entnehmen lasse. D. benötige im Alltag viele Rituale, um nicht in Überforderung zu geraten, brauche bei der Körperhygiene stetige Anleitung und Kontrolle sowie beim Ankleiden Unterstützung, sei leicht ablenkbar und könne Aufträge nicht gut selbständig ausführen. Erschwerend kämen bei D. erhebliche Verhaltensauffälligkeiten und Einschränkungen im Sozialverhalten hinzu, denen nur mit einer besonderen pädagogischen Kompetenz angemessen begegnet werden könne. Die Kläger verweisen insoweit und zu den motorischen Einschränkungen H. auf die regelmäßigen Ambulanzbriefe der Tagesklinik E. (u.a. vom 12.02.2018; GA, Bl. 194 R f.) und der (seinerzeit) behandelnden Physiotherapeutin K. vom 02.02.2018 (GA, Bl. 200 f.). Die Klägerin zu 2) habe auf Grund ihrer vielfältigen Weiterbildungen und der bereits im Verlauf des Studiums erworbenen Kompetenzen mindestens seit der Antragstellung die in der Pflegeform 3 erforderliche Fachlichkeit aufgewiesen. Gerade diese besondere fachliche Kompetenz sei auch erforderlich (gewesen), um D. angemessen zu betreuen, weshalb sich auch innerfamiliär fast ausschließlich sie um ihn gekümmert habe und weiterhin kümmere. Allein die bereits im Jahr 2011 bei der Klägerin zu 2) vorhandenen pädagogischen Kenntnisse, die die Einstufung als sozialpädagogische Pflegeform ermöglicht hätten, hätten im weiteren Verlauf nicht mehr ausgereicht, um das Pflegeverhältnis aufrecht zu erhalten. Dass der Beklagte die Auffassung vertrete, D. sei nicht vom „Vollbild“ eines FASD betroffen und es träten nur gelegentliche „Belastungsspitzen“ auf, zeige, dass er sich mit diesem Behinderungsbild und den davon verursachten Beeinträchtigungen bei D. bisher nicht ausreichend auseinandergesetzt habe bzw. dieses fachlich nicht sachgerecht einschätzen könne. Das ergebe sich auch aus dem gesamten Hilfeverlauf, innerhalb dessen die Bedarfe H. vom Beklagten immer wieder „kleingeredet“ worden seien und zusätzliche Hilfen nach § 35a SGB VIII sowie z. B. eine regelmäßige Supervision für die Klägerin zu 2) in mühsamen und kräftezehrenden Diskussionen hätten durchgesetzt werden müssen. Soweit der Beklagte vertrete, dass die behinderungsbedingten spezifischen Bedarfe H. im Übrigen auch durch Leistungen seitens der Pflegeversicherung gedeckt seien, verkenne er die Rechtslage. In der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts sei geklärt, dass die seitens der Pflegeversicherung gewährten Leistungen mangels einer entsprechenden Rechtsgrundlage nicht auf die Leistungen im Rahmen der Vollzeitpflege anzurechnen seien.

Die Kläger beantragen,

den Beklagten unter Aufhebung des Bescheides vom 02.02.2017 zu verpflichten, ihnen nach Maßgabe seiner Richtlinie für die Gewährung von Leistungen zum Unterhalt für außerhalb des Elternhauses untergebrachte Minderjährige und junge Volljährige nebst Anlagen rückwirkend ab dem Zeitpunkt des Eingangs des dahingehenden Antrages beim Beklagten bis zum Eintritt der Volljährigkeit ihres Pflegekindes eine erhöhte Betreuungspauschale im Rahmen der gewährten Hilfe zur Erziehung unter Einstufung des Pflegeverhältnisses als sonderpädagogische Vollzeitpflege (Pflegeform 3) zu gewähren.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er verteidigt den angegriffenen Bescheid und trägt insoweit im Wesentlichen vor:

Es sei durchaus zweifelhaft, ob die für D. vorgenommene FASD-Diagnose zutreffend, bzw. jedenfalls, dass er von dem „Vollbild“ einer entsprechenden Behinderung betroffen sei. Unabhängig davon halte sich die Einstufung des Pflegeverhältnisses in die Pflegeform 2 im Rahmen seines fachlichen Beurteilungsspielraums. In der Anlage 1 zu seinen von den Klägern in Bezug genommenen Richtlinien habe er eine ausführliche, fachlich begründete allgemeine Differenzierung der verschiedenen Pflegeformen vorgenommen und dabei das Schädigungsbild FASD fachlich vertretbar grundsätzlich der Pflegeform 2 zugeordnet. Seine Richtlinien und die Anlage beruhten insoweit auf entsprechenden Empfehlungen des Nds. Landesjugendamtes („Nds. Empfehlungen“), in denen als Beispiel für die Zuordnung zur Pflegeform 2 u.a. „Risikofaktoren in der Vorgeschichte des Kindes wie …Alkoholembryopathie“ benannt seien. Auch andere überörtliche Jugendhilfeträger hätten insoweit vergleichbare Empfehlungen veröffentlicht. Gleichwohl nehme er auch bei Pflegekindern mit dem Störungsbild FASD in jedem Einzelfall eine individuelle Einstufung anhand des konkret feststellbaren Bedarfs vor, weshalb im Einzelfall nach dem Ausprägungsgrad eine Einstufung in die Pflegeform 3 auch nicht ausgeschlossen sei. Für das streitbefangene Pflegeverhältnis hätten seine Fachkräfte, ebenso wie bereits die Fachkräfte des zuvor zuständigen Jugendhilfeträgers (LK J.), bei der Beurteilung der individuellen Bedarfslage eine Einstufung H. in die Pflegeform 3 nicht für geboten erachtet, da sich seine Bedarfslage gegenüber anderen Kindern, die etwa zusätzlich zu einer seelischen Behinderung auch körperlich bzw. geistig behindert oder chronisch bzw. lebensbedrohlich erkrankt seien, als deutlich weniger intensiv darstelle. Er habe zu keinem Zeitpunkt in Abrede gestellt, dass D. einer (zeit-)intensiven, kleinteiligen Betreuung durch eine fachlich besonders geschulte Pflegeperson bedürfe. Dieser Bedarf werde vielmehr in allen Hilfeplanprotokollen beschrieben. Das allein rechtfertige die Einstufung in die Pflegeform 3 aber noch nicht, sondern werde mit der Einstufung in die Pflegeform 2 angemessen berücksichtigt. Dass D. von der Pflegeversicherung der Pflegegrad 3 zuerkannt worden sei, führe zudem nicht zu der Bewertung, dass er im Sinne der Richtlinien als „wesentlich behindert“ anzusehen sei. Vielmehr treffe das nur auf Personen zu, die anspruchsberechtigt nach den §§ 53, 54 SGB XII a. F. bzw. nunmehr § 99 SGB IX in Verbindung mit der EingliederungshilfeVO seien, wozu D. nicht gehöre. Bei ihm liege eine wesentliche Einschränkung in der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft nicht vor. Vielmehr habe er gezeigt, dass er sowohl im schulischen als auch im außerschulischen Bereich mit entsprechender erwachsener Begleitung in der Lage sei, sich in Gruppen zu inte-grieren und an entsprechenden Aktivitäten teilzunehmen. Auch dass D. von der dafür zuständigen Behörde ein GdB von 70 zuerkannt worden sei, zwinge nicht zu einer anderen Beurteilung, denn die Bewertung eines ggf. vorliegenden GdB vollziehe sich nach anderen Kriterien als die fachliche Beurteilung des jugendhilferechtlichen Hilfebedarfs. Zudem sei diese Einstufung offenbar längere Zeit nicht mehr überprüft worden. Für eine Einstufung als sonderpädagogische Vollzeitpflege habe der Klägerin zu 2) schließlich jedenfalls bis zum erfolgreichen Abschluss ihres Studiums die nach seinen Richtlinien dafür erforderliche besondere Fachlichkeit gefehlt.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vortrags der Beteiligten wird ergänzend auf die gewechselten Schriftsätze nebst Anlagen, das Protokoll der mündlichen Verhandlung sowie den sonstigen Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist als Verpflichtungsklage zulässig und im Sinne der Tenorierung, welche die Formulierung des Klageantrags im Wege der Auslegung nach § 88 VwGO präzisiert, begründet.

I.

Anspruchsgrundlage für den mit dem Klageantrag verfolgten Verpflichtungsanspruch sind die §§ 27, 33 SGB VIII in Verbindung mit § 39 SGB VIII.

Dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Vollzeitpflege gemäß §§ 27, 33 SGB VIII zu Gunsten des Pflegesohnes der Kläger im streitbefangenen Zeitraum dem Grunde nach ununterbrochen vorlagen, ist zwischen den Beteiligten unstreitig und auch dadurch manifestiert, dass der Beklagte für diesen Zeitraum den Klägern als insoweit anspruchsberechtigten Vormündern H. eine entsprechende Hilfe jeweils zeitabschnittsweise auf Grund entsprechender Fortschreibungen der Hilfeplanung auch bewilligt hatte.

Soweit diese Bewilligungen in ihrem Umfang hinter der mit dem schriftlichen Antrag vom 21.09.2016 beantragten Einstufung des Pflegeverhältnisses in die sog. sonderpädagogische Vollzeitpflege zurückgeblieben waren, liegt in Bezug auf den Streitgegenstand keine „Selbstbeschaffung“ im Sinne des § 36a Abs. 3 SGB VIII vor. Denn der inhaltliche Umfang und die Intensität der auf der Basis der erfolgten Bewilligung der Vollzeitpflege von der Klägerin zu 2) als Pflegeperson tatsächlich erbrachten Leistung im Sinne des § 33 SGB VIII, die in der praktischen Durchführung der Vollzeitpflege bestand, werden durch die Frage der Zuordnung des Pflegeverhältnisses zu einer bestimmten Pflegeform nicht berührt. Hätte der Beklagte vielmehr dem Antrag vom 21.09.2016 von sich aus stattgegeben, wären im vorliegenden Fall in der entsprechenden Hilfeplanung an die praktische Durchführung der Vollzeitpflege in Bezug auf den bei dem Pflegekind zu deckenden Jugendhilfebedarf keine weitergehenden inhaltlichen Anforderungen zu stellen gewesen, als sie in den Hilfeplanungen formuliert wurden, die Grundlage der vom Beklagten vorgenommenen Einstufung des Pflegeverhältnisses in die Kategorie der sozialpädagogischen Vollzeitpflege waren. Anders als in den Fällen einer „Selbstbeschaffung“ im Sinne von § 36a Abs. 3 SGB VIII führte die Ablehnung des Antrags auf Einstufung als sonderpädagogische Vollzeitpflege mithin nicht dazu, dass in Bezug auf den primären jugendhilferechtlichen Bedarf aus den §§ 27, 33 SGB VIII eine echte Deckungslücke auftrat. Sie betraf vielmehr ausschließlich den damit verbundenen Annexanspruch auf Unterhaltssicherung des betreuten Kindes in Form pauschalierter laufender Leistungen gemäß § 39 Abs. 2 Satz 4 i. V. m. Abs. 4 – 6 SGB VIII. Insofern ist aber einerseits keine „Selbstbeschaffung“ im Sinne des § 36a SGB VIII denkbar, da eine Zahlung Dritter an die Pflegeperson nicht erfolgt, andererseits ist eine rückwirkende Abänderung der getroffenen Entscheidung des Jugendamtes zur Einstufung des Pflegeverhältnisses und der daraus abzuleitenden Höhe des Pauschalbetrages ohne weiteres möglich. Denn in der Umsetzung einer dahingehenden Entscheidung ist ggf. rückwirkend lediglich die Differenz zwischen dem zunächst gezahlten und dem nach einer – u. U. erst gerichtlich erstrittenen – Höherstufung zu zahlenden Pauschalbetrag vom Jugendamt auszukehren.

II.

Dem gerichtlich geltend gemachten Anspruch steht in Bezug auf seine zeitliche Ausdehnung über den Zeitpunkt der Antragsablehnung hinaus bis zum Eintritt der Volljährigkeit des Pflegesohnes nicht die in der Rechtsprechung der Verwaltungsgerichte zum Jugendhilferecht (bisher) etablierte, aus der früheren Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts zum Sozialhilferecht übertragene Auffassung entgegen, dass für die gerichtliche Überprüfung ablehnender Leistungsbescheide im Jugendhilferecht in der Regel die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Behördenentscheidung maßgeblich sei (vgl. beispielhaft etwa OVG Lüneburg, Beschluss vom 31.03.2020 – 10 PA 68/20 –, juris Rn. 6, m. w. N.).

1.

Es kann offenbleiben, ob diesem rechtlichen Ansatz im Grundsatz zu folgen wäre. Daran hegt die Kammer allerdings erhebliche Zweifel, weil sie in ihrer – in der einschlägigen Judikatur und Kommentarliteratur allerdings bisher nur wenig substantiiert reflektierten – Konsequenz zu unter dem Blickwinkel des Art. 19 Abs. 4 GG kaum zu rechtfertigenden Rechtsschutzlücken führen kann. Insbesondere dürfte für einen auf den Zeitraum vor Erlass eines Ablehnungsbescheides beschränkten Verpflichtungsantrag in einem Klageverfahren regelmäßig das Rechtsschutzbedürfnis fehlen, da Jugendhilfeleistungen in aller Regel nicht für einen Zeitraum in der Vergangenheit „nachgeholt“ werden können. Das aber hätte zur Konsequenz, dass streitige Ansprüche auf Jugendhilfeleistungen regelhaft gerichtlich nur im Wege des vorläufigen Rechtsschutzes durchgesetzt werden könnten oder dass die Betroffenen zur Bedarfsdeckung auf eine Selbstbeschaffung verwiesen sind (so z. B. OVG Münster, Beschluss vom 08.10.2020 – 12 E 450/20 –, juris Rn. 11 m. w. N.). Letzteres ist aber von vornherein aus finanziellen Gründen nicht allen Betroffenen möglich; ersteres führt wegen der prozessualen Besonderheiten des gerichtlichen Eilrechtsschutzes, namentlich des regelmäßigen Verzichts auf Beweisaufnahmen zur Sachverhaltsaufklärung, zumindest in der Praxis regelhaft zu einer erheblichen Einschränkung der gerichtlichen Kontrolldichte ablehnender Entscheidungen der Jugendhilfeträger, ohne dass dafür – auch nur ansatzweise – zwingende Gründe des materiellen Rechts streiten würden.

2.

Diesen rechtsgrundsätzlichen Bedenken muss allerdings im vorliegenden Verfahren nicht weiter nachgegangen werden. Denn jedenfalls wenn der Jugendhilfeträger den Hilfefall in zeitlicher Hinsicht über den Erlass eines ausdrücklichen Ablehnungsbescheides hinaus geregelt hat, kann dieser nachfolgende Zeitraum auch zulässigerweise zum Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung gemacht werden (vgl. OVG Bautzen, Beschluss vom 26.04.2022 – 3 A 77/21 –, juris Rn. 15, m. w. N.).

So liegt der Fall hier. Der Beklagte hatte den streitbefangenen Hilfefall in Bezug auf den geltend gemachten Anspruch nicht lediglich bis zum Erlass des angegriffenen Ablehnungsbescheids, sondern fortlaufend bis zum Eintritt der Volljährigkeit des Pflegesohnes der Kläger – ablehnend – geregelt. Die Frage einer Einstufung des Pflegeverhältnisses in die Kategorie der sonderpädagogischen Vollzeitpflege wurde nämlich auch über den Erlasszeitpunkt des angegriffenen Ablehnungsbescheides hinaus in allen darauffolgenden Fortschreibungen der Hilfeplanung zwischen den Beteiligten streitig thematisiert, wobei der Beklagte daran anknüpfend seine Einstufung in die Kategorie der sozialpädagogischen Vollzeitpflege jeweils aktualisierend aufrechterhielt, ohne allerdings dazu förmliche Bescheide zu erlassen.

III.

Die Kläger haben einen Anspruch gegen den Beklagten darauf, dass das streitbefangene Pflegeverhältnis für den von der Klage umfassten Zeitraum in die Kategorie der sonderpädagogischen Vollzeitpflege eingestuft wird.

1.

Die Frage, in welche Pflegeform bzw. Kategorie ein konkretes Vollzeitpflegeverhältnis nach der ermittelten Bedarfslage einzustufen ist und wie hoch daran anknüpfend die Pflegepauschale gemäß § 39 Abs. 4 Satz 3 SGB VIII ausfällt, betrifft dem Grunde nach die Ausgestaltung der konkreten Hilfeleistung im Einzelfall. Diesbezüglich ist in der Rechtsprechung allgemein anerkannt, dass dem Jugendhilfeträger insoweit ein Beurteilungsspielraum zusteht mit der Folge, dass die verwaltungsgerichtliche Überprüfung einer dahingehenden Entscheidung des Jugendamtes auf die Frage beschränkt ist, ob allgemeingültige fachliche und rechtliche Maßstäbe beachtet worden sind, ob keine sachfremden Erwägungen eingeflossen sind und die Leistungsadressaten in umfassender Weise beteiligt worden sind (vgl. BVerwG, Urteil vom 09.12.2014 – 5 C 32/13 –, BVerwGE, 151, 44 ff., m. w. N.). Hintergrund dieses rechtlichen Ansatzes ist die Überlegung, dass es sich bei der Entscheidung über die Notwendigkeit und Geeignetheit einer Hilfe im Einzelfall gerade bei längerfristig angelegten Hilfen gemäß § 36 Abs. 2 SGB VIII um das Ergebnis eines kooperativen pädagogischen Entscheidungsprozesses unter Mitwirkung des jungen Menschen, der Sorgeberechtigten und mehrerer Fachkräfte handelt, das nicht den Anspruch objektiver Richtigkeit erhebt, sondern eine angemessene Lösung zur Deckung des festgestellten Bedarfs bieten soll, die fachlich vertretbar und nachvollziehbar sein muss (vgl. BVerwG, ebenda). Diesem grundsätzlichen rechtlichen Ansatz schließt sich die Kammer an.

2.

Im vorliegenden Fall hat der Beklagte mit der Einstufung des streitbefangenen Pflegeverhältnisses in die Kategorie der sozialpädagogischen Vollzeitpflege den ihm nach dem Vorstehenden grundsätzlich eröffneten Beurteilungsspielraum im Sinne eines fachlich nicht vertretbaren Fehlgebrauchs verletzt. Denn er hat seine Entscheidung in fehlerhafter Weise auf die von ihm dazu entwickelten und von seinem Jugendhilfeausschuss am 01.10.2015 beschlossenen Richtlinien nebst Anlagen gestützt.

a)

Dass der Beklagte diese Richtlinien mit den dazu gehörenden Anlagen entwickelt und gemäß §§ 70 Abs. 1, 71 Abs. 2, 4 SGB VIII von seinem Jugendhilfeausschuss hat beschließen lassen, begegnet für sich genommen keinen rechtlichen Bedenken. Dasselbe gilt namentlich unter Berücksichtigung des Auftrags aus § 33 Satz 2 SGB VIII auch in Bezug auf das grundsätzliche inhaltliche Konzept der Richtlinien nebst Anlagen, darin mit Blick auf die Bedarfslagen der Betroffenen unterschiedliche Formen bzw. Kategorien der Vollzeitpflege zu definieren und insoweit fachliche Kriterien für die Einstufung der Einzelfälle in eine der definierten Formen bzw. Kategorien festzulegen. Da die Richtlinien nebst Anlagen dazu dienen, die Entscheidungsfindung zur Ausgestaltung der Jugendhilfe im jeweiligen Einzelfall zu steuern, steht dem Beklagten als Jugendhilfeträger nach Auffassung der Kammer auch bereits für deren inhaltliche Ausgestaltung ein Beurteilungsspielraum zu, so dass sie auch den Inhalt der Richtlinien nebst Anlagen für sich genommen nur in dem oben bereits dargelegten eingeschränkten Umfang einer rechtlichen Beurteilung unterziehen kann.

b)

Bereits auf der Prüfungsebene der inhaltlichen Ausgestaltung der Richtlinien selbst bestehen allerdings gewichtige rechtliche Bedenken, die auf die vom Gericht zu überprüfende Einstufungsentscheidung des Beklagten im vorliegenden Fall durchschlagen.

aa)

So fällt in der Anlage 1 der Richtlinien, bei deren inhaltlicher Gestaltung der Beklagte nahezu wörtlich die „Nds. Empfehlungen“ des Landesjugendamtes übernommen hat, ein systematischer Bruch auf, der gerade auch den vorliegenden Fall betrifft. Während nämlich grundsätzlich – insoweit ohne weiteres für die Kammer fachlich nachvollziehbar – bei der Beschreibung der jeweiligen Bedarfslagen („Zielgruppe“) für die verschiedenen Formen der (längerfristigen) Vollzeitpflege relativ abstrakte bzw. allgemeinere Formulierungen verwendet werden, sind abweichend davon in der Kategorie „sozialpädagogische Vollzeitpflege“ als einziges konkretes medizinisch-psychiatrisches, im ICD-10 sogar eigenständig verschlüsseltes Schädigungsbild (Q 86.0) die sog. fetalen Alkoholspektrum-Störungen (FAS, englisch: Fetal Alcohol Spectrum Disorders) – „FASD“ – aufgeführt.

Diese systematische Abweichung wäre, um sich im Rahmen des Beurteilungsspielraums des Jugendhilfeträgers zu halten, zumindest begründungsbedürftig. Eine entsprechende fachliche Begründung ist aber weder den Richtlinien des Beklagten noch deren Anlage 1 zu entnehmen. Auch in der mündlichen Verhandlung haben die Prozessvertreter des Beklagten diesbezüglich lediglich auf die „Nds. Empfehlungen“ verwiesen sowie darauf, dass auch andere (überörtliche) Jugendhilfeträger dieses Schädigungsbild grundsätzlich dem Bereich der sozialpädagogischen Vollzeitpflege zugeordnet hätten. Das allerdings reicht nach Auffassung der Kammer – bei weitem – nicht aus, um diese Zuordnung fachlich nachvollziehbar zu machen. Im Gegenteil verstärkt gerade der Verweis auf die „Nds. Empfehlungen“ die Zweifel an deren fachlicher Vertretbarkeit. Denn darin wird der zum Schädigungsbild FASD synonyme Begriff „Alkoholembryopathie“ in einem Klammerzusatz als ein Beispielsfall für das dort der sozialpädagogischen Vollzeitpflege zugewiesene allgemeine Zuordnungskriterium von Kindern und Jugendlichen „mit Risikofaktoren in ihrer Vorgeschichte“ angeführt und insofern gleichgesetzt mit „Vernachlässigung“ und „Bezugspersonenwechsel“. Angesichts des Umstands, dass eine Alkoholembryopathie bei den Betroffenen nach dem derzeitig anerkannten Stand der Wissenschaft regelmäßig mit einer irreversiblen hirnorganischen Schädigung einhergeht und daran anknüpfend u.a. zu – mitunter massiven – Verhaltensauffälligkeiten führt, erscheint der Kammer die Bewertung dieser Schädigung lediglich als „Risikofaktor“ für die weitere Entwicklung der Betroffenen und ihre Gleichsetzung mit einer Vernachlässigung oder einem Bezugspersonenwechsel als grundlegend fachlich defizitär, zumal auch nicht erkennbar ist, worauf sie beruht. Dass ihr eine substantiierte fachlich-inhaltliche Befassung mit dem Schädigungsbild einer „Alkoholembryopathie“ und deren (möglichen bzw. zumindest etwaig typischen) Folgen für die Entwicklungsmöglichkeiten der davon betroffenen jungen Menschen zu Grunde läge, ist jedenfalls weder ersichtlich, noch wird das vom Beklagten auch nur behauptet.

bb)

Dieser schwerwiegende systematisch-methodische Plausibilitätsmangel in den „Nds. Empfehlungen“ und daran anknüpfend in den Richtlinien des Beklagten hat nach den Feststellungen der Kammer entscheidenden Einfluss auf die streitbefangene Entscheidung des Beklagten im vorliegenden Fall gehabt. Zwar hat der Beklagte vorgetragen, dass er letztlich immer eine Einzelfallbewertung zur Einstufung des Pflegeverhältnisses vornehme und das auch im vorliegenden Fall getan habe. Auch nach dem Vortrag des Beklagten war es jedoch auch im vorliegenden Fall so, dass zunächst basierend auf der Voreinstufung in der Anlage 1 seiner Richtlinien eine Einstufung in die Kategorie der sozialpädagogischen Pflege zu Grunde gelegt und ausgehend davon lediglich noch geprüft wurde, ob – ausnahmsweise – bei D. „untypische“ Erschwernisse vorliegen, die auch im Vergleich zu anderen in die Kategorie der „sonderpädagogischen Vollzeitpflege“ eingestuften Pflegeverhältnissen eine Höherstufung erfordern bzw. rechtfertigen. Damit hat der Beklagte aber zugleich eingeräumt, dass Ausgangspunkt und maßgeblicher Beurteilungsfaktor für seine streitbefangene Entscheidung die systematisch-methodisch unschlüssige und insoweit fachlich für das Gericht nicht nachvollziehbar begründete Voreinstufung von FASD-Fällen in die Kategorie der „sozialpädagogischen Vollzeitpflege“ war.

c)

Ebenfalls als unschlüssig und damit fachlich defizitär sieht die Kammer unabhängig von dem Vorgenannten und damit rechtlich selbständig tragend im vorliegenden Fall die Anwendung der Richtlinien und deren Anlage 1 seitens des Beklagten an. Denn der Beklagte hat insoweit seine eigenen Vorgaben aus der Anlage 1 nicht hinreichend beachtet.

aa)

Zu dem Personenkreis, der von der Bedarfslage her in die Kategorie der „sonderpädagogischen Vollzeitpflege“ fallen soll, hat der Beklagte in der Anlage 1 seiner Richtlinien bei dem Kriterium „Art des Angebots“ (Nr. 1.3.1 der Anlage), bei dem Kriterium „Rechtsgrundlage“ (Nr. 1.3.2 der Anlage) und bei dem Kriterium „Zielgruppe“ (Nr. 1.3.4 der Anlage) Aussagen getroffen. Unter Nr. 1.3.1 ist insoweit beschrieben, dass der erzieherische bzw. behinderungsspezifische Bedarf in dieser Pflegeform auf Beeinträchtigungen des Kindes basiere, „die auch mit besonderen und gezielten sozialpädagogischen Zuwendungen nicht vollends behebbar sind, weil sie zu einer grundlegenden Persönlichkeitsstörung geführt haben oder weil es sich um eine schwere Behinderung oder lebensbedrohende Erkrankung handelt“. In Nr. 1.3.2 ist der Hinweis aufgenommen worden, dass „Fälle nach §§ 53/54 SGB XII als sonderpädagogische Vollzeitpflege behandelt werden“ sollen. In Nr. 1.3.4 werden als (eine) Zielgruppe Kinder und Jugendliche „mit wesentlicher seelischer Behinderung (gem. ICD-10)“ benannt.

bb)

In der systematischen Zusammenschau der angeführten Aussagen in Nr. 1.3.2 und 1.3.4 entnimmt die Kammer der Anlage 1 die interne Festlegung des Beklagten, dass unabhängig davon, ob eine körperliche, geistige oder seelische Behinderung vorliegt, Kinder und Jugendliche, die wesentlich behindert sind, grundsätzlich in die Kategorie der sonderpädagogischen Vollzeitpflege fallen. Die Anlage 1 knüpft insoweit erkennbar an die Begrifflichkeiten des sozialen Eingliederungshilferechts an. Dieses unterscheidet einerseits zwischen körperlich und/oder geistig behinderten Kindern und Jugendlichen, die früher dem materiell-rechtlichen Regelungsregime des SGB XII und seit dem 01.07.2021 des SGB IX unterliegen, und seelisch behinderten Kindern und Jugendlichen, die unmittelbar dem materiell-rechtlichen Regelungsregime des SGB VIII unterliegen. Andererseits fand bzw. findet sich der Begriff der Wesentlichkeit der Behinderung als Rechtsbegriff und qualifizierende Tatbestandsvoraussetzung für Leistungsansprüche unmittelbar nur im Bereich des SGB XII (§ 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII a.F.) bzw. jetzt des SGB IX (§ 99 Abs. 1 SGB IX); das Jugendhilferecht (in § 35a SGB VIII) verzichtet auf dieses Merkmal. Mit dem Hinweis in der Rubrik „Rechtsgrundlage“ auf die von den §§ 53, 54 SGB XII erfassten Fälle sowie der Verwendung der Formulierung „wesentlicher seelischer Behinderung“ in der Rubrik „Zielgruppe“ hat der Beklagte in der Anlage 1 seiner Richtlinien für eine Einstufung der in Vollzeitpflege zu betreuenden Kinder und Jugendlichen nach ihren Bedarfslagen in die Kategorie der „sonderpädagogischen Vollzeitpflege“ insoweit eine Gleichbehandlung festgelegt und in allen Fällen die eingliederungshilferechtliche Wesentlichkeit einer vorliegenden Behinderung zur tatbestandlichen Voraussetzung erhoben. Das ist fachlich für die Kammer nachvollziehbar und hält sich im Rahmen des dem Beklagten eröffneten fachlichen Beurteilungsspielraums.

cc)

Für die Praxis folgt daraus für den Beklagten allerdings, dass er in Anwendung seiner Richtlinien, die ihn in der Ausfüllung des ihm für die Ausgestaltung der Hilfe im Einzelfall eröffneten Beurteilungsspielraums insoweit binden, jeweils zu prüfen hat, ob bei dem in Vollzeitpflege zu betreuenden Kind bzw. Jugendlichen eine Behinderung vorliegt und ob sie im eingliederungshilferechtlichen Sinne „wesentlich“ ist. Ist beides zu bejahen, hat er von der Bedarfslage des Kindes her nach der Anlage 1 seiner Richtlinien regelmäßig eine Einstufung in die „sonderpädagogische Vollzeitpflege“ vorzunehmen und kommt diesbezüglich eine Einstufung in die Kategorie der „sozialpädagogischen Vollzeitpflege“ allenfalls in begründungsbedürftigen Ausnahmefällen in Betracht.

Dass sich der Beklagte im vorliegenden Fall an dieses aus seinen eigenen Richtlinien folgende Prüfungsprogramm gehalten hätte, ist nicht ersichtlich und behauptet der Beklagte auch selbst nicht. Vielmehr ist im Rahmen der mündlichen Verhandlung für die Kammer erkennbar geworden, dass dem Jugendamt des Beklagten diese aus seinen eigenen Richtlinien folgenden Konsequenzen für die Beurteilung des Falles im streitbefangenen Zeitraum gar nicht bewusst waren. Dieses mangelnde Bewusstsein beim Beklagten für die Notwendigkeit, die Frage zu prüfen und zu beantworten, ob die bei dem Pflegesohn der Kläger – unstreitig – vorhandene seelische Behinderung im Sinne der in der Anlage 1 der Richtlinien verwendeten eingliederungshilferechtlichen Begrifflichkeit „wesentlich“ ist, lässt sich zudem auch aus dem Ablehnungsbescheid vom 02.02.2017 und den vorgelegten Verwaltungsvorgängen erschließen. Denn weder im Ablehnungsbescheid noch in den Verwaltungsvorgängen – namentlich in den Hilfeplanprotokollen – wird diese Frage angesprochen. Nirgends in den Unterlagen ist zudem ersichtlich, dass das Jugendamt des Beklagten sich im vorliegenden Fall zumindest mit der Frage beschäftigt hätte, welche Kriterien überhaupt maßgeblich wären, um das von ihm selbst in Nr. 1.3.2 und Nr. 1.3.4 der Anlage 1 der Richtlinien festgelegte eingliederungshilferechtliche Merkmal der „Wesentlichkeit“ einer (seelischen) Behinderung zu erfüllen.

Der darin liegende methodische Mangel in der Anwendung der eigenen Richtlinien auf den vorliegenden Fall ist aus Sicht der Kammer umso gravierender, als der Beklagte selbst in seinem Ablehnungsbescheid vom 02.02.2017 dem Pflegesohn der Kläger in einem anderen Zusammenhang grundsätzlich eine Wesentlichkeit der bei ihm vorliegenden Behinderung zuspricht. Denn darin wird u.a. ausgeführt, es sei trotz bereits laufender Leistungen der Pflegeversicherung, die aber die Deckung des Hilfebedarfs nicht vollständig sichern könnten, im weiteren Hilfeverlauf gut darauf zu achten, „wann auch eine Überleitung in den Bereich des SGB XII und damit eine langfristige Unterstützung H. sinnvoll ist“. Nach dem objektiven Erklärungsinhalt diese Aussage – „wann“ nicht „ob“ – war dem Beklagten seinerzeit demnach durchaus bewusst, dass der Pflegesohn der Kläger einen über den zeitlichen Rahmen von möglichen Jugendhilfeleistungen hinausreichenden, langfristigen Hilfebedarf haben wird, der nach dem Regelungsregime des SGB XII (in der zu der Zeit gültigen Fassung) zu decken sein würde. Der Hinweis auf das SGB XII lässt sich aus Sicht der Kammer dabei, zumal er in den unmittelbaren Kontext einer Abgrenzung zu den bereits laufenden Leistungen der Pflegeversicherung nach dem SGB XI gestellt worden ist, nur dahingehend verstehen, dass damit Leistungen der Eingliederungshilfe gemäß §§ 53, 54 SGB XII (a.F.) gemeint waren. Eine solche Überführung in die Eingliederungshilfe nach dem SGB XII bzw. jetzt SGB IX infolge des aus Altersgründen gesetzlich zwingenden Endes der sachlichen Zuständigkeit der Jugendhilfe setzt aber voraus, dass der Pflegesohn der Kläger wesentlich behindert ist, denn nur dann wäre er nach § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII (a.F.) bzw. nunmehr § 99 Abs. 1 SGB IX insoweit anspruchsberechtigt. Ging der Beklagte aber selbst von einer zukünftigen Anspruchsberechtigung H. nach dem SGB XII bzw. nunmehr SGB IX aus und stufte er zudem die bei D. vorliegenden Beeinträchtigungen als eine seelische Behinderung ein, dann hätte sich ihm zugleich die Überlegung aufdrängen müssen, dass das nach seinen eigenen Richtlinien für die Einstufung von Pflegeverhältnissen Konsequenzen haben könnte bzw. müsste. Das ist aber ersichtlich nicht geschehen.

dd)

Zur Überzeugung der Kammer war der Pflegesohn der Kläger im streitbefangenen Zeitraum wesentlich seelisch behindert im Sinne von Ziffer 1.3.4 der Anlage 1 der Richtlinien des Beklagten und deshalb von der Bedarfslage her nach den Festlegungen in den Richtlinien grundsätzlich der Kategorie der sonderpädagogischen Vollzeitpflege zuzuordnen.

(1)

Dass der Kläger (überhaupt) seelisch behindert war (und ist), ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Ebenso unstreitig liegen insoweit übereinstimmende fachliche Diagnosen vor, die diesbezüglich nach ICD-10 verschlüsselt sind.

(2)

Die seelische Behinderung H. war (und ist) auch als „wesentlich“ in dem hier nach der Anlage 1 der Richtlinien des Beklagten maßgeblichen eingliederungshilferechtlichen Sinne anzusehen.

(a)

Diese Beurteilung kann die Kammer eigenständig vornehmen. In der sozialgerichtlichen Rechtsprechung und Fachliteratur zum eingliederungshilferechtlichen Begriff der „Wesentlichkeit“ im § 53 Abs. 1 Satz 1 SGB XII (a.F.), der insoweit unverändert in den seit dem 01.07.2021 geltenden § 99 Abs. 1 SGB IX übernommen wurde, besteht Einigkeit darüber, dass es sich um einen unbestimmten Rechtsbegriff handelt, dessen Anwendung im Einzelfall der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt (vgl. z. B. Wehrhahn in: jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 99 SGB IX, Stand: 11.08.2022, Rn. 17; LSG Niedersachsen-Bremen, Beschluss vom 05.08.2010 – L 8 SO 143/10 B ER –, juris Rn. 12; vgl. auch VG Saarlouis, Gerichtsbescheid vom 03.04.2017 – 3 K 2311/16 –, juris Rn. 47). Diese Beurteilung macht sich die Kammer im vorliegenden Fall, in dem der Beklagte die eingliederungshilferechtliche Begrifflichkeit zur Ausfüllung des ihm jugendhilferechtlich eingeräumten Beurteilungsspielraums selbst eingeführt hat, zu eigen.

(b)

Für die Beurteilung, ob eine seelische Behinderung im eingliederungshilferechtlichen Sinne „wesentlich“ ist, war im Regelungsregime des SGB XII und ist übergangsweise auch nach § 99 SGB IX zunächst auf § 3 der EingliederungshilfeVO (EinglHVO) zurückzugreifen, der diejenigen Arten seelischer Störungen abschließend benennt, die eine wesentliche seelische Behinderung in diesem Sinne zur Folge haben können. Nach § 3 Nr. 2 EinglHVO gehören dazu seelische Störungen als Folge von Krankheiten oder Verletzungen des Gehirns, von Anfallsleiden oder von anderen Krankheiten oder körperlichen Beeinträchtigungen. Die seelischen Störungen bei Pascal resultieren grundlegend aus der erlittenen hirnorganischen Schädigung infolge des Alkoholkonsums der Mutter während der Schwangerschaft und fallen damit unter § 3 EinglHVO.

(c)

Im Übrigen bedarf die Beurteilung der „Wesentlichkeit“ einer (seelischen) Behinderung im eingliederungshilferechtlichen Sinne einer wertenden Betrachtung aller Umstände des Einzelfalls, die insbesondere ausgerichtet ist an den Auswirkungen der Behinderung auf die Teilhabemöglichkeiten der betroffenen Person am gesellschaftlichen Leben (st. Rspr.; vgl. nur BSG, Urteil vom 22.03.2012 – B 8 SO 30/10 R –, juris Rn. 19; LSG Nordrhein-Westfalen, Urteil vom 04.11.2021 – L 9 SO 302/19 –, juris Rn. 32, jeweils m. w. N.). Nach den Empfehlungen der Bundesarbeitsgemeinschaft der überörtlichen Sozialhilfeträger (BAGüS), die die Kammer als nachvollziehbares und schlüssiges Instrumentarium erachtet und deswegen zur weiteren Beurteilung (mit) heranzieht, ist zur Feststellung der Wesentlichkeit in den verschiedenen Lebensbereichen zu prüfen, ob die selbständige Ausführung möglich ist, ob Hilfsmittel benötigt werden, ob personelle Hilfe benötigt wird oder die Ausführung gar nicht möglich ist. Die wesentlichen Lebensbereiche sind danach Selbstversorgung und Mobilität, Haushaltsführung, Orientierung und Kommunikation sowie das Sozialverhalten. Wird personelle Hilfe in mehreren Lebensbereichen notwendig, sieht die BAGüS in der Regel eine wesentliche Einschränkung als gegeben an (vgl. Wehrhahn in: jurisPK-SGB IX, 3. Aufl., § 99 SGB IX, Stand: 30.03.2021, Rn. 16). Zusätzlich gehört zu den zu betrachtenden Lebensbereichen nach Auffassung der Kammer auch der Bereich der schulischen bzw. beruflichen (Aus-)Bildung, denn nach den §§ 5 Nr. 4, 112 SGB IX zählen auch Leistungen zur Teilhabe an Bildung zu denjenigen Leistungen, die eingliederungshilferechtlich zur Teilhabe am Leben in der Gesellschaft erbracht werden können. Gerade die Teilhabe(möglichkeit) am Leben in der Gesellschaft (insgesamt) ist es aber, die für die Bewertung einer Behinderung und ihrer Wesentlichkeit ausschlaggebend ist.

Ausgehend davon ist festzustellen, dass der Pflegesohn der Kläger im streitbefangenen Zeitraum bereits nach den Feststellungen des Beklagten in den jeweiligen Hilfeplanprotokollen in allen benannten Lebensbereichen personeller Unterstützung, wenn auch in unterschiedlichem Maße, bedurfte. Das stellt der Beklagte auch nicht substantiiert in Abrede. Untermauert wird das dadurch, dass D. von der dafür zuständigen Fachbehörde mit einem Grad von 70 und damit in einem erheblichen Umfang als schwerbehinderter Mensch anerkannt worden ist und ihm die Merkmale G, B und H zugesprochen worden sind. Dabei signalisiert schon das Merkmal „H“ für sich eine „Hilflosigkeit“, also einen Zustand, in dem die Person dauernd und in erheblichem Maße fremde Hilfe, Überwachung oder Anleitung für die gewöhnlichen und regelmäßig wiederkehrenden Verrichtungen des täglichen Lebens wie z.B. Aufstehen, An- und Auskleiden, Nahrungsaufnahme, Körperpflege benötigt. Soweit der Beklagte die fachliche Richtigkeit der Vergabe des GdB von 70 und der ergänzenden Merkmale an D. für den streitbefangenen Zeitraum in Frage stellt, ist das aus Sicht der Kammer insbesondere angesichts der vom Beklagten selbst in den Hilfeplanprotokollen festgestellten Unterstützungsbedarfe bei D. unsubstantiiert. Dabei ist ergänzend zu berücksichtigen, dass für D. nach Eintritt der Volljährigkeit für mehrere Lebensbereiche inzwischen eine Betreuung eingerichtet worden ist, also auch das Betreuungsgericht als weitere Fachinstitution insoweit eine (weiterhin) mangelnde Fähigkeit H. zur eigenverantwortlichen Wahrnehmung bzw. Teilhabe und einen entsprechenden Unterstützungsbedarf festgestellt hat.

ee)

Das schon aus der Anwendung von Nr. 1.3.2 und 1.3.4 ableitbare Ergebnis einer grundsätzlichen Zuordnung des streitbefangenen Pflegeverhältnisses in die Kategorie der sonderpädagogischen Vollzeitpflege wird – selbständig tragend – bestätigt von den Aussagen des Beklagten in Nr. 1.3.1 der Anlage 1 seiner Richtlinien. Denn D. ist infolge des FASD von Beeinträchtigungen betroffen, „die auch mit besonderen und gezielten sozialpädagogischen Zuwendungen nicht vollends behebbar sind“. Im Gegensatz dazu betont die Anlage 1 in Bezug auf die sozialpädagogische Vollzeitpflege unter Nr. 1.2.1 zur „Art des Angebots“, dass der erzieherische Bedarf – vor dem Hintergrund unterschiedlicher Konstellationen in der Herkunftsfamilie – „aus Entwicklungsbeeinträchtigungen des Kindes oder der/des Jugendlichen [resultiere], deren Bearbeitung eines fachlichen Anspruchs bedarf“. In Abgrenzung zu den Ausführungen in Nr. 1.3.1 entnimmt die Kammer dieser Beschreibung eine Bezugnahme auf Beeinträchtigungen, die mit einer entsprechenden fachlichen „Bearbeitung“ behebbar oder in ihren Auswirkungen auf die Lebensführung der Betroffenen soweit reduzierbar sind, dass diese nach Beendigung der sachlichen Zuständigkeit der Jugendhilfe grundsätzlich zu einer eigenständigen Lebensführung und gesellschaftlichen Teilhabe in der Lage sind. Das aber trifft auf den Pflegesohn der Kläger nicht zu.

d)

Der Beklagte kann gegen die begehrte Einstufung der im streitbefangenen Zeitraum erbrachten Vollzeitpflege in die Kategorie der sonderpädagogischen Vollzeitpflege nach seinen Richtlinien auch nicht eine in dem Zeitraum (noch) nicht ausreichende persönliche Qualifikation der Klägerin zu 2) einwenden.

aa)

Nach der allgemeinen Beschreibung in Nr. 1.3.1 der Anlage 1 der Richtlinien des Beklagten wird die sonderpädagogische Vollzeitpflege von pädagogisch-psychologisch und ggf. medizinisch-pflegerisch qualifizierten Pflegepersonen durchgeführt. In Nr. 1.3.6 der Anlage 1 – „Persönliche und familiäre Voraussetzungen“ – ist ergänzend angeführt: „Pädagogisch/psychologische Qualifikation, … entsprechend dem besonderen Bedarf des Kindes/Jugendlichen“, „Einschlägige Berufserfahrung oder vergleichbare Qualifikation“. Außerdem ist dort festgelegt, dass die Besonderheit der zu betreuenden Kinder eine überwiegende Betreuung durch die „pädagogische Fachkraft der Familie“ voraussetzt.

Aus diesen allgemeinen Ausführungen ist ersichtlich, dass nach den insoweit fachlich nachvollziehbaren Festlegungen des Beklagten die Pflegeperson in der Kategorie der sonderpädagogischen Vollzeitpflege über spezifische Fachkenntnisse bzw. Fähigkeiten verfügen muss, damit eine dem Wohl des zu betreuenden Kindes förderliche Vollzeitpflege sichergestellt ist. Jedoch ergibt sich für die Kammer daraus nicht zwingend, dass diese spezifischen Kenntnisse bzw. Fähigkeiten allein mittels einer entsprechenden staatlichen oder staatlich anerkannten formalen Ausbildung erworben sein müssten. Denn darauf verweisen Nr. 1.3.1 und Nr. 1.3.6 gerade nicht. Auch der Begriff der „pädagogischen Fachkraft“ ist in diesem Sinne nicht spezifisch genug. Insbesondere greift insoweit nicht ein Vergleich zum (nds.) Kindertagesstättenrecht, denn dort wurde im streitbefangenen Zeitraum noch der Begriff der „sozialpädagogischen Fachkraft“ verwendet (vgl. § 4 Nds. KiTaG in der bis zum 20.07.2021 geltenden Fassung) und es waren im Übrigen auch Ausnahmen zugelassen.

bb)

Der Beklagte hat im Rahmen der mündlichen Verhandlung zugestanden, dass die Klägerin zu 2) jedenfalls mit dem erfolgreichen Abschluss ihres Bachelorstudiums der Sozialen Arbeit Anfang 2021 eine auch aus seiner Sicht formal ausreichende fachliche Qualifikation zur Durchführung einer sonderpädagogischen Vollzeitpflege erworben hatte.

Nach Auffassung der Kammer dürften aber auch die bereits bis zum Beginn des streitbefangenen Zeitraums von der Klägerin zu 2) außerhalb einer staatlichen bzw. staatlich geregelten Berufsqualifikation seit 2011 absolvierten Qualifizierungsmaßnahmen (systemische Familienberatung mit Fortbildungen, sonstige Fortbildungen, Studium der Sozialen Arbeit seit 2014, s.o.) jedenfalls in der Zusammenschau mit den von ihr seit der Aufnahme H. in die Familie gesammelten praktischen Erfahrungen als ausreichende fachliche Qualifizierung zur Durchführung der Vollzeitpflege als sonderpädagogische Pflege anzusehen sein. Dafür spricht insbesondere, dass die von der Klägerin zu 2) für D. geleistete Vollzeitpflege dessen Betreuungsbedarf auch aus Sicht des Beklagten, wie es in allen Hilfeplanprotokollen dokumentiert ist, gerade auch in pädagogisch-psychologischer Hinsicht vollständig gedeckt hatte. Diese Bedarfslage bei D. erforderte aber, wie oben dargelegt, die Durchführung einer sonderpädagogischen Vollzeitpflege.

Abgesehen davon und insoweit selbständig tragend ist die Kammer im Übrigen der Auffassung, dass sich der Beklagte auf eine etwaige unzureichende fachliche Qualifikation der Klägerin zu 2) zur Durchführung einer sonderpädagogischen Vollzeitpflege im streitbefangenen Zeitraum nach dem auch im öffentlichen Recht geltenden Grundsatz von Treu und Glauben nicht berufen kann. Der dahingehende Vortrag des Beklagten erweist sich aus Sicht der Kammer vielmehr als unzulässige Rechtsausübung. Denn er hatte diesen Gesichtspunkt jedenfalls nach außen bis zum Eintritt der Volljährigkeit H. zu keinem Zeitpunkt im Laufe des Verwaltungsverfahrens und auch des gerichtlichen Verfahrens zum Gegenstand seiner rechtlichen Bewertung des Falles gemacht. Damit hat er aber den Klägern, namentlich der Klägerin zu 2), für den streitbefangenen Zeitraum die Möglichkeit genommen, auf einen dahingehenden fachlichen Vorbehalt zu reagieren und eine etwaig vom Beklagten geforderte weitere Qualifizierung zu erwerben, insbesondere alles ihr Mögliche zu unternehmen, um ihr Studium schneller abzuschließen. Da der Beklagte ihre ausreichende fachliche Qualifikation für die bedarfsgerechte Pflege und Betreuung H. zu keinem Zeitpunkt in Zweifel gezogen hatte, durften die Kläger vielmehr darauf vertrauen, dass die von ihnen geforderte und gerichtlich verfolgte Heraufstufung des Pflegeverhältnisses in die Kategorie der sonderpädagogischen Vollzeitpflege nicht an einem vom Beklagten so eingeschätzten Mangel in der persönlichen fachlichen Qualifikation der Klägerin zu 2) scheitern würde.

3.

Da nach dem Vorstehenden die tatbestandlichen Voraussetzungen für eine Einstufung des streitbefangenen Pflegeverhältnisses in die Kategorie der sonderpädagogischen Vollzeitpflege erfüllt waren, ist im vorliegenden Fall der tenorierte Verpflichtungsausspruch zulässig und geboten.

Zwar besteht in Fällen, in denen – wie hier – die rechtmäßige Ausfüllung eines der beklagten Behörde materiell-rechtlich zustehenden Beurteilungsspielraums vom Gericht verneint wird, grundsätzlich nur ein prozessualer Anspruch darauf, dass die Behörde zur erneuten Entscheidung über den geltend gemachten Leistungsanspruch unter Berücksichtigung der Rechtsauffassung des Gerichts verpflichtet wird. Das gilt jedoch nicht in einem Fall, in dem der Beurteilungsspielraum durch eine gesetzliche oder verwaltungsinterne „Soll“-Vorgabe zur rechtlichen Behandlung bestimmter Konstellationen zulässigerweise eingeengt ist. Dann bietet der insoweit gesetzlich oder verwaltungsintern beschriebene „Regelfall“ keinen Spielraum mehr für eine von der „Soll“-Vorgabe abweichende Beurteilung mit der Folge, dass ausnahmsweise ein Verpflichtungsausspruch des Gerichts zur Bewilligung der begehrten Leistung ergehen kann, wenn nicht ein „a-typischer“ Fall vorliegt (vgl. Wolff in: Sodan/Ziekow, VwGO, 5. Aufl. 2018, § 114 Rn. 368 f., 388 m. w. N.).

So liegt der Fall hier. Denn einerseits hat sich der Beklagte rechtlich zulässig und insoweit fachlich auch schlüssig und vertretbar mit den sich intern gegebenen Richtlinien nebst Anlagen selbst dahingehend festgelegt, dass er Fälle, in denen ein in Vollzeitpflege zu betreuendes Kind im eingliederungshilferechtlichen Sinn wesentlich behindert bzw. von einer nicht behebbaren erheblichen Beeinträchtigung betroffen ist, von der Bedarfslage her im Regelfall in die Kategorie der sonderpädagogischen Vollzeitpflege eingruppiert. Andererseits sind Umstände, wonach das im vorliegenden Fall für den Pflegesohn der Kläger, der nach den Feststellungen der Kammer (auch) im streitbefangenen Zeitraum in diesem Sinn als wesentlich behindert anzusehen war (und auch aktuell ist) und dessen Beeinträchtigungen in der eigenständigen und -verantwortlichen Lebensführung sowie der gesellschaftlichen Teilhabe auf einer nicht behebbaren hirnorganischen Schädigung beruhen, ausnahmsweise anders zu bewerten sein sollte, weder vom Beklagten substantiiert dargelegt noch sonst ersichtlich.

IV.

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO.