Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 20.11.2012, Az.: 6 A 3964/12

Oberschule; Schulbezirk; Schülerbeförderung; Ausweichen; Wahlrecht

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
20.11.2012
Aktenzeichen
6 A 3964/12
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 44492
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

§ 114 Abs. 3 Satz 3 NSchG knüpft an den tatsächlichen Besuch einer bestimmten Schule bei Bestehen einer in § 63 Abs. 4 NSchG verankerten Wahlmöglichkeit an und beschreibt damit einen objektiven Tatbestand. Er findet daher auch auf Schülerinnen und Schüler Anwendung, die den Besuch eines Gymnasiums gewählt haben, bevor es für ihren Wohnort eine Oberschule mit entsprechendem Schulbezirk gab.

Tatbestand:

Die Klägerin wohnt gemeinsam mit ihrer Tochter H. in C. - K.. Ihre Tochter wurde zu Beginn des Schuljahres 2010/2011 in die 5. Klasse des Gymnasiums R. in Hildesheim eingeschult.

Für das Schuljahr 2010/2011 erstattete der Beklagte der Klägerin Aufwendungen für die Schülerbeförderung ihrer Tochter in Höhe des Betrages, der bei einem Besuch des Gymnasiums in Sarstedt angefallen wäre.

Mit Beginn des Schuljahres 2011/2012 wurde in Sarstedt die Schiller-Oberschule errichtet. Die Wohnung der Klägerin liegt seit dem 08.08.2011 in deren Schulbezirk. Der Beklagte erstattete der Klägerin auch für den Zeitraum von August 2011 bis April 2012 Aufwendungen für die Schülerbeförderung nur in der Höhe, wie sie beim Besuch des Gymnasiums in Sarstedt angefallen wären. Der überschießende Betrag von 77,60 € wurde nicht erstattet.

Zur Begründung führte der Beklagte in dem im Entwurf auf den 06.06.2012 datierten Bescheid aus, ein Beförderungs- bzw. Erstattungsanspruch bestünde nur für den Weg zur nächstgelegenen Schule der gewählten Schulform, jedoch innerhalb der gewählten Schulform zur nächsten Schule, die den von der Schülerin bzw. dem Schüler verfolgten Bildungsgang anbiete. Das zur Wohnung nächstgelegene Gymnasium befände sich in Sarstedt. Auf diese Schule sei abzustellen. Die Klägerin könne sich nicht auf § 63 Abs. 4 Ziffer 4 NSchG n.F. berufen. Die Ausweichmöglichkeit hinsichtlich einer Oberschule sei erst zum Schuljahr 2011/2012 in das Gesetz aufgenommen worden. Die Tochter der Klägerin sei jedoch schon vorher von der Grundschule zum Gymnasium R. gewechselt.

Daraufhin hat die Klägerin Klage erhoben. Zur Begründung führt sie aus:

Sie habe einen Anspruch auf Erstattung der Aufwendungen in voller Höhe. Es sei nicht auf das Gymnasium Sarstedt sondern auf das Gymnasium R. abzustellen. Dies folge aus § 114 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 63 Abs. 4 Nr. 4 NSchG. Seit Beginn des Schuljahres 2011/2012 wohne sie im Schulbezirk einer Oberschule. Auf den Zeitpunkt der Schulwahl käme es nicht an, zumal eine Entscheidung für die Schulform jeweils wieder zu Beginn eines neuen Schuljahres erneut getroffen werde.

Die Klägerin beantragt,

den Beklagten zu verpflichten, der Klägerin über die geleistete Erstattung hinaus weitere Aufwendungen für die Beförderung ihrer Tochter H. I. zum Gymnasium R. in Hildesheim im Schuljahr 2011/2012 in Höhe von 77,60 Euro zu erstatten und den undatierten, in seinem Entwurf mit dem Datum des 6. Juni 2012 versehenen Bescheid des Beklagten aufzuheben, soweit er der Verpflichtung des Beklagten entgegensteht.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen

Der Beklagte hält an seiner Auffassung fest. Zwar wohne die Tochter der Klägerin seit Beginn des Schuljahres 2011/2012 im Schulbezirk einer Oberschule. Dies sei aber zu dem Zeitpunkt des Wechsels der Tochter der Klägerin auf das Gymnasium R. noch nicht der Fall gewesen. § 63 Abs. 4 Nr. 4 NSchG n.F. sei daher nicht einschlägig, da die Tochter der Klägerin bei der Entscheidung auf das Gymnasium R. zu wechseln nicht von dem in § 63 Abs. 4 NSchG eröffneten Wahlrecht Gebrauch gemacht habe.

Wegen des Sachverhalts im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet. Die Klägerin hat gegen den Beklagten einen Anspruch auf Erstattung weiterer Aufwendungen für die Schülerbeförderung in Höhe von 77,60 €.

Rechtsgrundlage für den geltend gemachten Anspruch ist § 114 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 NSchG. Danach hat der Beklagte als Träger der Schülerbeförderung die in ihrem Gebiet wohnenden Schülerinnen und Schüler der ersten bis 10. Schuljahrgänge der allgemeinbildenden Schulen unter zumutbaren Bedingungen zur Schule zu befördern oder ihnen oder ihren Erziehungsberechtigten die notwendigen Aufwendungen für den Schulweg zu erstatten. Allerdings besteht die Beförderungs- oder Erstattungspflicht des Beklagten nicht uneingeschränkt. Sie ist nach § 114 Abs. 2 NSchG von dem Erreichen einer Mindestentfernung zwischen Wohnung und Schule abhängig, die vom Träger der Schülerbeförderung unter Berücksichtigung der Belastbarkeit der Schülerrinnen und Schüler und der Sicherheit des Schulweges festgelegt wird. Weiterhin besteht die Beförderung- oder Erstattungspflicht nach § 114 Abs. 3 Satz 1 NSchG nur für den Weg zur nächsten Schule der von der Schülerin oder dem Schüler gewählten Schulform, jedoch innerhalb der gewählten Schulform zur nächsten Schule, die den von der Schülerin oder dem Schüler verfolgten Bildungsgang anbietet.

Die in § 2 der Satzung des Beklagten über die Schülerbeförderung im Landkreis Hildesheim (vom 03.04.2008; ABl. LK Hildesheim 2008 S. 300 - Beförderungssatzung -) auf zwei Kilometer festgelegte Mindestentfernung wird im Fall der Tochter der Klägerin überschritten. Dabei ist gem. § 114 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. § 63 Abs. 4 Nr. 4 NSchG n.F. ab dem 08.08.2011 auf die Entfernung von der Wohnung der Klägerin zum Gymnasium R. in Hildesheim abzustellen. Denn nach § 114 Abs. 3 Satz 3 NSchG gilt eine Schule, die von einer Schülerin oder einem Schüler gemäß § 63 Abs. 4 NSchG besucht wird, als nächste Schule. Nach § 63 Abs. 4 Nr. 4 NSchG können Schülerinnen und Schüler, die ihren Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Schulbezirk einer Oberschule haben, eine Hauptschule, eine Realschule oder ein Gymnasium desselben oder eines anderen Schulträgers besuchen.

Die Tochter der Klägerin erfüllt die Voraussetzungen des § 63 Abs. 4 Nr. 4 NSchG. Ihr Wohnsitz liegt seit dem 08.08.2011 im Schulbezirk der in der Trägerschaft des Beklagten stehenden Schiller-Oberschule. Somit ist die Schülerin seit diesem Zeitpunkt aufgrund der Wahlmöglichkeit nach § 63 Abs. 4 Nr. 4 NSchG berechtigt, ein Gymnasium desselben oder eines anderen Schulträgers zu besuchen. Diese Schule, hier das Gymnasium R. in Hildesheim, gilt daher nach dem eindeutigen Wortlaut des § 114 Abs. 3 Satz 3 NSchG als nächste Schule.

§ 114 Abs. 3 Satz 3 NSchG kann nicht dahingehend ausgelegt werden, dass die von § 63 Abs. 4 Nr. 4 NSchG betroffenen Schülerinnen und Schüler zwar eine andere Schule als die Oberschule besuchen dürfen, bei der Frage der Schülerbeförderung jedoch einschränkend § 114 Abs. 3 Satz 1 NSchG mit der Folge zu berücksichtigen wäre, das tatsächlich auf die nächstgelegene Schule derselben Schulform, die denselben Bildungsgang anbietet, abzustellen ist. Der Wortlaut des Gesetzes gibt dafür nichts her. Hätte der Gesetzgeber diese Beschränkung gewollt, hätte er in § 114 Abs. 3 Satz 3 NSchG den Fall des § 63 Abs. 4 NSchG nicht aufzählen müssen. Dann hätten die betroffenen Schüler nach § 63 Abs. 4 NSchG das Wahlrecht gehabt, eine Schule der "klassischen" Schulform besuchen zu dürfen, gleichwohl wäre innerhalb der gewählten Schulform (hier Gymnasium) § 114 Abs. 3 Satz 1 NSchG zu beachten. Durch die Aufnahme des § 63 Abs. 4 NSchG in den Ausnahmekatalog des § 114 Abs. 3 Satz 3 NSchG wird daher die schülerbeförderungsrechtliche Stellung der betroffenen Schüler erweitert. Dies ist vor dem Hintergrund zu sehen, dass diese Schülerinnen und Schüler, wenn sie von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen, bestimmte Nachteile in Kauf nehmen müssen. So haben sie keinen gesetzlich geregelten Anspruch auf Aufnahme in eine bestimmte Schule. Vielmehr müssen sie sich selbst eine aufnahmefähige Schule der gewünschten Schulform suchen (vgl. Urteil der Kammer vom 26.03.2009 - 6 A 2098/08 - JURIS). Der insoweit uneingeschränkte Wortlaut des Satzes 3 von § 114 Abs. 3 NSchG entspricht der Gesetzessystematik des § 114 NSchG (Urteil der Kammer vom 15.02.2011 - 6 A 3553/10 -; JURIS). Eine davon abweichende Absicht des Gesetzgebers, die Beförderungs- und Erstattungspflicht auch in den Fällen des Satzes 3 auf den Weg zur nächstgelegenen Schule der gewählten Schulform mit demselben Bildungsgang zu beschränken, lässt sich den Gesetzgebungsmaterialien zum NSchG nicht entnehmen (Nds. Oberverwaltungsgericht, Urteil vom 07.03.2012 - 2 LB 227/11 - JURIS; Urteil der Kammer vom 15.02.2011, a.a.O.).

Schließlich kann § 114 Abs. 3 Satz 3 NSchG auch nicht dahingehend einschränkend ausgelegt werden, dass davon nur die Fälle erfasst sind, in denen die vom Gesetz eröffnete Möglichkeit des Ausweichens einer Oberschule mit Schulbezirk bereits im Zeitpunkt des (erstmaligen) Schulwechsels gegeben war. Auch hierfür gibt der Wortlaut des Gesetzes nichts her. Hätte der Gesetzgeber diese Beschränkung gewollt, hätte er aus Anlass der Änderungen und Ergänzungen des § 63 Abs. 4 NSchG eine entsprechende Regelung in § 114 Abs. 3 Satz 3 NSchG aufnehmen können bzw. aus Anlass der Möglichkeit, künftig Oberschulen errichten zu können, eine Übergangsvorschrift erlassen können. Beides hat der Gesetzgeber nicht getan. Nach dem Wortlaut des § 63 Abs. 4 NSchG kommt es nur darauf an, dass Schülerinnen oder Schüler ihren Wohnsitz oder ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Schulbezirk einer der dort genannten Schulen haben und somit Ihnen die rechtliche Möglichkeit eröffnet ist, aus diesem Grund eine andere Schulen zu wählen. Insoweit sind auch die Ausführungen der Kammer in ihrem Urteil vom 15. Februar 2011 (a.a.O.) nicht missverständlich, denn die Kammer hat auch in jener Entscheidung darauf hingewiesen, dass das NSchG in § 114 Abs. 3 Satz 3 sprachlich eindeutig an den tatsächlichen Besuch einer bestimmten Schule in Ausübung der in § 63 Abs. 4 verankerten Wahlmöglichkeit anknüpft. § 114 Abs. 3 Satz 3 NSchG beschreibt insoweit - auch aus Gründen der Verwaltungspraktikabilität - einen objektiven Tatbestand, der nicht von subjektiven Entscheidungen und Motiven der Erziehungsberechtigten der Schülerinnen und Schüler abhängig ist. Maßgeblich ist daher nur, dass die Rechtstatsache der Wahlmöglichkeit vorliegt, nicht ob im Einzelfall eine bewusste Wahl nach § 63 Abs. 4 NSchG getroffen worden ist, wann dies der Fall war und ob die Wahlentscheidung mit jeder theoretischen Möglichkeit eines Schulwechsels zum Schuljahresende konkludent wiederholt wird.

Die konkrete Ausgestaltung des Rechtsanspruchs auf Schülerbeförderung oder Kostenerstattung richtet sich nach § 1 Abs. 8 der Beförderungssatzung des Beklagten. Danach besteht ein Anspruch auf Erstattung der Beförderungsaufwendungen, wenn der Beklagte - wie im vorliegenden Fall - keine eigenen Beförderungsleistungen stellt oder Beförderungsleistungen im öffentlichen Personennahverkehr vermittelt. Von diesem Wahlrecht hat der Beklagte im Fall der Tochter der Klägerin in der Weise Gebrauch gemacht, dass er sich für eine Kostenerstattung entschieden hat.