Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 23.11.2005, Az.: 2 K 611/00

Voraussetzungen des Anspruchs auf Abzweigung von Differenzkindergeld

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
23.11.2005
Aktenzeichen
2 K 611/00
Entscheidungsform
Endurteil
Referenz
WKRS 2005, 35333
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2005:1123.2K611.00.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - 06.06.2006 - AZ: III B 202/05

Fundstelle

  • NWB direkt 2006, 6

Redaktioneller Leitsatz

Ein Anspruch auf Abzweigung des Differenzkindergeldes besteht nur, wenn der Kindergeldberechtigte das Geld nicht für den Unterhalt seiner Familienangehörigen verwendet hat oder seine Unterhaltspflichten verletzt hat.

Tatbestand

1

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin ab Juli 1997 Anspruch auf Abzweigung von Differenzkindergeld an sich hat.

2

Die Klägerin war mit dem Beigeladenen verheiratet und hat mit ihm zwei gemeinsame Kinder. Sie lebten mit ihren Kindern in den Niederlanden. Die Ehe wurde im Jahre 1997 geschieden, im Februar 1997 schlossen die Eheleute eine Scheidungsfolgenvereinbarung. Der Kläger zog nach Abschluss der Vereinbarung nach Deutschland. Die Klägerin ging im Streitzeitraum in den Niederlanden einer Angestelltentätigkeit nach. Der Beigeladene unterhielt in Deutschland eine Praxis für Krankengymnastik und erzielte hieraus im Jahr 1996 Einkünfte i.H.v. ca. ...DM. Laut der Vereinbarung steht ein Kindergeldanspruch der Klägerin zu. Der Beigeladene soll der Klägerin laut der Vereinbarung monatlich 625 DM je Kind zahlen, und zwar zeitlich begrenzt bis zu dem Zeitpunkt, wie die Kinder kein eigenes Einkommen haben. Außerdem sollte der Beigeladene für vier Jahre die (sog.) "oppaskosten" ("Aufpasskosten") für die Kinder übernehmen, die 600 DM betragen sollten, so dass sich insgesamt ein monatlicher Zahlbetrag von 1.850 DM (650 + 650 + 600).

3

Der Beigeladene zahlte an die Klägerin im Jahr 1999 insgesamt 19.750 DM, nämlich 10 x 1850 DM plus einmalig 1.250 DM Unterhalt.

4

Mit Datum vom 21.12.1999 stellte das niederländische Bureau V unter Berufung auf Artikel 75 Abs. 2 der VO (EWG) Nr. 1408/71 für die Klägerin einen Antrag auf Abzweigung des Unterschiedsbetrages zwischen den niederländischen und deutschen Kindergeldleistungen. Kurze Zeit später, am 29.12.1999, stellte der Beigeladene ebenfalls einen Antrag auf Zahlung des oben genannten Unterschiedsbetrages an sich und erklärte gleichzeitig, mit einer Abzweigung an die Klägerin nicht einverstanden zu sein, da er regelmäßig Unterhalt i.H.v. 1.850 DM monatlich überweise. Der Beklagte bewilligte und zahlte daraufhin dem Beigeladenen im Februar 2000 die beantragten Kindergeldleistungen und lehnte gleichzeitig den Antrag auf Abzweigung des Kindergeldes an die Klägerin mit der Begründung ab, der Beigeladene sei seiner Unterhaltspflicht in ausreichendem Umfang nachgekommen. Die von den Eheleuten geschlossene privatrechtliche Vereinbarung sei unbeachtlich. Der gegen den Ablehnungsbescheid von der Klägerin erhobene Einspruch wurde mit Entscheidung vom August 2000 als unzulässig verworfen, da die Klägerin durch den nicht an sie, sondern an das Bureau V gerichteten Bescheid vom Februar 2000 nicht beschwert gewesen sei.

5

Hiergegen richtet sich nunmehr die Klage. Die Klägerin ist der Auffassung, sie sei klage- und einspruchsbefugt. Auch in materieller Hinsicht habe sie Anspruch auf Abzweigung des Kindergeldbetrages an sich, da eine eindeutige vertragliche Vereinbarung mit dem Beigeladenen vorliege. Wenn sich der Beigeladene nicht daran halte, dass das gesamte Kindergeld - entsprechend dieser Vereinbarung - der Klägerin zufließt, verletze er seine gesetzliche Unterhaltspflicht, so dass eine Abzweigung des Kindergelddifferenzbetrages vorzunehmen sei.

6

Die Klägerin beantragt,

den Bescheid der Beklagten in der Fassung der Einspruchsentscheidung vom 17.08.2000 aufzuheben und die Beklagte zu verurteilen, an die Klägerin ab dem Monat Juli 1997 das Kindergeld i.H. des Unterschiedsbetrages zwischen dem deutschen und niederländischen Kindergeld an die Klägerin nachzuzahlen.

7

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen

8

und ist nunmehr der Auffassung, die Klage sei unbegründet. Der Klägerin stehe kein Anspruch auf Abzweigung des Kindergeldes zu, denn der Beigeladene sei seinen gesetzlichen Verpflichtungen nachgekommen. Nicht entscheidend sei, ob er auch der vertraglichen Vereinbarung zwischen ihm und der Klägerin nachgekommen sei. Denn eine Verletzung der gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung sei unabhängig davon zu beurteilen, ob eine vertragliche Vereinbarung verletzt worden sei.

9

Das Gericht hat den Kindesvater zum Verfahren beigeladen.

10

Die Beteiligten haben einer Entscheidung im schriftlichen Verfahren durch den Berichterstatter zugestimmt.

Entscheidungsgründe

11

Die Klage ist unbegründet. Die Beklagte hat zu Recht den Antrag auf Abzweigung des Kindergeldes an die Klägerin abgelehnt.

12

1.

Die Klägerin war einspruchsbefugt. Der an das Büro V adressierte Ablehnungsbescheid gerichtete Ablehnungsbescheid betraf inhaltlich die Klägerin. Demnach ist sie befugt, sich gegen diesen durch Einspruch und nunmehr durch Klage zu wenden.

13

2.

Die Klägerin hat allerdings weder nach § 74 EStG noch nach Art 75 Abs. 2 der Verordnung (EWG) 1408-71 Anspruch auf Abzweigung von Kindergeld an sich.

14

a)

Ein Anspruch aus Art 75 Abs. 2 der Verordnung (EWG) 1408-71 auf Abzweigung des Differenzkindergeldes an die Klägerin besteht nicht.

15

aa)

Die Art 73 ff. der Verordnung (EWG) 1408-71 einschließlich Art 75 Abs. 2 sind im Streitfall nicht anwendbar.

16

(1)

Für den Beigeladene als Freiberufler aus den Niederlanden in Deutschland gelten neben den Vorschriften über das Kindergeld in §§ 62 ff Einkommensteuergesetz (EStG) die europarechtlichen Regelungen über die Freizügigkeit der Arbeitnehmer und die Soziale Sicherheit für Wanderarbeitnehmer, insbesondere die EG-Verordnung vom 14. Juni 1971 zur Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und deren Familien, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO (EG) NR. 1408/71, EG-Abl. L 1971 Nr. 149 S. 1; vor dem Streitzeitraum zuletzt geändert durch VO (EG) NR. 1386/2001 vom 05.06.2001, EG-ABl. L 2001 Nr. 187 S. 1). Die Vorschriften der Art. 72 ff der VO (EG) NR. 1408/71 mit deren Kapitel 7 "Familienleistungen und -beihilfen für Arbeitnehmer und Arbeitslose" gehen als Spezialregelungen den §§ 62 ff EStG vor, weil zu den Familienleistungen auch das Kindergeld gehört. Nach Art. 73 Abs. 1 VO (EG) NR. 1408/71 hat ein Arbeitnehmer oder Selbständiger für seine Familienangehörigen, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen (hier Niederlanden), Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates (hier Deutschland), als ob die Familienangehörigen in diesem Staat wohnten. Gemäß Art. 75 Abs. 1 Buchst. a VO (EG) NR.1408/71 werden die Familienleistungen in diesen Fällen vom zuständigen Träger des Staates gewährt, dessen Rechtsvorschriften für den Arbeitnehmer bzw. Selbständigen gelten (hier Deutschland).

17

(2)

Die Abzweigungsregelung des Artikel 75 Abs. 2 der Verordnung (EWG) 1408-71 setzt indes voraus, dass der "Selbstständige" in einer Versicherung der selbständig Erwerbstätigen für den Fall des Alters Versicherungs- oder Beitragspflichtig tätig ist oder in der gesetzlichen Rentenversicherung versicherungspflichtig ist. Zu diesem Personenkreis gehört der Beigeladene als Inhaber einer Praxis für Krankengymnastik, ebenso wie Ärzte, Architekten und Rechtsanwälte nicht (vgl. auch DA 203.25 Abs. 2 der Verordnung (EWG) 1408-71). Somit findet im Streitfall § 74 EStG Anwendung (vgl. auch DA 205.2 Abs. 4 zu Art. 75).

18

(3)

Überdies lägen auch die Voraussetzungen von Art 75 Abs. 2 der Verordnung (EWG) 1408-71 nicht vor. Nach dieser Vorschrift werden auf Antrag des Trägers des Wohnorts der Familienangehörigen, des von der zuständigen Behörde ihres Wohnlands hierfür bezeichneten Trägers oder der von dieser Behörde hierfür bestimmten Stelle die Familienleistungen mit befreiender Wirkung über diesen Träger bzw. über diese Stelle an die natürliche oder juristische Person gezahlt, die tatsächlich für die Familienangehörigen sorgt, wenn die Person, der die Familienleistungen zu gewähren sind, diese nicht für den Unterhalt der Familienangehörigen verwendet. Es ist nicht ersichtlich, dass der Beigeladene das an ihn gezahlte Differenzkindergeld nicht für den Unterhalt seiner Familienangehörigen verwendet hat (siehe auch die Ausführungen unter b).

19

b)

Auch die Voraussetzungen von § 74 EStG liegen indes nicht vor. Wegen Nichtvorliegen der Voraussetzungen von Art 73 ff. der Verordnung (EWG) 1408-71 hat der Beigeladene grundsätzlich einen Kindergeldanspruch aus den §§ 62, 63 Abs. 1 Satz 3 EStG (vgl. DA 203.21 zu Art 73 der Verordnung (EWG) 1408-71). Ein Anspruch auf Abzweigung an die Klägerin nach § 74 ESG besteht allerdings nicht. Wie der Wortlaut von § 74 EStG zum Ausdruck bringt, müsste hierfür eine Verletzung der gesetzlichen und nicht einer etwaigen vertraglichen Unterhaltspflicht vorliegen. Es kommt daher nicht darauf an, ob der Ehemann gegen eine zivilrechtliche (Scheidungsfolgen-)Vereinbarung verstößt. Selbst nach dem schriftsätzlichen Vortrag der Klägerin waren aber aufgrund der Scheidungsfolgenvereinbarung "nur" 1.585 DM/ Monat Unterhalt zu zahlen. Für das Jahr 1999 wurden aber (mindestens) 19.750 DM (10 X 1.850 DM + 1250 DM), also im Monatsdurchschnitt 1.645 DM Unterhalt gezahlt. Eine Verletzung der gesetzlichen Unterhaltsverpflichtung ist damit nicht ersichtlich, zumal eine unwesentliche Pflichtverletzung nicht genügen würde (Weber-Grellet in Schmidt, Komm. zum EStG, 24. Aufl. § 74 Rn. 2 m.w.N.). Der Beigeladene hat ausweislich der Akten aber (jedenfalls im Wesentlichen) regelmäßig den geschuldeten Unterhalt bezahlt. Die Klägerin konnte - trotz richterlichen Hinweises - weder für 1999 noch die Jahre zuvor - annähernd nachweisen, dass der Beigeladene seine gesetzliche Unterhaltspflicht verletzt hat. Insoweit ist auch - mangels weiteren relevanten Vortrags - eine weitere Beweiserhebung nicht erforderlich, zumal aufgrund der Höhe der Leistungen des Beigeladenen nach Aktenlage eine wesentliche Pflichtverletzung des Beigeladenen von vornherein ausgeschlossen erscheint. Der monatliche Betrag von 600 DM, den der Beigeladene für die "oppaskosten" ("Aufpasskosten") zahlte, ist Bestandteil der Unterhaltszahlungen. Im Übrigen würde sogar selbst eine monatliche Zahlung von (nur) 1.250 DM - also die Zahlungen ohne die "oppaskosten" - nicht dazu führen, dass der Beigeladene seine gesetzliche Unterhaltsverpflichtung erheblich verletzt hätte.

20

Die Kostenfolge beruht auf § 135 FGO.