Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen
Beschl. v. 05.12.2005, Az.: L 4 KR 157/04
Vererblichkeit des Anspruchs auf Übernahme der Kosten für häusliche Krankenpflege bezogen auf das Anziehen und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen der Klasse III; Krankenversicherungsrechtliche Anspruch auf häusliche Krankenpflege in Form der Behandlungssicherungspflege
Bibliographie
- Gericht
- LSG Niedersachsen-Bremen
- Datum
- 05.12.2005
- Aktenzeichen
- L 4 KR 157/04
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2005, 30460
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LSGNIHB:2005:1205.L4KR157.04.0A
Verfahrensgang
- vorgehend
- SG Hildesheim - 24.02.2004 - AZ: S 20 KR 187/02
Rechtsgrundlagen
- § 58 SGB I
- § 13 Abs. 3 S. 1 SGB V
Fundstelle
- PflR 2007, 29-32 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
Tenor:
Die Berufung wird zurückgewiesen.
Die Beklagte hat dem Kläger dessen außergerichtliche Kosten auch aus dem Berufungsverfahren zu erstatten.
Tatbestand
Der Rechtsstreit betrifft die Übernahme der Kosten für häusliche Krankenpflege bezogen auf das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen der Klasse III im Zeitraum vom 1. Juli 2002 bis zum 14. Mai 2003.
Der Kläger ist der Rechtsnachfolger der Versicherten D. (geboren im Juli 1932, gestorben am 15. Mai 2003, im Folgenden: Versicherte), für die von der Pflegekasse ein Hilfebedarf im Umfang der Pflegestufe I anerkannt worden war. Der Internist Dr. E. verordnete für die Versicherte mit Datum vom 24. Juni 2002 häusliche Krankenpflege für das zweimal täglich und siebenmal wöchentlich erforderliche An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen der Klasse III. Mit Bescheid vom 1. Juli 2002 teilte die Beklagte der Versicherten mit, dass sie die häusliche Krankenpflege bezogen auf das An- und Ausziehen der Kompressionstrümpfe nur noch bis zum 30. Juni 2002 übernehmen werde. Es handele sich bei dem An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe um eine Maßnahme der Grundpflege, die in den Bereich der Pflegeversicherung falle.
Mit ihrem Widerspruch vom 11. Juli 2002 machte die Versicherte geltend, dass die von der Pflegekasse übernommenen Sachleistungen bereits ohne das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe ausgeschöpft seien. Sie werde bei dieser Sachlage gegenüber Versicherten, für die keine Pflegestufe anerkannt sei benachteiligt, weil für diese die Kosten für das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe im Rahmen der häuslichen Krankenpflege übernommen würden. Die Beklagte wies den Widerspruch mit Bescheid vom 18. Oktober 2002 zurück.
Mit ihrer am 14. November 2002 erhobenen Klage hat die Versicherte ihr Begehren weiterverfolgt. Das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe sei nicht im Leistungskomplex des Pflegedienstes enthalten. Die Maßnahme stehe auch nicht in unmittelbarem Zusammenhang mit dem An- und Ausziehen der sonstigen Bekleidung. Sie sei daher von den vom Pflegedienst gestundeten Kosten freizustellen. Der Sohn der Versicherten hat als deren Erbe und Rechtsnachfolger den Rechtsstreit nach deren Tod aufgenommen und fortgeführt.
Das Sozialgericht (SG) Hildesheim hat der Klage durch Urteil vom 24. Februar 2004 stattgegeben. Zur Begründung hat es ausgeführt, dass das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe nicht zu den Maßnahmen der Grundpflege gehöre, die in § 14 Abs. 4 Nrn 1 bis 4 Sozialgesetzbuch -Elftes Buch- (SGB XI) im einzelnen benannt seien. Insbesondere sei es nicht dem Bereich der Mobilität im Sinne des § 14 Abs. 4 Nr. 3 SGB XI (An- und Auskleiden) zuzuordnen. Dies folge daraus, dass die Kompressionsstrümpfe nicht der normalen Bekleidung zuzurechnen seien und deren An- und Ausziehen nicht aus medizinischen Gründen zwingend im Zusammenhang mit dem An- und Ausziehen der normalen Bekleidung erfolgen müsse. Der Gesetzgeber habe im Gesundheitsmodernisierungsgesetz (GMG) ab dem 1. Januar 2004 zur Beseitigung von Unklarheiten inzwischen zur Klarstellung in § 37 Abs. 2 Satz 1 zweiter Halbsatz Sozialgesetzbuch -Fünftes Buch- (SGB V) sogar ausdrücklich geregelt, dass das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe auch dann vom Anspruch auf häusliche Krankenpflege umfasst werde, wenn der damit verbundene Hilfebedarf bei der Feststellung des Hilfebedarfs nach §§ 14 und 15 SGB XI zu berücksichtigen sei.
Gegen dieses ihr am 20. April 2004 zugestellte Urteil hat die Beklagte am 19. Mai 2004 Berufung eingelegt. Das SG weiche mit seiner Entscheidung sowohl von der Rechtsprechung des Bundessozialgerichtes (BSG) als auch von der Rechtsprechung des erkennenden Senates bei dem Landessozialgericht Niedersachsen-Bremen ab. Die ab dem 1. Januar 2004 eingetretene Änderung des Gesetzes in § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V entfalte keine Rückwirkung, sondern gelte erst für die Zeit danach.
Die Beklagte beantragt,
das Urteil des Sozialgerichts Hildesheim vom 24. Februar 2004 aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt,
die Berufung zurückzuweisen.
Er hält das erstinstanzliche Urteil für zutreffend und beruft sich für seinen Standpunkt auf ein Urteil des LSG Nordrhein-Westfalen vom 4. Dezember 2003 (Az: L 4 KR 139/03). Danach werde ein Leistungsanspruch nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V nur dann ausgeschlossen, wenn durch die Einbeziehung des Zeitaufwandes für das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe ein weiterer Leistungsanspruch in der Pflegeversicherung durch Erreichen einer höheren Pflegestufe ausgelöst werde.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und den Inhalt des beigezogenen Verwaltungsvorganges der Beklagten, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren, Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Der Senat konnte über die gemäß § 143 und § 144 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Sozialgerichtsgesetz (SGG) statthafte Berufung der Beklagten nach vorheriger Anhörung der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung entscheiden, weil er sie einstimmig für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich hält (§ 153 Abs. 4 SGG).
Rechtsgrundlage für das ursprüngliche Begehren der Versicherten ist - nachdem die Leistung bereits erbracht wurde - § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V in der Fassung des Gesetzes vom 19. Juni 2001 (BGBl. I 1045). Sie lautet: Konnte die Krankenkasse eine unaufschiebbare Leistung nicht rechtzeitig erbringen (Voraussetzung 1) oder hat sie die Leistung zu Unrecht abgelehnt (Voraussetzung 2) und sind dadurch Versicherten für die selbstbeschaffte Leistung Kosten entstanden, sind diese in der entstandenen Höhe zu erstatten, soweit die Leistung notwendig war.
Gegenstand des Rechtsstreits ist die Gewährung häuslicher Krankenpflege. Dabei handelt es sich grundsätzlich um einen Sachleistungsanspruch, der gemäß § 59 Satz 1 Sozialgesetzbuch -Erstes Buch- (SGB I) mit dem Tode des Berechtigten (hier: der verstorbenen Versicherten) erlischt. Allerdings werden fällige Ansprüche auf Geldleistungen nach § 58 SGB I nach den Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuches vererbt, soweit sie nicht nach den §§ 56 und 57 SGB I dem Sonderrechtsnachfolger zustehen. Ein Sonderrechtsnachfolger, der nach § 56 Abs. 1 Satz SGB I mit dem Berechtigten in einem Haushalt gelebt haben müsste, war vorliegend nicht vorhanden, denn in dem Gutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen (MDKN) vom 11. Juli 2002 hieß es, dass die Versicherte seinerzeit in ihrem Reihenhaus allein lebte. Der Kläger ist nach dem vorgelegten Erbschein des Amtsgerichts Hildesheim vom 10. Juni 2003 (Az: 10 VI 385/03) der alleinige Erbe und damit Rechtsnachfolger der Versicherten gemäß § 58 SGB I.
Der ursprüngliche Anspruch auf Sachleistung hat sich in einen fälligen Anspruch auf eine Geldleistung gewandelt. Denn der Anspruch auf Kostenerstattung für eine selbst beschaffte Sach- oder Dienstleistung ist den Geldleistungen zuzurechnen, die nach § 58 Satz 1 SGB I vererblich sind (vgl. Baier in Krauskopf, Soziale Krankenversicherung § 58 SGB I, Rdnr. 4). Der Fortführung des Rechtsstreits steht nach Auffassung des Senates nicht entgegen, dass sich die Versicherte die Sachleistung selbst beschafft, aber noch keine Kosten zu tragen gehabt hatte. Das folgt daraus, dass der die Leistung erbracht habende Pflegedienst seinen mit der Erbringung der Leistung fällig werdenden Anspruch auf Vergütung gegenüber der Versicherten und deren Rechtsnachfolger gestundet hat. Bei dieser Sachlage besteht gegenüber der Krankenkasse kein Kostenerstattungsanspruch, sondern ein Anspruch auf Freistellung von der Inanspruchnahme durch den Pflegedienst, auf den § 13 Abs. 3 Satz 1 SGB V entsprechend anzuwenden ist (vgl. BSG Urteil vom 17. März 2005, Az: B 3 KR 8/04 R, Umdruck Seite 4).
Die Beklagte hat es zu Unrecht abgelehnt, für die Versicherte häusliche Krankenpflege bezogen auf das zweimal täglich und siebenmal wöchentlich erforderlich werdende An- bzw. Ausziehen der Kompressionsstrümpfe zu gewähren. Nach § 37 Abs. 2 Satz 1 SGB V in der hier maßgeblichen ab dem 1. April 1995 und bis zum 31. Dezember 2003 geltenden Fassung des Gesetzes vom 26. Mai 1994 (BGBl. I 1014), der hier allein als Anspruchsgrundlage in Betracht kommt, erhalten Versicherte in ihrem Haushalt oder ihrer Familie als häusliche Krankenpflege Behandlungspflege, wenn sie zur Sicherung des Ziels der ärztlichen Behandlung erforderlich ist. Der krankenversicherungsrechtliche Anspruch auf häusliche Krankenpflege in Form der Behandlungssicherungspflege besteht neben dem Anspruch auf Leistungen bei häuslicher Pflege aus der sozialen Pflegeversicherung. Zur Behandlungspflege gehören alle Maßnahmen, die nur durch eine bestimmte Krankheit verursacht werden, speziell auf den Krankheitszustand des Versicherten ausgerichtet sind und dazu beitragen, die Krankheit zu heilen, ihre Verschlimmerung zu verhüten oder Krankheitsbeschwerden zu verhindern oder zu lindern, wobei diese Maßnahmen typischerweise nicht von einem Arzt, sondern von Vertretern medizinischer Hilfsberufe oder auch von Laien erbracht werden (vgl. BSG a.a.O., Umdruck Seite 5).
Das vom Hausarzt der Versicherten verordnete An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe der Klasse III zählt zu den im Rahmen der Behandlungspflege verordnungsfähigen Leistungen, wie sich aus der Nr. 31 der Anlage zu den Krankenpflege-Richtlinien ergibt. Sie ist auch medizinisch erforderlich. In der Verordnung des Dr. E. vom 24. Juni 2002 wurde angegeben, dass bei der Versicherten unter anderem ein arterieller Bluthochdruck, eine koronare Herzkrankheit, Herzrhythmusstörungen, Krampfadern beidseits und Beinödeme bei Herzinsuffizienz bestanden. Die Versicherte war auch auf Hilfe beim An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe angewiesen. Das ergibt sich aus dem bereits erwähnten Gutachten des MDKN vom 11. Juli 2002. Darin hieß es, dass eine erhebliche Schmerzbelastung der gesamten Wirbelsäule bei Bewegungen bestand und ein Hand-/Fußkontakt aus der Sitzposition nicht möglich war.
Der Anspruch der Versicherten war im maßgeblichen Zeitraum nicht nach § 37 Abs. 3 SGB V ausgeschlossen, weil sie seinerzeit in ihrem Haushalt allein lebte und die Pflege somit nicht durch eine im Haushalt lebende Person erfolgen konnte.
Der Anspruch der Versicherten auf Gewährung häuslicher Krankenpflege war auch nicht deshalb ausgeschlossen, weil die Hilfeleistung bereits von der Leistungspflicht der gesetzlichen Pflegeversicherung erfasst wurde. Das Bundessozialgericht hat für den hier maßgeblichen vor dem 1. Januar 2004 liegenden Zeitraum entschieden, dass der Anspruch auf häusliche Krankenpflege aus der gesetzlichen Krankenversicherung dann nicht ausgeschlossen ist, wenn der Versicherte zu jener Zeit nur professionelle Hilfe bei der häuslichen Krankenpflege in Anspruch genommen hat und der Zeitaufwand für diese Hilfe bei der Berechnung des Umfangs des Pflegebedarfs nach den §§ 14 und 15 SGB XI außer Ansatz geblieben ist (vgl. BSG a.a.O., Umdruck Seite 8).
So liegt es hier. Die Klägerin hat das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe durch einen Pflegedienst ausführen lassen. Dieser Hilfebedarf ist bei der Berechnung des Umfangs der Leistungen der Pflegeversicherung nicht berücksichtigt worden. Das ergibt sich aus dem Gutachten zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit der Versicherten vom 11. Juli 2002. Dort ist festgehalten, dass für das zweimal tägliche Ankleiden ein Zeitbedarf von insgesamt 12 Minuten angesetzt wurde, mithin für das einmalige Ankleiden ein Zeitbedarf von 6 Minuten. Die Hilfeleistung war im Wege der Teilhilfe oder auch im Wege der vollen Übernahme durchzuführen. Nach Ziffer 11 des Anhangs 1 der Begutachtungs-Richtlinien der Spitzenverbände der Pflegekassen in der Fassung vom 22. August 2001 ist für das Ganzkörper-Ankleiden ein Zeitbedarf von 8 bis 10 Minuten anzusetzen. Nach Nr. 11 der Ziffer 5.3 der Begutachtungs-Richtlinien zählt zum An- und Auskleiden auch das An- und Ausziehen von Kompressionsstrümpfen, wobei der Gutachter den Zeitaufwand für das An- und Ablegen der Kompressionsstrümpfe aufgrund einer eigenen Inaugenscheinnahme individuell zu messen hat. Eine derartige individuelle Messung hat nach dem Gutachten nicht stattgefunden. Unter Berücksichtigung des durchschnittlichen Zeitkorridors für das Ankleiden ist davon auszugehen, dass das Anziehen der Kompressionsstrümpfe in den Hilfebedarf nicht einbezogen wurde. Die gleichen Gesichtspunkte sind auch für das Ausziehen festzustellen. Für das Entkleiden des ganzen Körpers wird ein Zeitkorridor von 4 bis 6 Minuten angesetzt. In dem Gutachten vom 11. Juli 2002 ist für das zweimalige Entkleiden ein Zeitbedarf von 10 Minuten angegeben, für das einmalige Entkleiden mithin ein Zeitumfang von 5 Minuten. Auch insoweit ist das Entkleiden der Kompressionsstrümpfe offenkundig nicht berücksichtigt worden.
Vor diesem Hintergrund hat die Versicherte gegenüber der Beklagten einen Anspruch auf die Freistellung von der Inanspruchnahme des Pflegedienstes für das An- und Ausziehen der Kompressionsstrümpfe gehabt. Der Anspruch ist auf den Kläger übergegangen.
Die Berufung der Beklagten ist mithin unbegründet.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 193 SGG.
Es hat keine Veranlassung bestanden, die Revision zuzulassen.