Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Urt. v. 15.12.2003, Az.: 1 KN 532/01

Abwägung; Bebauungsplan; Eigentum; Erforderlichkeit; Erforderlichkeit des Bebauungsplans; Immissionskonflikt; Schallleistungspegel; Schutz des Eigentums; Verkaufsbereitschaft

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
15.12.2003
Aktenzeichen
1 KN 532/01
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2003, 48296
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Zur Erforderlichkeit einer Planung, wenn der Eigentümer eines Wohngrundstücks nicht bereit ist, sein Grundstück, das als eingeschränktes Industriegebiet überplant werden soll, zu veräußern.

2. Die Überplanung eines Wohngrundstücks als eingeschränktes Industriegebiet beschränkt die Eigentümerbefugnisse in einem Maß, das die Gemeinde zwingt, das Eigentum bei der Aufstellung des Bebauungsplanes in hervorgehobener Weise zu berücksichtigen.

3. Zur Bewältigung eines Immissionskonfliktes durch flächenbezogene Schallleistungspegel.

Tatbestand:

1

Die Antragstellerin ist Eigentümerin eines mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks im Ortsteil F. der Antragsgegnerin, das mit dem angegriffenen Bebauungsplan Nr. 88 „Industriegebiet F.“ als eingeschränktes Industriegebiet (GI E), gegliedert durch flächenbezogene Schallleistungspegel, überplant wird. Sie befürchtet, dass ihr Grundstück bei Ausnutzung der zugelassenen Immissionskontingente unzumutbaren Lärmeinwirkungen ausgesetzt wird.

2

Die Antragstellerin ist Eigentümerin des Grundstücks Industriestraße 6 (Flurstück 58/1), auf dem ein Wohngebäude steht. Westlich davon erstreckt sich das Betriebsgelände der Beigeladenen, das mit mehreren Werkshallen bebaut ist. Die Beigeladene produziert an diesem Standort Stahlbetonfertigteile. Das Werksgelände grenzt im Norden, nur unterbrochen durch die Industriestraße, an den Küstenkanal, im Westen an die Landesstraße 832, im Süden an das Grundstück der Katholischen Kirchengemeinde und im Osten an den Friedhof, an das Grundstück der Antragstellerin und zuletzt an das Grundstück Industriestraße 4 (Flurstück 58/2).

3

Am 8. Juni 1982 beschloss der Rat der Antragsgegnerin die Aufstellung des Bebauungsplanes Nr. 88. Ziel der Planung ist es, die schon vorhandene industrielle Nutzung in dem Bereich „städtebaulich und immissionsschutzrechtlich zu beordnen“ und der Beigeladenen die Möglichkeit der Erweiterung nach Osten zu geben. Der erste Entwurf sah unter anderem eine Verlegung der Industriestraße in die Mitte des Werksgeländes der Beigeladenen vor, um ihr die bessere Ausnutzung von betrieblichen Flächen direkt am Küstenkanal zu ermöglichen. Der Entwurf wurde in den Jahren 1987 und 1989 zweimal ausgelegt. Der Rat der Antragsgegnerin beschloss den Bebauungsplan in seiner Sitzung vom 12. Dezember 1990 als Satzung.

4

1992 teilte die Beigeladene der Antragsgegnerin mit, dass sie mit der Verlegung der Industriestraße über ihr Betriebsgelände wegen einer veränderten betrieblichen Ausrichtung nicht mehr einverstanden sei. Die Antragsgegnerin entschied deshalb, das Anzeigeverfahren nicht weiter zu betreiben.

5

Im Jahr 1998 nahm die Antragsgegnerin das Verfahren mit einem geänderten Entwurf auf. Den Satzungsbeschluss vom 12. Dezember 1990 hob der Rat der Antragsgegnerin in seiner Sitzung vom 23. September 1998 auf. Im Rahmen der Bürgerbeteiligung vom 20. Oktober bis zum 20. November 1998 machte die Antragstellerin mit Schreiben vom 17. November 1998 geltend, dass sie bei der Verwirklichung des Planvorhabens, weitere Industrieflächen östlich des Werksgeländes der Beigeladenen zu schaffen, mit erheblichem Lärm auf ihrem Wohngrundstück rechnen müsse. Außerdem verliere das Grundstück an Wert.

6

Nach Prüfung der eingegangenen Anregungen beschloss der Rat der Antragsgegnerin den Bebauungsplan am 8. März 1999 als Satzung. Die Bekanntmachung datiert vom 2. Juli 1999.

7

Der Geltungsbereich des angegriffenen Bebauungsplanes wird im Nordwesten durch den Küstenkanal begrenzt. Im Südwesten verläuft die Plangrenze entlang der Landesstraße. Nach Süden/Südosten schließen sich an den Geltungsbereich – von Westen her – Schule, Kindergarten und Ausläufer der Wohnbebauung im Ortsteil F. an. Im Osten bildet die Grenze des Plangebietes den Übergang zu Außenbereichsflächen.

8

Der Plan setzt auf dem Werksgelände der Beigeladenen südwestlich der Industriestraße eingeschränkte Industriegebiete fest. Diese bisher schon industriell genutzten Flächen werden nach Osten unter Einbeziehung des Grundstückes der Antragstellerin und weiterer 3 Flurstücke, die mit Wohnhäusern bebaut sind (unter anderem des Flurstücks 58/2), erweitert. Der Plan setzt auf den Wohngrundstücken und weiteren Flächen südwestlich der Industriestraße in einer Tiefe zwischen 90 m und 120 m eingeschränkte Industriegebiete fest. Für sämtliche festgesetzten Industrieflächen gelten eine Grundflächenzahl von 0,8, eine Baumassenzahl von 5,0 und eine maximale Gebäudehöhe von 15 m. Die eingeschränkten Industriegebiete werden durch flächenbezogene Schallleistungspegel gegliedert. Sie betragen in den 4 Gebieten entlang der Industriestraße 68 dB(A) beziehungsweise im östlichsten Gebiet 64 dB(A) tags und 50 dB(A) beziehungsweise 54 dB(A) nachts. In der zweiten Reihe in Richtung Süden schwanken die Tagwerte zwischen 60 dB(A) und 66 dB(A) und die Nachtwerte zwischen 48 dB(A) und 54 dB(A). Auf dem Grundstück südwestlich des Werksgeländes der Beigeladenen, auf dem die Katholische Kirche und das Pfarrhaus stehen, setzt der Plan Flächen für den Gemeinbedarf mit der näheren Zweckbestimmung „Kirche und kirchlichen Zwecken dienende Gebäude und Einrichtungen“ fest. In östlicher Richtung folgt die Festsetzung einer Grünfläche für den Friedhof. Die sich anschließende Waldfläche wird nachrichtlich übernommen. Im südöstlichen Zipfel des Plangebietes wird der ehemalige Sportplatz als allgemeines Wohngebiet festgesetzt. Nördlich der Industriestraße wird auf einem schmalen Streifen entlang des Küstenkanals eingeschränktes Gewerbegebiet festgesetzt.

9

Der Begründung zu dem Bebauungsplan ist Folgendes zu entnehmen: Anlass der Planung sei der Erweiterungsbedarf im Industriebereich. Es bestehe ferner die Absicht, neue Wohnbauflächen im Ortsteil F. festzusetzen. Trotz der Gemengelage von industriell genutzten Flächen und Wohnsiedlungen werde an dem Industriestandort festgehalten. Der Plan räume der Beigeladenen Entwicklungsmöglichkeiten ein, um den Betrieb zu sichern und Arbeitsplätze zu erhalten. Die Gliederung der eingeschränkten Industriegebiete nach flächenbezogenen Schallleistungspegeln gewährleiste Immissionsschutz für die südlich angrenzende Nutzung, das heißt das Pfarrhaus, den Friedhof und die dahinter südlich angrenzende Wohnbebauung. Die genannten schutzbedürftigen Nutzungen seien bereits heute teilweise erheblich vorbelastet. Bei einer maximalen Ausnutzung der zugelassenen Immissionskontingente komme es nur zu einer unwesentlichen Erhöhung der Immissionsbelastung für die schutzbedürftigen Nutzungen.

10

Die Antragstellerin hat am 29. Januar 2001 Antrag auf Normenkontrolle gestellt.

11

Der Rat der Antragsgegnerin hat am 4. März 2002 beschlossen, den angegriffenen Bebauungsplan zu ändern. Der Änderungsbereich erfasst die Flächen, auf denen eingeschränkte Industriegebiete und eingeschränktes Gewerbegebiet festgesetzt sind. Zur weiteren Aufklärung der Immissionssituation hat die Antragsgegnerin 2 schalltechnische Gutachten des TÜV Nord Umweltschutz vom 9. Juli 2002 beziehungsweise 8. November 2002 eingeholt. Mit Blick auf eine für das Grundstück Industriestraße 4 von dem Sohn der Antragstellerin gestellte Bauvoranfrage, betreffend die Errichtung einer zweiten Wohneinheit, hat der Rat der Antragsgegnerin in der genannten Sitzung vom 4. März 2002 ferner beschlossen, eine Veränderungssperre für den Änderungsbereich zu erlassen.

12

Die Antragstellerin trägt zur Begründung ihrer Normenkontrolle vor: Auch wenn die Antragsgegnerin beabsichtige, ihren Bebauungsplan zu ändern, habe sie als Eigentümerin eines betroffenen Wohngrundstückes weiterhin ein Rechtsschutzinteresse hinsichtlich der Nichtigerklärung des Planes in seiner Ursprungsfassung. Der in der Aufstellung befindliche Änderungsplan verfolge das gleiche Ziel wie der Plan in seiner Ursprungsfassung. Der Bebauungsplan Nr. 88 sei nicht erforderlich. Anlass der Planung sei, die Voraussetzungen für die Erweiterung der Betriebsflächen der Beigeladenen zu schaffen. Dieses Ziel könne nicht erreicht werden, weil sie nicht bereit sei, ihr Grundstück an die Beigeladene zu veräußern. Der Bebauungsplan verstoße gegen das Abwägungsgebot. Er setze auf ihrem Grundstück Industriegebiet fest, ohne dass vorher geprüft worden sei, ob der Plan mit diesem Inhalt verwirklicht werden könne. Der Plan setze ihre Eigentumsbelange unverhältnismäßig zurück, in dem mit der Festsetzung eines Industriegebietes auf ihrem Grundstück die geplante Erweiterung der Wohnnutzung ausgeschlossen werde. Die zu erwartenden Immissionen beeinträchtigten ihre Wohnnutzung in unzulässiger Weise.

13

Die Antragstellerin beantragt,

14

den vom Rat der Antragsgegnerin am 8. März 1999 als Satzung beschlossenen Bebauungsplan Nr. 88 „Industriegebiet F.“ für nichtig,

15

hilfsweise für unwirksam zu erklären.

16

Die Antragsgegnerin beantragt,

17

den Normenkontrollantrag zurückzuweisen.

18

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

19

Sie äußert sich zu dem Normenkontrollantrag wie folgt: Mit dem Auftreten zusätzlicher Immissionen über die bisher vorhandene Vorbelastung hinaus sei wegen der Gliederung des Plangebietes mit Hilfe flächenbezogener Schallleistungspegel nicht zu rechnen. Außerdem bestehe kein „Zwang“, die festgesetzten flächenbezogenen Schallleistungspegel auch auszunutzen, soweit sie dazu führten, dass die als industriell nutzbar festgesetzten Wohnhäuser unzulässigen Immissionen ausgesetzt würden, bevor eine Wohnnutzung geendet habe.

20

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Antragsgegnerin Bezug genommen, die Gegenstand der mündlichen Verhandlung waren.

Entscheidungsgründe

21

Der Antrag ist zulässig.

22

Die Antragstellerin ist gemäß § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO antragsbefugt. Als Eigentümerin eines mit einem Wohnhaus bebauten Grundstücks, das mit der angegriffenen Satzung überplant wird, hat sie Anspruch darauf, dass ihre Belange in der gemeindlichen Abwägung berücksichtigt werden.

23

Das allgemeine Rechtsschutzbedürfnis für den vorliegenden Antrag ist gegeben. Die Antragstellerin kann mit der Nichtigerklärung des Bebauungsplanes in seiner Ursprungsfassung ihre Rechtsstellung verbessern. Der Bebauungsplan Nr. 88 in der Fassung seiner ersten Änderung befindet sich noch in der Aufstellung. Ob und gegebenenfalls wann er in Kraft tritt, ist derzeit ungewiss. Die Antragstellerin verweist ferner ohne Widerspruch der Antragsgegnerin darauf, dass der Planungsträger erwäge, an der Festsetzung der eingeschränkten Industriegebiete festzuhalten. Es ist deshalb nicht von der Hand zu weisen, dass die Beantwortung der im vorliegenden Verfahren streitigen Rechtsfragen im Änderungsverfahren Berücksichtigung finden könnte.

24

Der Antrag der Antragstellerin ist begründet. Die Planung der Antragsgegnerin verstößt gegen das Abwägungsgebot. Der Bebauungsplan ist deshalb unter Zurückweisung des weitergehenden Antrages der Antragstellerin für unwirksam zu erklären.

25

Die Antragstellerin verneint zu Unrecht die Erforderlichkeit der Planung. Die Gemeinde besitzt für die Frage der städtebaulichen Erforderlichkeit der Planung nach § 1 Abs. 3 BauGB ein weites planerisches Ermessen. Der Gesetzgeber ermächtigt sie, die „Städtebaupolitik“ zu betreiben, die ihren städtebaulichen Ordnungsvorstellungen entspricht (BVerwG, Beschl. v. 14.8.1995 – 4 NB 21.95 -, Buchholz 406.11, § 1 BauGB Nr. 86; Beschl. v. 11.5.1999 – 4 BN 15.99 -, NVwZ 1999, 1338). Das Merkmal der Erforderlichkeit stellt damit nur bei groben und einigermaßen offensichtlichen Missgriffen eine Schranke der Planungsbefugnis dar (Gaentzsch, in: Berliner Kommentar zum BauGB, Loseblattsammlung, 3. Aufl., Stand: August 2003, § 1 Rdn. 24). Ein solcher planerischer Missgriff liegt hier nicht vor.

26

Die Planung der Antragsgegnerin zielt darauf, für den Industriebetrieb der Beigeladenen Erweiterungsflächen zu schaffen. Dass die Beigeladene seit Jahren ihr Werksgelände nach Osten ausdehnen möchte, steht der Erforderlichkeit der Planung nicht entgegen. Allgemeinwohlbelange im Sinne des § 1 Abs. 5 Satz 2 Nr. 8 BauGB (Belange der Wirtschaft, Sicherung und Schaffung von Arbeitsplätzen) rechtfertigen die Planung der Antragsgegnerin. Die Aufstellung eines Bebauungsplanes mit Blick auf ein konkretes Vorhaben schließt nicht aus, dass die Gemeinde mit ihrer Planung ein der städtebaulichen Entwicklung und Ordnung dienendes Ziel verfolgt (Gaentzsch, a.a.O., § 1 Rdn. 18).

27

Mit dem Verweis darauf, dass ohne den Erwerb der zum Wohnen genutzten Grundstücke im Bereich der Festsetzungen von eingeschränkten Industriegebieten eine Erweiterung des Betriebsgrundstückes der Beigeladenen nicht möglich sei, stellt die Antragstellerin die Erforderlichkeit der Planung nicht ausreichend in Frage. Zwar ist ein Bebauungsplan, der aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht vollzogen werden kann, nicht erforderlich (BVerwG, Beschl. v. 24.10.1990 – 4 NB 29.90 -, NVwZ 1991, 1074; Beschl. v. 25.8.1997 – 4 NB 12.97 -, BRS 59 Nr. 29; Beschl. v. 11.5.1999 – 4 BN 15.99 -, a.a.O.). Hindernisse, die die Verwirklichung des Planvorhabens auf unabsehbare Zeit ausschließen, sind hier jedoch nicht ersichtlich.

28

Die Antragstellerin meint, die Antragsgegnerin hätte berücksichtigen müssen, dass der Erwerb der Wohngrundstücke in den festgesetzten Industriegebieten durch die Beigeladene zum Zeitpunkt des Satzungsbeschlusses völlig offen gewesen sei. Hierbei handelt es sich um einen Gesichtspunkt, der sich auf die Abwägung bezieht. Unter dem Blickwinkel des § 1 Abs. 3 BauGB ist lediglich zu prüfen, ob die Planung von vornherein keine Aussicht auf Verwirklichung bot. Dies ist zu verneinen. Bei richtigem Verständnis der Antragsschrift hat die Antragstellerin im Rahmen der Aufstellung des angegriffenen Bebauungsplanes nicht ausgeschlossen, ihr Grundstück (an die Beigeladene) zu veräußern. Ihr Vorbringen, sie habe vor dem Satzungsbeschluss ein Gespräch darüber, ob Verkaufsbereitschaft bestehe, vermisst, lässt eher den Schluss zu, dass bei Angebot eines aus Sicht der Antragstellerin angemessenen Kaufpreises durchaus Interesse bestanden hätte, das Wohngrundstück abzugeben.

29

Die Planung der Antragsgegnerin verletzt das Abwägungsgebot. Die Belange der Antragstellerin als Eigentümerin eines Grundstücks im Plangebiet werden nicht hinreichend in die Abwägung eingestellt. Darüber hinaus wird der durch die Festsetzung von eingeschränkten Industriegebieten hervorgerufene Immissionskonflikt nicht abwägungsgerecht gelöst. Gemäß § 1 Abs. 6 BauGB sind bei der Aufstellung der Bauleitpläne die öffentlichen und privaten Belange gegeneinander und untereinander gerecht abzuwägen. Die maßgeblichen Gesichtspunkte für die Abwägung ergeben sich aus dem Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 12. Dezember 1969 (- IV C 105.66 -, BVerwGE 34, 301, 309). Sie lassen sich wie folgt zusammenfassen: Eine sachgerechte Abwägung muss überhaupt stattfinden. In diese muss eingestellt werden, was nach Lage der Dinge in sie eingestellt werden muss. Dabei darf die Bedeutung der betroffenen privaten Belange nicht verkannt und muss der Ausgleich zwischen den von der Planung betroffenen Belangen in einer Weise vorgenommen werden, der zur objektiven Gewichtigkeit einzelner Belange im Verhältnis steht. Innerhalb des so gezogenen Rahmens wird das Abwägungsgebot nicht verletzt, wenn sich die Gemeinde in der Kollision zwischen verschiedenen Belangen für die Bevorzugung des einen und damit notwendigerweise für die Zurückstellung eines anderen entscheidet. Die Antragsgegnerin hat das Grundeigentum der Antragstellerin und damit den Schutz des Privateigentums durch Art. 14 Abs. 1 Satz 1 GG in der Abwägung nicht ordnungsgemäß berücksichtigt.

30

Zu Unrecht trägt die Antragstellerin allerdings vor, die Antragsgegnerin hätte nur im Falle ihrer Verkaufsbereitschaft ein eingeschränktes Industriegebiet auf ihrem Grundstück festsetzen dürfen. Bauleitplanung ist grundsätzlich Angebotsplanung. Durch Bebauungspläne werden die planerischen Voraussetzungen für die bauliche und sonstige Nutzung für mehrere Jahrzehnte geschaffen. Ein solches Konzept ist langfristig angelegt und setzt deshalb nicht voraus, dass die einzelnen Festsetzungen sofort umgesetzt werden können. Soweit das Oberverwaltungsgericht Münster in ständiger Rechtsprechung fordert, dass insbesondere bei „Überplanungen“ zur Lösung eines Nutzungskonflikts zwischen unvereinbaren Nutzungen die erforderlichen Veränderungen (z.B. Aussiedlung eines betroffenen Gewerbebetriebes) zumindest langfristig als realisierbar erscheinen müssen (Urt. v. 26.10.1999 – 11 aD 173/96.NE -, BRS 62 Nr. 10), muss der Senat an dieser Stelle nicht entscheiden, ob er sich der genannten Rechtsprechung für die hier gegebene Fallkonstellation anschließt. Denn der Bebauungsplan in seiner Ursprungsfassung ist aus nachstehenden Gründen unwirksam. Es bedarf deshalb keiner Vertiefung der Frage, ob die Antragsgegnerin im Rahmen der Planaufstellung die Verkaufsbereitschaft der Antragstellerin hinreichend untersucht beziehungsweise die Realisierungschancen ihrer Planung in dem gebotenen Umfang geprüft hat.

31

Fehlgewichtet hat die Antragsgegnerin das Interesse der Antragstellerin, ihr Grundstück weiter ungeschmälert zu Wohnzwecken nutzen zu dürfen. Das durch Art. 14 GG geschützte Eigentum, wozu auch das hier betroffene Grundeigentum gehört, ist bei der planerischen Abwägung in hervorgehobener Weise zu berücksichtigen, wobei insbesondere das Verhältnismäßigkeitsprinzip zu beachten ist (BVerfG, Beschl. v. 19.12.2002 - 1 BvR 1402/01 -, NVwZ 2003, 727; BVerwG, Urt. v. 6.6.2002 – 4 CN 6.01 -, NVwZ 2002, 1506). Die Planung der Antragsgegnerin berührt in erheblicher Weise Eigentümerbefugnisse. Mit der Festsetzung eingeschränktes Industriegebiet gemäß § 9 BauNVO ist die Erweiterung der Wohnnutzung auf dem Grundstück der Antragstellerin und den drei benachbarten Wohngrundstücken zukünftig ausgeschlossen. Es lässt sich den Aufstellungsvorgängen nicht entnehmen, dass die Antragsgegnerin dieses private Interesse, dass sich auch in einer Bauvoranfrage aus dem Jahr 1998 auf Errichtung einer zweiten Wohneinheit auf dem Grundstück Industriestraße 4 niedergeschlagen hat, seiner Bedeutung entsprechend in die Abwägung eingestellt hat.

32

Weder die Planbegründung noch die Stellungnahme der Antragsgegnerin zu den nicht berücksichtigten Anregungen enthalten Ausführungen zu der Schutzwürdigkeit des Wohngebäudes der Antragstellerin und der 3 anderen Wohnhäuser im östlichen Plangebiet. Die Gemeinde darf zwar durch ihre Bauleitplanung die (bauliche) Nutzbarkeit von Grundstücken verändern und dabei auch die privaten Nutzungsmöglichkeiten einschränken oder gar aufheben. Einen Planungsgrundsatz, nach dem die vorhandene Bebauung eines Gebietes nach Art und Maß auch bei einer Überplanung weiterhin zugelassen werden muss, gibt es nicht (BVerwG, Urt. v. 31.8.2000 - 4 CN 6.99 -, NVwZ 2001, 560). Die Beschränkung der Nutzungsmöglichkeiten eines Grundstückes muss allerdings nach der vorstehend zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (Beschl. v. 19.12.2002 – 1 BvR 1402/01 -, a.a.O.) von der Gemeinde als ein wichtiger Belang privater Eigentümerinteressen in der nach § 1 Abs. 6 BauGB gebotenen Abwägung der öffentlichen und privaten Belange beachtet werden (vgl. auch BVerwG, Beschl. v. 16.1.1996 - 4 NB 1.96 -, ZfBR 1996, 223). Hieran fehlt es. Da mit der Überplanung der zu Wohnzwecken genutzten Grundstücke als Industriegebiet eine massive Beschränkung der Nutzbarkeit einhergeht, hätte die Antragsgegnerin verdeutlichen müssen, warum sie dem öffentlichen Belang der Schaffung weiterer Industrieflächen den Vorrang einräumt. In der Planbegründung ist lediglich davon die Rede, Flächen für die Betriebserweiterung der Beigeladenen festzusetzen. Eine Bestandsaufnahme der bisher industriell genutzten Flächen und von Art und Umfang der vorhandenen industriellen Produktion der Beigeladenen fehlt völlig. Es ist deshalb nicht nachvollziehbar, ob und gegebenenfalls wie dringlich die Beigeladene auf Erweiterungsflächen angewiesen ist. Zudem enthält die Planbegründung keine Ausführungen dazu, weshalb die 4 mit Wohngebäuden bebauten Grundstücke den Industrieflächen zugeschlagen werden müssen, beziehungsweise es nicht ausreichend ist, nur die weiter östlich gelegenen Flächen, die die Beigeladene für eine Erweiterung vorgesehen hat, heranzuziehen. Der Hinweis in der Abwägungsempfehlung, es bestehe die Möglichkeit, einen Sozialplan aufzustellen (vgl. § 180 BauGB), entbindet die Antragsgegnerin nicht von der Pflicht, das Abwägungsgebot zu beachten. Der Sozialplan ist ohne Rechtswirkungen nach außen. Er stellt ein internes Arbeitsprogramm für die Verwaltung dar.

33

Der Plan bewältigt auch nicht hinreichend den Immissionskonflikt, der durch die Festsetzung weiträumiger Industrieflächen in Nachbarschaft zur Wohnbebauung hervorgerufen wird. Mit der Festsetzung flächenbezogener Schallleistungspegel wird der Schutzanspruch der in die Abwägung einzubeziehenden Wohnnutzungen gegen unzumutbare Geräusche durch die vorhandene Industrienutzung der Beigeladenen und die zukünftig zugelassene industrielle Nutzung auf den Erweiterungsflächen nicht gewahrt. Die Festsetzung von flächenbezogenen Schallleistungspegeln zur Gliederung von Baugebieten nach § 1 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 BauNVO unterliegt keinen grundsätzlichen Bedenken (BVerwG, Beschl. v. 18.12.1990 – 4 N 6.88 -, BRS 50 Nr. 25; Beschl. v. 7.3.1997 – 4 NB 38.96 -, BRS 59 Nr. 25); denn zu den besonderen Eigenschaften von Betrieben und Anlagen, nach denen ein Baugebiet nach der genannten Vorschrift gegliedert werden kann, gehört auch ihr Emissionsverhalten. Der flächenbezogene Schallleistungspegel steuert die von einem Flächenelement emittierte Schallleistung, indem dieser (Betriebs-)Fläche ein Kontingent an den zulässigen Gesamtimmissionen für das Schutzobjekt zugewiesen wird (BVerwG, Beschl. v. 27.1.1998 – 4 NB 3.97 -, DVBl. 1998, 891). Mit der Begrenzung der Emissionen auf bestimmte Höchstwerte lassen sich Konflikte innerhalb des Baugebietes und im Hinblick auf andere Baugebiete planerisch lösen. Voraussetzung ist allerdings eine Analyse der Lärmvorbelastung und der bei Festsetzung von flächenbezogenen Schallleistungspegeln zu erwartenden (zusätzlichen) Belastungen für die in den Blick zu nehmende Wohnnutzung. Daran fehlt es hier.

34

In die Abwägung einzustellen waren hier die Wohngrundstücke Industriestraße 4, 6, 8 und 12. Sie werden zwar als Industrieflächen überplant, genießen aber hinsichtlich ihrer Nutzung zum Wohnen Bestandsschutz. Die Antragsgegnerin hat diesen abwägungsbeachtlichen Belang nicht in die Abwägung eingestellt. Die auf Seite 14 der Planbegründung genannten Untersuchungen zum Gewerbelärm enthalten keine Aussagen zum Schutzanspruch der als eingeschränktes Industriegebiet überplanten Wohnhäuser. Das jüngste dort genannte schalltechnische Gutachten des TÜV Hannover/Sachsen-Anhalt e.V. vom 21. März 1996 ist im Rahmen der Aufstellung des westlich benachbarten Bebauungsplanes Nr. 136 „F. West“ eingeholt worden. Der östlichste dort genannte Immissionspunkt befindet sich an dem Pfarrhaus der Katholischen Kirche, also im südwestlichen Plangebiet des hier angegriffenen Bebauungsplanes. Die beiden weiter genannten Untersuchungen aus den Jahren 1991 und 1994 wurden im Rahmen von Genehmigungsverfahren, die die Beigeladene betrieben hat, erstellt. Das nachträglich von der Antragsgegnerin überreichte Gutachten in dem Genehmigungsverfahren aus dem Jahr 1991 vom 8. August 1991 enthält keine Aussagen zu der Immissionsbelastung der hier in Rede stehenden 4 Wohnhäuser. Auch das im Jahre 1985 von der Antragsgegnerin im Rahmen der Aufstellung des Bebauungsplanes eingeholte Gutachten von Prof. Dr. G. vom 24. September 1985 untersucht nicht die Lärmsituation der 4 überplanten Wohngrundstücke, sondern beschränkt sich auf Feststellungen zu weiter südlich gelegenen Immissionsorten. Hinsichtlich der von dem Betriebsgrundstück der Beigeladenen ausgehenden Vorbelastung dürfte dieses Gutachten genauso wie die Untersuchungen aus den Jahren 1991 und 1994 nicht mehr aussagekräftig sein, weil sich die Produktionsabläufe zwischenzeitlich verändert haben. Angesichts dieses Abwägungsdefizits lässt sich nicht feststellen, ob durch die Gliederung der eingeschränkten Industriegebiete mit Hilfe der flächenbezogenen Schallleistungspegel die Geräuschsituation auf dem Grundstück der Antragstellerin auch unter Berücksichtigung der schon vorhandenen industriellen Nutzung der Beigeladenen noch zumutbar ist.

35

Auch ohne nähere Untersuchungen sprechen gewichtige Anhaltspunkte dafür, dass die bislang festgesetzten flächenbezogenen Schallleistungspegel zu einer unhaltbaren Immissionsbelastung auf dem Grundstück der Antragstellerin führen. Nach dem im Rahmen der Aufstellung des Änderungsplanes eingeholten schalltechnischen Gutachten des TÜV Nord Umweltschutz vom 9. Juli 2002/8. November 2002 wird der nach der TA-Lärm bei einer angenommenen Gebietseinstufung als Kerngebiet, Dorfgebiet oder Mischgebiet auf dem Grundstück der Antragstellerin einzuhaltende Immissionsrichtwert von 60 dB(A) tags nur unterschritten, wenn für die 2 westlich angrenzenden eingeschränkten Industriegebiete, die die Immissionssituation des Grundstücks der Antragstellerin deutlich mitprägen, folgende flächenbezogene Schallleistungspegel festgesetzt werden: 58/48 dB(A) tags/nachts beziehungsweise 64/48 dB(A) tags/nachts. Die entsprechenden Wertepaare des angegriffenen Planes lauten: 64/48 dB(A) tags/nachts beziehungsweise 68/50 dB(A) tags/nachts. Diese Unterschiede von 6 dB(A) beziehungsweise 4 dB(A) bei den Tagwerten deuten darauf hin, dass die höheren Festsetzungen zu einer Überschreitung des zulässigen Immissionsrichtwertes für den Tag führen.

36

Wohnbebauung im Südwesten des Plangebietes beziehungsweise dort außerhalb des Plangebietes folgend hat die Antragsgegnerin zwar in die Abwägung eingestellt. Sie befasst sich auf Seite 18 ff. der Planbegründung mit dem Pfarrhaus, dem Friedhof, Schule und Kindergarten sowie Wohnbebauung am Kirchweg. Die darauf bezogene Abwägung ist aber ebenfalls mangelhaft. Nach den Feststellungen der Antragsgegnerin liegen die Beurteilungspegel am Tag an den genannten Standorten je nach Gebietszuordnung 3 dB(A) bis 5 dB(A) über den zulässigen Immissionsrichtwerten. Trotz dieser Vorbelastung gelangt die Antragsgegnerin zu der Einschätzung, dass eine weitere Erhöhung des Beurteilungspegels um jeweils 1 dB(A) bei Erweiterung der Industrieflächen noch hinnehmbar sei. Die Antragsgegnerin zeigt nicht auf, warum es gerechtfertigt sein könnte, diesen städtebaulichen Missstand noch zu verfestigen beziehungsweise zu verschärfen. Sie belässt es bei der auf eine unzureichende Auseinandersetzung hindeutende Wendung, mit der Festsetzung flächenbezogener Schallleistungspegel werde „der Bestandsschutz der anliegenden schutzbedürftigen Nutzungen in etwa auf dem Niveau der heutigen Vorbelastung gehalten“. Die besondere Schutzbedürftigkeit einer Wohnbebauung muss auch dann in die Abwägung eingestellt werden, wenn für diese eine tatsächliche Vorbelastung gegeben ist (BVerwG, Beschl. v. 18.12.1990 – 4 N 6.88 -, a.a.O.). Es lässt sich nicht feststellen, dass die Antragsgegnerin diesen Belang seinem Gewicht entsprechend berücksichtigt hat.

37

Soweit die vorstehend bezeichneten Mängel den Abwägungsvorgang betreffen, sind sie im Sinne des § 214 Abs. 3 Satz 2 BauGB beachtlich. Die Mängel sind offensichtlich, weil die objektiven Sachumstände, insbesondere die Aufstellungsvorgänge, die entsprechenden Vorgänge belegen. Die Mängel im Abwägungsvorgang sind auch auf das Abwägungsergebnis von Einfluss gewesen, denn nach den Umständen des Falles bestand die konkrete Möglichkeit, dass die Planung ohne die Mängel im Vorgang anders ausgefallen wäre. Darüber hinaus sind die Festsetzungen eingeschränkter Industriegebiete und die Gliederung dieser Baugebiete mit Hilfe flächenbezogener Schallleistungspegel – jedenfalls für das Grundstück der Antragstellerin – im Abwägungsergebnis fehlerhaft, weil der Ausgleich zwischen den von der Planung berührten Belangen in einer Weise vorgenommen worden ist, der zur objektiven Gewichtigkeit der Eigentümerbelange der Antragstellerin außer Verhältnis steht.

38

Die fehlerhafte Behandlung der Eigentümerbelange der Antragstellerin und der Immissionsproblematik führen nicht zur Nichtigkeit des Planes. Es handelt sich um Mängel, die gemäß § 215 a Abs. 1 BauGB in einem ergänzenden Verfahren behoben werden können (vgl. dazu BVerwG, Beschl. v. 10.11.1998 – 4 BN 45.98 -, ZfBR 1999, 106). Die festgestellten Mängel wiegen nicht so schwer, dass sie den Kern der Abwägungsentscheidung betreffen. Die Berechnungen des TÜV Nord Umweltschutz in den Gutachten vom 9. Juli 2002/8. November 2002 zeigen, dass bei Festsetzung von reduzierten flächenbezogenen Schallleistungspegeln auf dem Werksgelände der Beigeladenen und auf Flächen östlich davon die Einhaltung der maßgeblichen Immissionsrichtwerte nach der TA-Lärm möglich ist. Das im vorliegenden Antragsverfahren von der Antragstellerin erstmals deutlich artikulierte Desinteresse an einer Veräußerung ihres Wohngrundstücks senkt die Chance auf Realisierung einer Festsetzung, mit der das Grundstück der Antragstellerin als (eingeschränktes) Industriegebiet überplant wird. Falls eine solche Festsetzung im Änderungsverfahren beabsichtigt ist, wird die Antragsgegnerin diesem Belang mehr als in dem Verfahren zur Aufstellung des Bebauungsplans in seiner Ursprungsfassung Beachtung schenken müssen. Bis zur Behebung der festgestellten Mängel entfaltet der Bebauungsplan keine Rechtswirkungen (§ 215 a Abs. 1 Satz 2 BauGB).

39

Es ist nicht vertretbar, den Plan hinsichtlich des Eintritts der Unwirksamkeitsfolgen räumlich zu teilen und die Unwirksamkeit nur für den Bereich auszusprechen, der Gegenstand der Änderungsplanung ist. Wegen der Festsetzungen eines allgemeinen Wohngebietes, einer Gemeinbedarfsfläche und von Grünflächen hätte der Rat der Antragsgegnerin den Plan nicht aufgestellt.

40

Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 162 Abs. 3 VwGO. Bei einer Wertung des mit dem Normenkontrollantrag verfolgten Zieles dringt die Antragstellerin im Wesentlichen mit ihrem Anliegen durch, so dass es angemessen ist, der Antragsgegnerin die gesamten Kosten des Verfahrens aufzuerlegen. Die Beigeladene hat keinen Antrag gestellt, so dass es billigem Ermessen entspricht, ihre außergerichtlichen Kosten nicht für erstattungsfähig zu erklären.