Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 09.11.2022, Az.: 7 U 702/21

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
09.11.2022
Aktenzeichen
7 U 702/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 63267
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
LG Lüneburg - 10.06.2021 - AZ: 3 O 245/20

In dem Rechtsstreit
pp.
hat der 7. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle auf die mündliche Verhandlung vom 29. September 2022 durch den Richter am Oberlandesgericht ... als Einzelrichter für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung des Klägers gegen das Urteil der Einzelrichterin der 3. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg vom 10. Juni 2021 wird auf seine Kosten zurückgewiesen.

Das Urteil ist ebenso wie das angefochtene Urteil ohne Sicherheitsleistung vorläufig vollstreckbar.

Gründe

I.

Das Landgericht hat die Klage - im Ergebnis - zu Recht abgewiesen. Sie ist unbegründet.

1. Dem Kläger steht ein Anspruch aus § 826 BGB nicht zu.

a) Sittenwidrig im Sinne von § 826 BGB ist ein Verhalten, das nach seinem Gesamtcharakter, der durch umfassende Würdigung von Inhalt, Beweggrund und Zweck zu ermitteln ist, gegen das Anstandsgefühl aller billig und gerecht Denkenden verstößt. Ein Automobilhersteller handelt gegenüber dem Fahrzeugkäufer sittenwidrig, wenn er entsprechend seiner grundlegenden strategischen Entscheidung im eigenen Kosten- und Gewinninteresse unter bewusster Ausnutzung der Arglosigkeit der Erwerber, die die Einhaltung der gesetzlichen Vorgaben und die ordnungsgemäße Durchführung des Typgenehmigungsverfahrens als selbstverständlich voraussetzen, Fahrzeuge mit einer Motorsteuerung in Verkehr bringt, deren Software bewusst und gewollt so programmiert ist, dass die gesetzlichen Abgasgrenzwerte nur auf dem Prüfstand beachtet, im normalen Fahrbetrieb hingegen überschritten werden, und damit unmittelbar auf die arglistige Täuschung der Typgenehmigungsbehörde abzielt. Ein solches Verhalten steht einer unmittelbaren arglistigen Täuschung der Fahrzeugerwerber in der Bewertung gleich (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2021 - VII ZR 257/20, juris Rn. 20 mwN).

Bereits die objektive Sittenwidrigkeit des Herstellens und des Inverkehrbringens von Kraftfahrzeugen mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Verhältnis zum Fahrzeugerwerber setzt voraus, dass dies in Kenntnis der Abschalteinrichtung und im Bewusstsein ihrer - billigend in Kauf genommenen - Unrechtmäßigkeit geschieht (vgl. BGH, Urteil vom 25. November 2021 - VII ZR 257/20, juris Rn. 21 mwN).

b) Gemessen hieran steht die objektive Sittenwidrigkeit des Handelns der Beklagten nicht fest.

aa) Der Vortrag des Klägers bietet nicht (mehr) hinreichende Anhaltspunkte für die Annahme, in dem streitgegenständlichen Motortyp fänden unzulässige Abschalteinrichtungen Verwendung.

(1) In den sogenannten "Dieselfällen" muss der Erwerber eines möglicherweise betroffenen Fahrzeugs greifbare Anhaltspunkte anführen, auf die er den Verdacht gründet, sein Fahrzeug weise eine unzulässige Abschalteinrichtung auf. Dabei ist freilich zu beachten, dass er mangels Sachkunde und Einblick in die Produktion des von der Gegenseite hergestellten und verwendeten Motors einschließlich des Systems der Abgasrückführung oder -verminderung regelmäßig keine sichere Kenntnis von Einzeltatsachen haben kann und letztlich auf Vermutungen angewiesen ist, die er nach Lage der Verhältnisse für wahrscheinlich oder möglich hält und auf ausreichend greifbare Gesichtspunkte stützen kann, so dass etwa - wie beim Motor EA189 des Volkswagenkonzerns - der Vortrag genügen kann, der Hersteller habe öffentlich zugegeben, der Motor weise eine illegale Abschalteinrichtung auf, und das Kraftfahrtbundesamt habe eine aktuelle Überprüfung eingeleitet, weil es davon ausgehe, dass dieser Motor in das konkrete Fahrzeug eingebaut worden sei; dass das Kraftfahrtbundesamt bezüglich des konkreten Fahrzeugtyps bereits eine Rückrufaktion angeordnet hat, ist nicht erforderlich (vgl. BGH, Urteil vom 26. April 2022 - VI ZR 435/20, juris Rn. 13).

(2) An solchen greifbaren Anhaltspunkten fehlt es hier.

(a) Entgegen seiner Behauptung, die er auch im Schriftsatz vom 22. September 2022 erneut aufstellt, ist das Fahrzeug nach der Auskunft des Kraftfahrtbundesamtes vom 30. Mai 2022 nicht von einem Rückruf wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung betroffen. Nach der Auskunft des Kraftfahrtbundesamtes wurden unzulässige Abschalteinrichtung bei dem hier betroffenen Fahrzeug nicht festgestellt. Der Kläger sieht zwar richtig, dass ein Rückruf durch das Kraftfahrtbundesamt für die Annahme eines Grundmangels nicht notwendig ist. Hier liegt jedoch der umgekehrte Fall vor: Weder hat das Kraftfahrtbundesamt einen Rückruf angeordnet noch ist es schlicht untätig geblieben. Vielmehr hat es den streitgegenständlichen Motortyp wiederholt auf das Vorhandensein von unzulässigen Abschalteinrichtungen geprüft, die Motorsteuerung jedoch nicht beanstandet. Die Auskunft des Kraftfahrtbundesamtes, an dem streitgegenständlichen Fahrzeug seien keine unzulässigen Abschalteinrichtungen bemängelt worden, schließt zwar die Möglichkeit einer solchen nicht aus, begründet aber auch kein Indiz dafür. Es bedarf daher anderer Anhaltspunkte. Die von dem Kläger vorgetragenen Anhaltspunkte genügen jedoch nicht (mehr), um auf ein sittenwidriges Handeln der Beklagten schließen zu können.

(b) Die behauptete Abweichung der Messwerte im Realbetrieb von den Messwerten nach NEFZ ist als Indiz für eine Abschalteinrichtung, und noch dazu für eine Manipulationssoftware, die die Voraussetzungen des § 826 BGB erfüllen könnte, angesichts der unstreitigen gravierenden Unterschiede der Bedingungen, unter denen die Messung erfolgt, ungeeignet (vgl. BGH, Urteil vom 13. Juli 2021, VI ZR 128/20, juris Rn. 23; Beschluss vom 15. September 2021 - VII ZR 2/21, juris Rn. 30).

(2) Der Kläger legt auch nicht substantiiert dar, dass die Überprüfung des Kraftfahrtbundesamtes auf einer falschen Grundlage erfolgt oder dem Kraftfahrtbundesamt nicht bekannte (unzulässige) Abschalteinrichtungen implementiert wären und die Beklagte diese in dem Typgenehmigungsverfahren bewusst verschwiegen oder verschleiert hätte. Im Gegenteil: Wie der Kläger richtig vorgetragen hatte, hat das Kraftfahrtbundesamt hinsichtlich anderer Fahrzeugmodelle mit einem V6 3.0 TDI-Motor der Beklagten auch Nebenbestimmungen wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung erlassen; insbesondere die sog. Aufwärmstrategie wird von diesem aufgrund der engen Bedatung als Prüfstandserkennung angesehen. Solche Abschalteinrichtungen hat das Kraftfahrtbundesamt hinsichtlich des streitgegenständlichen Fahrzeugmodells aber nicht beanstandet. Es leuchtet nicht ein, und wird von dem Kläger auch nicht erklärt, warum das Kraftfahrtbundesamt die ihm bekannte unzulässige Abschalteinrichtung in dem Fall des Klägers nicht beanstanden sollte, wäre sie tatsächlich implementiert.

(3) Anderes gilt auch nicht mit Blick auf das - erstmals mit Schriftsatz vom 22. September 2022 behauptete - Thermofenster. Der Vortrag ist bereits nicht nach § 531 Abs. 2 ZPO zuzulassen. Aber selbst wenn er zu berücksichtigen wäre, erschöpft er sich in der bloßen Behauptung, es sei ein unzulässiges Thermofenster installiert. Das genügt nicht. Einer Partei ist es zwar grundsätzlich nicht verwehrt, eine tatsächliche Aufklärung auch hinsichtlich solcher Umstände zu verlangen, über die sie selbst kein zuverlässiges Wissen besitzt und auch nicht erlangen kann, die sie aber nach Lage der Verhältnisse für wahrscheinlich oder möglich hält. Sie darf von ihr nur vermutete Tatsachen insbesondere dann als Behauptung in einen Rechtsstreit einführen, wenn sie mangels entsprechender Erkenntnisquellen oder Sachkunde keine sichere Kenntnis von entscheidungserheblichen Einzeltatsachen hat (BGH, Urteil vom 18. Mai 2021 - VI ZR 401/19, NJW-RR 2021, 886 Rn. 19 mwN). Das entbindet sie aber nicht davon, eine bestimmte Behauptung aufzustellen, die - wenn sie zutrifft - den geltend gemachten Anspruch rechtfertigt. Für die Darlegung des Grundmangels folgt daraus, dass der Kläger die Umstände vortragen muss, die dem Gericht eine Subsumtion unter den Begriff der Abschalteinrichtung im Sinne von Art. 3 Nr. 10 und Art. 5 Abs. 2 Satz 1 VO (EG) Nr. 715/2007 erlauben. Daran fehlt es hier.

bb) Der Kläger benennt auch keine hinreichenden Anhaltspunkte für ein Handeln im Bewusstsein der Rechtswidrigkeit.

(1) Der Anspruch eines Fahrzeugkäufers gegen den Fahrzeughersteller aus § 826 BGB wegen Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung, die aber vom Grundsatz her im normalen Fahrbetrieb in gleicher Weise wie auf dem Prüfstand arbeitet, setzt jedenfalls voraus, dass die handelnden Personen den in der Verwendung der unzulässigen Abschalteinrichtung liegenden Gesetzesverstoß billigend in Kauf genommen haben. Fehlt es hieran, ist bereits der objektive Tatbestand der Sittenwidrigkeit nicht erfüllt. Die Darlegungs- und Beweislast für ein derartiges Vorstellungsbild der handelnden Personen trägt dabei nach den allgemeinen Grundsätzen der Fahrzeugkäufer als Anspruchsteller (vgl. BGH, Urteil vom 26. April 2022 - VI ZR 435/20, juris Rn. 18). Mangels Prüfstandsbezogenheit kann nicht schon aus der Funktionsweise der Abschalteinrichtung auf eine als sittenwidrig zu bewertende Täuschungsabsicht der Beklagten geschlossen werden (vgl. BGH, Beschluss vom 29. September 2021 - VII ZR 126/21, juris Rn. 19; Urteil vom 26. April 2022 - VI ZR 435/20, juris Rn. 18).

(2) Die erforderliche Täuschungsabsicht ist nicht dargelegt.

(a) Nach der eingeholten Auskunft des Kraftfahrtbundesamtes werden unzulässige Abschalteinrichtungen nach dessen Einschätzung nicht verwendet. Dies bindet den Senat zwar nicht, weil die Gefahr einer Betriebsuntersagung durch die für die Zulassung zum Straßenverkehr zuständige Behörde an der objektiven Rechtslage und nicht an der Bewertung der Behörde zu messen ist (vgl. BGH, Urteil vom 8. Dezember 2021 - VIII ZR 190/19, juris Rn. 82). Die rechtliche Beurteilung, ob eine Abschalteinrichtung nach dem Maßstab des Art. 5 Abs. 2 Satz 2 Buchst. a VO 715/2007/EG zulässig ist, unterliegt daher einer eigenständigen zivilgerichtlichen Prüfung ohne Bindung an eine - insoweit nicht bestehende - Tatbestandswirkung (vgl. BGH, Urteil vom 8. Dezember 2021 - VIII ZR 190/19, juris Rn. 80-82). Aber selbst bei Vorliegen eines Grundmangels (dazu BGH, Urteil vom 21. Juli 2021 - VIII ZR 357/20, juris Rn. 30 für das Kaufrecht; Urteil vom 27. Juli 2021 - VI ZR 151/20, juris Rn. 13 mwN für das Deliktsrecht), ist das Bewusstsein der Unrechtmäßigkeit nicht dargelegt, gegen dessen Vorliegen die - wenn auch, unterstellt, verfehlte - Rechtsauffassung des Kraftfahrtbundesamtes ein gewichtiges Indiz darstellt. Denn die Beklagte musste in Bezug auf die Auslegung und Befolgung des Art. 5 Abs. 2 VO (EG) Nr. 715/2007 gegenüber sich selbst nicht strenger sein, als es die zuständigen Behörden ihr gegenüber waren. Geht die Zulassungsbehörde - wie hier - auch nach intensiven Untersuchungen von der Zulässigkeit der vorhandenen Abschalteinrichtungen aus, spricht dies gegen ein Handeln im Bewusstsein der Rechtswidrigkeit.

(b) Der Bewertung des Kraftfahrtbundesamtes könnte zwar dann kein maßgebliches Gewicht beigemessen werden, wenn der Kläger substantiiert darlegte, dass die Überprüfung des Kraftfahrtbundesamtes auf einer falschen Grundlage erfolgt oder dem Kraftfahrtbundesamt nicht bekannte (unzulässige) Abschalteinrichtungen implementiert wären und die Beklagte diese in dem Typgenehmigungsverfahren bewusst verschwiegen oder - etwa durch eine Prüfstandserkennung - verschleiert hätte. Daran fehlt es jedoch. Im Gegenteil sprechen die unstreitigen Beanstandungen hinsichtlich anderer Fahrzeugtypen mit 3 l-Dieselmotor der Beklagten dagegen.

(3) Auch die Gesamtschau der unstreitigen sowie der von dem Kläger vorgetragenen Umstände reicht nicht aus, um auf das Bewusstsein der Rechtswidrigkeit der für die Beklagten verantwortlichen Personen schließen zu können oder auch nur eine sekundäre Darlegungslast der Beklagten zu ihren internen Entscheidungsvorgängen auszulösen. Zwar bietet die Verwendung des - unterstellt - unzulässigen Thermofensters zusammen mit der Abweichung der Abgaswerte zwischen Prüfstand und Realbetrieb einen gewissen Anhalt. Das Thermofenster arbeitet im Prüfstand und außerhalb jedoch gleichermaßen. Ausschlaggebende Bedeutung kommt daher der Bewertung durch das Kraftfahrtbundesamt zu, das auch nach Untersuchung über mehrere Jahre hinweg die Abschalteinrichtungen nicht einmal als unzulässig einstuft, zumal es hinsichtlich anderer Fahrzeugmodelle mit einem 3 l-Motor der Beklagten Nebenbestimmungen wegen der Verwendung einer unzulässigen Abschalteinrichtung erlassen hat.

2. Schadensersatzsprüche im Zusammenhang mit dem streitgegenständlichen Fahrzeugerwerb auf anderer Grundlage als § 826 BGB kommen nicht in Betracht.

a) Insbesondere haftet die Beklagte mangels Täuschung und Stoffgleichheit nicht nach § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 263 StGB (vgl. BGH, Urteil vom 26. April 2022 - VI ZR 435/20, juris Rn. 25 mwN).

b) Auch eine Haftung der Beklagten aus § 823 Abs. 2 BGB i.V.m. § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV bzw. in Verbindung mit Art. 5 Abs. 1 der Verordnung (EG) 715/2007 scheidet aus, weil die vorgenannten Bestimmungen der EG-FGV nicht den Schutz der allgemeinen Handlungsfreiheit und speziell des wirtschaftlichen Selbstbestimmungsrechts der einzelnen Käufer bezwecken und damit nicht dessen Interesse dienen (vgl. BGH, Urteil vom 30. Juli 2020 - VI ZR 5/20, juris Rn. 11; Beschluss vom 12. Januar 2022 - VII ZR 345/21, juris Rn. 3). Der Anspruch scheidet auch deshalb aus, weil - wie oben ausgeführt - bereits keine greifbaren Anhaltspunkte für die Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen bestehen.

3. Da die Beklagte aus keinem rechtlichen Gesichtspunkt dem Kläger zum Schadensersatz verpflichtet ist, erweisen sich auch die weiteren Anträge als unbegründet.

II.

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 97, 708 Nr. 10, § 713 ZPO. Gründe, die Revision zuzulassen, sind nicht ersichtlich. Die vor dem Europäischen Gerichtshof in der Rechtssache C-100/21 aufgeworfenen Fragen sind hier nicht entscheidungserheblich.