Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 14.07.1997, Az.: IX 316/93
Bindungswirkung rechtskräftiger Finanzgerichtsurteile; Streitgegenstand bei Anfechtungsklagen; Aufschluss über die Reichweite der Bindungswirkung durch die Entscheidungsgründe; Möglichkeit der Rücknahme, des Widerrufs, der Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten trotz eingetretener Bindungwirkung; Voraussetzungen des § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 Abgabenordnung (AO)
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 14.07.1997
- Aktenzeichen
- IX 316/93
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 1997, 17984
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:1997:0714.IX316.93.0A
Rechtsgrundlagen
- § 100 Abs. 1 S. 1 FGO
- § 110 Abs. 1 FGO
- § 175 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AO
Fundstelle
- NWB DokSt 1998, 337-338
Verfahrensgegenstand
Feststellungsbescheid 1978 des Autohauses M.
In dem Rechtsstreit
hat der IX. Senat des Niedersächsischen Finanzgerichts
nach mündlicher Verhandlung in der Sitzung vom 14. Juli 1997,
an der mitgewirkt haben:
...
fürRecht erkannt:
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kläger haben die Kosten des Rechtsstreits zu tragen.
Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen werden nicht erstattet.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob der Bescheidüber die gesonderte und einheitliche Feststellung des Gewinns 1978 nach rechtskräftig abgewiesener Anfechtungsklage (Nds. Finanzgericht - FG -, Urteil vom 17. August 1988 IX 136/84) wegen eines rückwirkenden Ereignisses zu ändern ist.
Die Kläger sind - neben ihrer beigeladenen Mutter - die ehemaligen Gesellschafter des Autohauses M. und Rechtsnachfolger nach dem 1973 verstorbenen früheren Geschäftsinhaber. Im Klageverfahren IX 136/84, in dem die Mutter Mitklägerin war, hatten die Beteiligten darüber gestritten, ob es sich bei der Auflösung der Erbengemeinschaft im Jahr 1978 (notariell beurkundete Übertragung der Gesellschaftsanteile der Kinder auf die Mutter vom 19. Mai 1978 - Erbteilübertragungsvertrag -) um eine private Erbauseinandersetzung oder um die steuerlich relevante Auflösung einer Mitunternehmerschaft gehandelt hatte. Das FG folgte in diesem Verfahren der Auffassung des Beklagten (Finanzamt - FA -), daß dieÜbertragung der Gesellschaftsanteile 1978 als Auflösung einer Mitunternehmerschaft anzusehen und dementsprechend ein Veräußerungsgewinn von 355.090,00 DM festzustellen gewesen war, von dem 123.282,00 DM auf den Kläger zu 1, 126.138,00 DM auf den Kläger zu 2 und 105.670,00 DM auf die Klägerin zu 3 entfielen. Die Höhe des Veräußerungsgewinns war in diesem Verfahren nicht streitig.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf die Entscheidung vom 17. August 1988 IX 136/84 Bezug genommen.
Die Kläger stellten am 5. Dezember 1988 beim FA den Antrag, den rechtskräftigen Feststellungsbescheid 1978 wegen eines rückwirkenden Ereignisses nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 der Abgabenordnung, (AO) zu ändern, da sich die an der Auseinandersetzung beteiligten Gesellschafter am 4./31. Mai 1988 darüber geeinigt hätten, daß der ursprünglich festgesetzte Auseinandersetzungsmehrwert weit überhöht gewesen sei. Daraus folge, daß der Kaufpreis der übertragenen Anteile nicht mit 405.000,00 DM, sondern mit 0,00 DM anzusetzen sei. Die Mitglieder der Erbengemeinschaft seien dabei übereingekommen, daß kein Auseinandersetzungsanspruch entstanden sei.
Das FA lehnte den Änderungsantrag ab, da kein rückwirkendes Ereignis vorliege. Die Vereinbarung der Gesellschafter beruhe vielmehr auf nachträglich eingetretenen Umständen.
Der unter Hinweis auf das Urteil des FG Berlin vom 22. Januar 1986 II 531/82 (EFG 1986, 449) erhobene Einspruch blieb erfolglos. Dagegen richtet sich die Klage.
Die Kläger tragen vor, die Voraussetzungen für die spätere Verminderung des Auseinandersetzungsmehrwerts seien bereits 1978, im Zeitpunkt des Übertragungsvertrags vorhanden gewesen. Sie seien nicht - wie vom FA behauptet - erst später eingetreten. Nach der Rechtsprechung sei ein Feststellungsbescheid nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO zu ändern, wenn in ihm ein Veräußerungsgewinn festgestellt worden sei, der sich nach Bestandskraft wegen Uneinbringlichkeit einer Forderung (FG Berlin, vom 22. Januar 1986 II 531/82, a.a.O.) oder einer nachträglichen Herabsetzung des Kaufpreises rückwirkend ändere (Bundesfinanzhof - BFH -, Beschluß vom 19. Juli 1993 GrS 2/92, BStBl II 1993, 897). Auch das im Dezember 1989 eröffnete Konkursverfahren zeige, daß die 1978 angesetzten Auseinandersetzungswerte völlig unrealistisch gewesen seien. Sie seien nur aufgrund der Forderungen der für die Kinder eingesetzten Ergänzungspfleger zustande gekommen. Da die Kläger und Beigeladene während des Vorprozesses von unterschiedlichen Bevollmächtigten vertreten worden waren, sei es versäumt worden, die Vereinbarung vom Mai 1988 in die damalige mündliche Verhandlung einzuführen.
Der Senat hat durch Beschluß vom 11. Oktober 1994 die Mutter und ehemalige Mitgesellschafterin der Kläger beigeladen.
Die Kläger beantragen,
das FA unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 2. Januar 1989 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 1. Juli 1993 zu verpflichten, den Feststellungsbescheid vom 13. Dezember 1982 in Gestalt des Urteils vom 17. August 1988 (IX 136/84) zu ändern und den Veräußerungsgewinn mit 0,00 DM festzusetzen.
Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt.
Das FA beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es bleibt bei seiner im Rechtsbehelfsverfahren vertretenen Auffassung, daß die Rechtskraft der FG-Entscheidung vom 17. August 1988 einer Änderung entgegen stehe (§ 110 Abs. 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung - FGO -). Die Vereinbarungen der Gesellschafter seien vor der mündlichen Verhandlung am 17. August 1988 getroffen, aber im Verfahren IX 136/84 nicht vorgetragen worden. Sie könnten die Bindungswirkung des Urteils nicht mehr beseitigen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist unbegründet.
Das FA hat die Änderung des Feststellungsbescheids 1978 zu Recht abgelehnt. Einer Änderung nach § 175 Abs. 1 Nr. 2 AO steht nach § 110 Abs. 1 Nr. 1 FGO die Rechtskraft des Urteils vom 17. August 1988 entgegen. Im übrigen liegen die Voraussetzungen der Änderungsnorm im Streitfall nicht vor.
1.
Bindungswirkung der ersten Entscheidung des FG
Nach § 110 Abs. 1 FGO binden rechtskräftige Urteile die Beteiligten "soweit, als über den Streitgegenstand entschieden worden ist".
Streitgegenstand ist bei Anfechtungsklagen die Rechtsbehauptung des Klägers, der angefochtene Verwaltungsakt sei rechtswidrig und verletze ihn in seinen Rechten (vgl. BFH, Beschluß vom 17. Juli 1967 GrS 1/66, BFHE 91, 393, BStBl II 1968, 344). Das (einschränkende) Tatbestandsmerkmal "soweit, als über den Streitgegenstand entschieden worden ist" verweist dabei auf die Teilmenge aller mit dem angefochtenen Verwaltungsakt erfaßten Besteuerungsgrundlagen, zu denen das Gericht selbstentscheidend Feststellungen getroffen hat (vgl. Tipke/Kruse, Abgabenordnung-Finanzgerichtsordnung, Kommentar, 13. Aufl.,§ 110 FGO, Tz. 9). Die damit verbundene Frage, inwieweit die Rechtsfolgebehauptung der Kläger im Vorprozeß, der Verwaltungsakt sei rechtswidrig, tatsächlich überprüft worden ist, hängt davon ab, inwieweit dem Urteil ein bestimmter Sachverhalt zugrunde liegt (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O.). Obwohl nur der Tenor der gerichtlichen Entscheidungüber den Streitgegenstand in Rechtskraft erwächst und bindend wirkt, geben die Entscheidungsgründe Aufschluß darüber, wie weit die Bindung gemäß § 110 FGO reicht.
Von diesen Rechtsgrundsätzen ausgehend hat der IX. Senat des FG in seinem Urteil vom 17. August 1988 bindend entschieden, daß im Streitjahre 1978 die Mitunternehmerschaft der Kläger und der Beigeladenen in Form einer ungeteilten Erbengemeinschaft aufgelöst wurde und daraus resultierend ein Veräußerungsgewinn von 355.090,00 DM festzusetzen ist. Damit ist das FA an die Entscheidungen in diesem Urteil gebunden (vgl. Kopp, Verwaltungsgerichtsordnung, Kommentar, 8. Aufl.,§ 121 VwGO Rdnr. 11; Beschluß des Bundesverfassungsgerichts - BVerfG - vom 31. Januar 1978 2 BvL 8/77, Neue Juristische Wochenschrift 1978, 1151, 1154).
Nach § 110 Abs. 2 FGO bleiben allerdings die Vorschriften der AO und anderer Steuergesetze über die Rücknahme, Widerruf, Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten unberührt, soweit sich aus § 100 Abs. 1 Satz 1 FGO nichts anderes ergibt. Damit ist klargestellt, daß sich eine Änderung nicht in Widerspruch setzen darf zu einer rechtlichen Beurteilung des Gerichts, die der Aufhebung, Änderung oder Bestätigung des ursprünglichen Verwaltungsaktes zugrunde lag (vgl. Tipke/Kruse, a.a.O., Tz. 14). Das FA war daher nicht befugt, mit einem Änderungsbescheid den Veräußerungsgewinn zu mindern. Es hätte sich damit in Widerspruch zu der gerichtlichen Entscheidung begeben, die auch über die Höhe des Gewinns entscheiden hat.
2.
Voraussetzungen der Änderungsvorschriften
Selbst wenn man mit den Klägern eine Durchbrechung der Rechtskraft nach § 110 Abs. 2 FGO für möglich hielte, scheitert das Klagebegehren daran, daß die Voraussetzungen des§ 175 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 AO nicht gegeben sind und andere Änderungsvorschriften nicht in Betracht kommen.
Nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO ist ein Steuerbescheid u.a. zu ändern, soweit ein Ereignis eintritt, das steuerliche Wirkung für die Vergangenheit hat. Das Ereignis muß nachträglich, d.h. nach Erlaß des Steuerbescheides eingetreten sein und darf deshalb - anders als bei § 173 AO - zur Zeit des Ergehens des Steuerbescheides noch nicht bestanden haben (vgl. BFH-Urteile vom 21. April 1988 IV R 215/85, BFHE 153, 485, und vom 26. Juli 1984 IV R 10/83, BFHE 141, 488, BStBl II 1984, 786). Das nachträgliche Ereignis muß ferner zu einer Änderung des Sachverhalts führen, welcher vom FA bei der Steuerfestsetzung zugrunde gelegt wurde; d.h. es muß nach Erlaß des Steuerbescheides ein Ereignis eintreten, das vom FA bei der Steuerfestsetzung nicht berücksichtigt wurde, weil es z.B. als in der Zukunft liegend noch nicht bekannt oder nicht vorhersehbar war. § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO greift somit nicht ein, wenn das FA das Vorliegen oder den Wegfall eines nachträglich eingetretenen Tatbestandsmerkmals bei der Steuerfestsetzung - ob irrtümlich oder aufgrund einer Erklärung des Steuerpflichtigen - angenommen hat. Ändert sich der vom FA zugrunde gelegte Sachverhalt nicht, so kann der Grund für die Aufhebung der Steuerfestsetzung nur in einer geänderten rechtlichen Beurteilung des Sachverhalts liegen. Eine solche kann jedoch nicht im Rahmen des § 175 AO, sondern allenfalls in den engen Grenzen des§ 177 AO zu einer Berichtigung der Steuerfestsetzung führen.
Ein solches nachträgliches Ereignis, welches den vom FA zugrunde gelegten Sachverhalt geändert hätte, ist nicht eingetreten.
Der Umstand, daß die Kläger und die Beigeladene im Mai 1988 andere Auseinandersetzungswerte vereinbart haben, ist zwar ein nachträglich eingetretenes Ereignis. Es kann aber nicht zur Änderung des Feststellungsbescheids führen, weil das FA die Auseinandersetzungswerte aufgrund der Erklärung im notariellen Vertrag vom Mai 1978 bereits erkennbar seiner Feststellung des Gewinns 1978 zugrunde gelegt hat. Die bloße Behauptung 1988, die Werte 1978 seien niedriger anzusetzen, führt zu keiner Änderung des Sachverhalts. Das gilt ebenfalls für die Tatsache, daß 1989 über das Autohaus das Konkursverfahren eröffnet wurde. Dieses Ereignis verändert den Sachverhalt aus dem Jahr 1978, von dem das FA bei Erlaß des Feststellungsbescheids ausgegangen war, nicht.
Es liegen auch die Voraussetzungen für eine Änderung des Steuerbescheides nach § 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 AO nicht vor. Nach dieser Vorschrift ist u.a. Voraussetzung für eine Änderung eines bestandskräftigen Steuerbescheids, daß dem FA bei Erlaß des Steuerbescheids Tatsachen oder Beweismittel, die zu diesem Zeitpunkt bereits entstanden sind, unbekannt bleiben und erst "nachträglich bekannt werden".
Eine solche nachträglich bekanntgewordene, steuerrelevante Tatsache ist nicht gegeben. Sowohl die Vereinbarung aus dem Mai 1988 als auch die Konkurseröffnung lagen nach dem Erlaß des Feststellungsbescheids.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.