Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 09.11.2005, Az.: 2 K 477/04
Antrag auf Festsetzung von Kindergeld; Minderung der Summe der zu berücksichtigenden Einkünfte und Bezüge durch Beiträge für eine freiwillige Krankenversicherung; Differenzierung zwischen den Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung und freiwilligen Beiträgen zur Krankenversicherung; Verfassungskonforme Auslegung von § 32 Abs. 4 S. 2 des Einkommensteuergesetzes
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 09.11.2005
- Aktenzeichen
- 2 K 477/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 29271
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2005:1109.2K477.04.0A
Rechtsgrundlagen
- Art. 3 Abs. 1 GG
- § 2 Abs. 2 EStG
- § 32 Abs. 1 EStG
- § 32 Abs. 4 S. 2 EStG
- § 62 EStG
- § 63 EStG
Fundstellen
- EFG 2006, 273-274 (Volltext mit amtl. LS u. Anm.)
- GStB 2006, 4-6
- KÖSDI 2006, 15044 (Kurzinformation)
- NWB 2006, 2635 (Kurzinformation)
Redaktioneller Leitsatz
- 1.
Beiträge für eine freiwillige Krankenversicherung mindern die Summe der zu berücksichtigenden Einkünfte und Bezüge i. S. von § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG.
- 2.
Es ist nicht ersichtlich, weshalb Krankenversicherungsbeiträge von Beamten nicht ebenso abgezogen werden können wie Krankenversicherungsbeiträge von Personen, die der gesetzlichen Sozialversicherung angehören.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten darüber, ob die Klägerin Kindergeld für ihre Tochter beanspruchen kann.
Die im Haushalt der Klägerin lebende Tochter der Klägerin ging einer Teilzeitbeschäftigung beim Finanzamt nach. Gleichzeitig studierte sie Rechtswissenschaften an der Universität Z. Sie war aufgrund ihres Beamtenstatus beihilfeberechtigt und privat krankenversichert. Die Krankenversicherungsbeiträge für 2003 betrugen 2.182 EUR.
Sie erzielte durch ihre Tätigkeit beim Finanzamt Bruttoeinnahmen in Höhe von 12.736,62 EUR.
Der Beklagte lehnte den Antrag auf Festsetzung von Kindergeld ab, da die Summe der Einkünfte und Bezüge der Tochter der Klägerin den Grenzbetrag von 7.188 EUR überschreite. Hiergegen richtet sich erfolglosem Einspruch die Klage.
Die Klägerin ist der Auffassung, die Voraussetzung für eine Festsetzung von Kindergeld lägen vor. Der Grenzbetrag sei nicht überschritten. Sie berechnet die Höhe der Einkünfte ihrer Tochter mit (höchstens) 6.665 EUR (12.736./. 6.071 EUR Werbungskosten). Ihre Tochter habe Werbungskosten in Höhe von 6.071 EUR aufgewendet, die sich, so die Klägerin, wie folgt berechnen:
Kopierkosten | 102,87 EUR (unstreitig) |
---|---|
Internetkosten | 66,84 EUR (streitig) |
Literatur | 304,29 EUR (unstreitig) |
Semesterbeitrag | 289,30 EUR (unstreitig) |
Gewerkschaft | 82,80 EUR (unstreitig) |
Verpflegungsmehraufwendungen | 234 EUR (streitig) |
Fahrtkosten | 4.996 EUR (der Höhe nach streitig) |
Gesamt | 6.071 EUR |
Die angefallenen Internetkosten seien in vollem Umfang anzusetzen, da die Tochter der Klägerin den Internetanschluss ausschließlich für ihre Studienzwecke genutzt habe. Die Fahrtkosten seien im erklärten Umfang entstanden. Die Tochter sei jeweils werktags - außer dienstags zum Finanzamt gefahren, von dort zur Universität und nach Vorlesungsende zum Wohnort; alternativ sei sie zunächst zur Universität und von dort zum Finanzamt und nach Dienstschluss zum Wohnort zurück gefahren. Dienstags, samstags und an 23 Tagen im Jahr 2003 sei sie unmittelbar zur Universität gefahren, u.a. auch zur Literaturrecherche. Die Fahrtaufwendungen seien mit 0,30 EUR/gefahrenen Kilometer anzusetzen, da die Universität keine regelmäßige Arbeitsstätte darstelle. Daher seien auch die geltend gemachten Verpflegungsmehraufwendungen anzuerkennen.
Neben den genannten Werbungskosten seien zudem die Beiträge für die private Krankenversicherung i.H.v. 2.182 EUR bei der Berechnung des Grenzbetrages mindernd zu berücksichtigen.
Die Klägerin beantragt,
wie erkannt zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen
und ist weiterhin der Auffassung, die Voraussetzung zur Bewilligung von Kindergeld lägen nicht vor. Die Summe der Einkünfte und Bezüge überschreite den Grenzbetrag von 7.188 EUR. Die Summe der zu berücksichtigenden Einkünfte und Bezüge betrage 7.604 EUR (12.736,62./.5.131,84 EUR). Der Beklagte berechnet die Werbungskosten der Tochter der Klägerin wie folgt:
Kopierkosten | 102,87 EUR |
---|---|
Internetkosten | 33,42 EUR |
Literatur | 304,29 EUR |
Semesterbeitrag | 289,30 EUR |
Gewerkschaft | 82,80 EUR |
Fahrtkosten | 4.319,16 EUR |
Gesamt | 5.131,84 EUR |
Die Internetkosten seien im Schätzungswege in Höhe von lediglich 50 % anzuerkennen, da eine private Mitbenutzung des Internetanschlusses zu vermuten sei. Verpflegungsmehraufwendungen seien nicht abziehbar, weil die Universität eine regelmäßige Arbeitsstätte darstelle. Daher sei für die Fahrten dorthin auch lediglich die Entfernungspauschale, nicht aber der Pauschalsatz von 0,30 EUR/km anzusetzen.
Schließlich seien die Aufwendungen für die private Krankensversicherung nicht abziehbar. Anders als im Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.01.2005 (2 BvR 167/02) mache die Klägerin keine Pflichtbeiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung geltend. Freiwillig geleistete Krankenversicherungsbeiträge seien nämlich bei der Berechnung der Einkünfte und Bezüge i.S. v. § 32 Abs. 4 EStG nicht einkünftemindernd zu berücksichtigen.
Zu den weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird ergänzend auf die Schriftsätze der Beteiligten die Kindergeldakten sowie das Sitzungsprotokoll verwiesen.
Gründe
Die Klage ist zulässig und begründet. Der Beklagte hat die Zahlung von Kindergeld im Streitjahr zu Unrecht abgelehnt.
1.
Die zu berücksichtigenden Einkünfte und Bezüge der Tochter der Klägerin überschreiten im Streitjahr nicht den Grenzbetrag von 7.188 EUR. Nach den §§ 62, 63 EStG berechtigen Kinder i.S.v. § 32 Abs. 1 EStG zum Bezug von Kindergeld, wenn die Voraussetzungen von § 32 Abs. 3 - 5 EStG vorliegen. Nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG wurde ein Kind im Streitjahr (2003) nur berücksichtigt, wenn es Einkünfte und Bezüge, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind, von nicht mehr als 7.188 EUR hatte. Die Tochter der Klägerin erzielte indes derartige Einkünfte und Bezüge von unter 7.188 EUR. Die Beiträge für die freiwillige Krankenversicherung mindern die Summe der zur berücksichtigenden Einkünfte und Bezüge i.S.v. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG. Zusätzlich zu den vom Beklagten anerkannten Werbungskosten in Höhe von 5.131 EUR sind daher die nachgewiesenen Beiträge zur privaten Krankenversicherung in Höhe von 2.182 EUR bei der Ermittlung abzuziehen, so dass der Grenzbetrag von 7.188 EUR deutlich unterschritten wird (12.736,62 ./.5.131,84 EUR ./. 2.182 EUR= 5.423 EUR).
a)
Die Tochter der Klägerin hatte - auch nach der Berechnung der Beklagten - Werbungskosten in Höhe von (zumindest) 5.131 EUR. Es kann dabei dahinstehen, ob über die vom Beklagten anerkannten Aufwendungen hinaus Internetkosten, Fahrtkosten und Verpflegungsmehraufwendungen abziehbar sind. Da die Universität der ortsgebundene Mittelpunkt der dauerhaft angelegten Fortbildung durch das Studium an der Universität X darstellte, handelte es sich für die Klägerin allerdings jedenfalls bei den Fahrten von der Wohnung zur Universität und zurück lediglich um Fahrten zwischen Wohnung und Arbeitsstätte, für die lediglich die Entfernungspauschale anzusetzen war (vgl. BFH v. 29. April 2003, VI R 86/99, BStBl. II 2003, 749).
b)
Die Beiträge zur privaten Krankenversicherung der Tochter der Klägerin sind indes - über die Werbungskosten von 5.131 EUR hinaus - bei der Berechnung der maßgeblichen Einkünfte und Bezüge des Streitjahres abziehbar. Die Einbeziehung von privaten Krankenversicherungsbeiträgen in die Bemessungsgröße für den Jahresgrenzbetrag gemäß § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG würde unterhaltsverpflichtete Eltern von Kindern, die - wie die Tochter der Klägerin - aufgrund eines Beamtenverhältnisses nicht-sozialversicherungspflichtige Einkünfte oberhalb der Freigrenze beziehen, gegenüber unterhaltsverpflichteten Eltern, deren Kinder sozialversicherungspflichtige Einkünfte und Bezüge lediglich aufgrund des mindernden Abzugs der Pflichtbeiträge unterhalb der Freigrenze haben, benachteiligen. Die letztgenannten Eltern sozialversicherungspflichtig tätiger Kinder kommen aufgrund des Beschlusses des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2005 (2 BvR 167/02, DStR 2005, 911) in den Genuss eines Ausgleichs für ihre durch Unterhaltsverpflichtungen geminderte finanzielle Leistungsfähigkeit durch Gewährung von Kindergeld oder Kinderfreibeträgen. Dagegen versagt die Beklagte einen solcher Ausgleich in der Fallgruppe mit privater Krankenversicherung, obwohl Einkünfte in Höhe der privaten Krankenversicherungsbeiträge für den laufenden Unterhalt des Kindes de facto von vornherein nicht verfügbar sind und deshalb eine unmittelbare Erhöhung der finanziellen Leistungsfähigkeit der Eltern nicht bewirken können.
Für die Benachteiligung dieser Gruppe unterhaltspflichtiger Eltern fehlen hinreichende Gründe. Sie beruht schon nach dem Zweck der Gewährung von Kindergeld zur Förderung der Familie auf sachwidrigen Differenzierungen und verletzt deshalb den allgemeinen Gleichheitssatz des Art. 3 Abs. 1 GG. Die (bislang) dieser Auslegung entgegenstehende Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs beruhte entscheidend auf der Überlegung, dass Beiträge zur Sozialversicherung nicht berücksichtigungsfähig seien. Nach dem Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11. Januar 2005 (2 BvR 167/02, DStR 2005, 911) wurde diesem Argument nunmehr die Grundlage entzogen.
Es besteht - entgegen der Beklagtenauffassung - kein sachgerechtes Differenzierungskriterium dafür, zwischen Pflichtbeiträgen zur gesetzlichen Sozialversicherung und freiwilligen Beiträgen zur Krankenversicherung zu differenzieren. Beamte haben einen Beihilfeanspruch für grundsätzlich nur die hälftigen Krankheitsaufwendungen. Für die andere Hälfte muss eine private Krankenversicherung abgeschlossen werden, wenn dieser Anteil der Krankheitsaufwendungen versichert sein soll. Es ist aber kein Grund ersichtlich, weshalb der Krankenversicherungsbetrag von Beamten nicht - wie der Krankenversicherungsbeitrag von zur gesetzlichen Sozialversicherung zugehörige Personen - abziehen können sollten.
2.
Der Senat konnte auch durch Urteil über die Sache entscheiden. Eine Vorlage nach Art 100 GG (konkrete Normenkontrolle) ist nicht geboten, da eine verfassungskonforme Auslegung von § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG möglich ist. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ist verfassungskonform so auszulegen, dass von den Bezügen wie von den Einkünften nur diejenigen in die Bemessungsgröße des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einfließen, die zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmt oder geeignet sind. Bei der Tochter der Klägerin betragen die danach zu berücksichtigenden Einkünfte deutlich unter 7.188 EUR (Grenzbetrag in 2003), so dass der Klägerin im Streitjahr 2003 Kindergeld in voller Höhe zu gewähren ist.
Zwar ist es nicht möglich, den Begriff der Einkünfte in § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG als "zu versteuerndes Einkommen" zu interpretieren. Der Begriff der Einkünfte ist in § 2 Abs. 2 EStG klar bestimmt und deutlich vom Begriff des zu versteuernden Einkommens (vgl. § 2 Abs. 5 EStG) zu unterscheiden. Eine andere Auslegung, die von der tradierten steuerrechtlichen Terminologie abwiche, würde in Widerspruch zu Wortlaut und systematischem Zusammenhang der Norm treten und damit auch zum klar geäußerten Willen des Gesetzgebers. Zudem bietet sich eine näher liegende Alternative bei der Suche nach einem verfassungsmäßigen Ergebnis an. § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG bietet dennoch Raum für eine verfassungskonforme Auslegung im oben dargestellten Sinne. Der Relativsatz "die zur Bestreitung des Unterhalts (...) bestimmt oder geeignet sind" ist nicht nur auf Bezüge, sondern auch auf Einkünfte des Kindes zu beziehen (Jachmann in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 32, Rn. A 71; Kanzler, FamRZ 2003, S. 1886 <1887>). Diejenigen Beträge, die, wie die gesetzlichen Sozialversicherungsbeiträge, von Gesetzes wegen oder wie die Beiträge zur privaten Krankenversicherung bei Beamten, zur Herstellung einer den sozialversicherungspflichtigen Personen vergleichbaren Absicherung, dem einkünfteerzielenden Kind oder dessen Eltern nicht verfügbar sind und deshalb keine Entlastung bei den Eltern bewirken können, sondern anderen Zwecken als der Bestreitung des Unterhalts zu dienen bestimmt sind, sind nicht in die Bemessungsgröße des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG einzubeziehen.
Dieses Ergebnis steht auch im Einklang mit dem Wortlaut der Norm. Die Trennung der Begriffe Einkünfte und Bezüge durch die Konjunktion "und" statt "oder" spricht nicht dafür, dass sich der Relativsatz nur auf Bezüge beziehen muss. Die Konjunktion "und" kann ebenso - klarstellend - zum Ausdruck bringen, dass Einkünfte und Bezüge kumulativ und nicht alternativ bei der Berechnung der Bemessungsgröße zu berücksichtigen sind. Die grundsätzliche Vereinbarkeit einer solchen Auslegung mit dem Wortlaut wird durch den Umstand bestätigt, dass der Bundesfinanzhof 1958 zu einer gleich lautenden Vorschrift (§ 33a EStG a.F.) ebenfalls zu dem Ergebnis gekommen ist, dass sich der Relativsatz auf "Einkünfte" ebenso wie auf "Bezüge" beziehe (vgl. BVerfG v. 11. Januar 2005, 2 BvR 167/02, DStR 2005, 911). Die Anweisung des BMF vom 17.06.2005 (Az. St I 4 - S 2471 - 210/2005) ist insoweit rechtswidrig, jedenfalls aber lückenhaft, wie dort lediglich Beiträge zur gesetzlichen Sozialversicherung zum Abzug bei der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG zugelassen werden.
3.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 FGO Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 151 Abs. 1, 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO. Die Revision war aufgrund der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtsfrage zuzulassen.