Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 20.11.2012, Az.: 6 A 3160/11

Bildungsgang; Montessori-Grundschule; Schülerbeförderung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
20.11.2012
Aktenzeichen
6 A 3160/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 44493
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Das Prädikat "Montessori-Grundschule" beschreibt noch nicht zwangsläufig einen besonderen Bildungsgang. In fachlicher Hinsicht kann erst dann von einem anderen "Gang der Bildung" die Rede sein, wenn sich die mit der Montessori-Pädagogik vermittelten Inhalte des jahrgangsbezogenen Unterrichts wesentlich von den schulforrmbezogenen Vorgaben für das öffentliche Schulwesen unterscheiden (wie Urteil der Kammer vom 19.07.2011 - 6 A 5521/10 - JURIS, zum bilingualen Grundschulunterricht).

Tenor:

Der Bescheid der Beklagten vom 23.02.2011 wird aufgehoben.

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Aufwendungen für die Beförderung ihrer Kinder H. I. und J. I. im Schuljahr 2010/2011 zur Grundschule des M-Bildungshaus P. e. V. in Höhe von 1.030,75 Euro zu erstatten.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung der Kläger durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags geleistet haben.

Tatbestand:

Die in D. wohnenden Kläger begehren den Ersatz von Kosten für die Beförderung ihrer Kinder H. und J. zur 15,87 km entfernten Montessori-Schule, einer Grundschule in freier Trägerschaft in P..

Die Bezirksregierung Hannover erkannte mit Bescheid vom 13.02.2004 das besondere pädagogische Interesse an der sich in Planung befindlichen Montessori-Schule (Grundschule) an und wies dabei darauf hin, dass die Zeugnisse der Grundschule nicht die Auswirkungen wie die Zeugnisse an öffentlichen Schulen hätten. Über die Aufnahme in eine weiterführende Schule würde diese jeweils in eigener Zuständigkeit entscheiden. Mit weiterem Bescheid der Bezirksregierung Hannover vom 04.06.2004 erhielt der Träger der Montessori-Schule die Genehmigung gemäß § 143 NSchG zur Errichtung und zum Betrieb einer Grundschule mit besonderer pädagogischer Bedeutung, beginnend mit zwei Kombi-Klassen (Jahrgänge 1/2 und 3/4) als Ersatzschule. Nachdem der Schulträger darauf hingewiesen hatte, dass eine Altersmischung nicht auf diese beiden Jahrgänge beschränkt sein solle, wurde die Genehmigung mit Bescheid vom 07.07.2006 modifiziert und die Montessori-Schule als "Grundschule von besonderer pädagogischer Bedeutung mit altersgemischten Klassen von Jahrgang 1 - 4 als Ersatzschule in freier Trägerschaft" genehmigt.

Am 06.07.2010 erteilte die Landesschulbehörde dem Träger der Montessori-Schule eine auf zwei Jahre befristete Genehmigung zur Errichtung und zum Betrieb einer Gesamtschule vom 5. bis 10. Jahrgang in P.. Die Befristung könne aufgehoben werden, wenn weitere Unterrichts- und Fachräume sowie höhere Schülerzahlen nachgewiesen werden. Grundlage der Genehmigung war ein Schulkonzept welches einen schulformübergreifenden Unterricht in altersgemischten Lerngruppen vorsieht (u.a. in den Jahrgängen 1 bis 3 und 4 bis 6). Die Landesschulbehörde setzte zugleich fest, dass die Bezeichnung der Schule künftig wie folgt lautet:

M-Bildungshaus P.
Grundschule mit besonderer pädagogischer Bedeutung
Gesamtschule
Ersatzschule in freier Trägerschaft

Mit Schreiben vom 24.11.2010 beantragten die Kläger bei der Beklagten, die Erstattung der Schülerbeförderungskosten für ihre Kinder H. und J. zur Montessori-Schule in P.. Der Transport erfolge durch einen privaten PKW.

Die Beklagte lehnte die Erstattung mit Bescheid vom 23.02.2011 ab. Zur Begründung führte sie aus, die nächste Schule i.S.v. § 114 Abs. 3 NSchG sei die (öffentliche) Grundschule L., in deren Schulbezirk die Kläger wohnten. Da der Schulweg zu dieser Schule jedoch kürzer als die in der Schülerbeförderungs-Satzung der Beklagten festgeschriebene Schulwegmindestentfernung von 2 km sei, hätten die Kläger keinen Anspruch auf Erstattung der Beförderungskosten. Die Montessori-Grundschule biete im Verhältnis zur Grundschule L. keinen besonderen Bildungsgang an. Zudem sei nicht erkennbar, dass die Kinder der Kläger im M-Bildungshaus P. einen Abschluss werden machen können, da die Genehmigung befristet erteilt worden sei.

Mit ihrer am 22.03.2011 erhobenen Klage verfolgen die Kläger ihr Begehren weiter. Zur Begründung tragen sie unter Hinweis auf das Urteil des Verwaltungsgerichts Göttingen vom 07.10.2010 (4 A 144/08) vor, die Beklagte verkenne, dass die Grundschule L. nicht dieselbe Schulform wie die Montessori-Schule darstelle, jedenfalls aber nicht denselben Bildungsgang anbiete. J. habe die Schule im Schuljahr 2010/2011 an 197 Tagen besucht, H. an 195 Tagen.

Nach Klageerhebung hat die Nds. Landesschulbehörde mit Bescheid vom 07.12.2011 die im Bescheid vom 06.07.2012 enthaltene Befristung aufgehoben.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 23. Fe-bruar 2011 zu verpflichten, den Klägern Schülerbeförderungskosten für den Besuch der Montessori-Schule ihrer Kinder H. und J. in P. im Schuljahr 2010/2011 in Höhe von 1.030,75 Euro zu erstatten.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte tritt dem Vorbringen entgegen und ist der Auffassung, dass die Montessori-Schule im Verhältnis zur Grundschule L. keinen eigenen Bildungsgang anbiete.

Wegen des weiteren Vorbringens der Beteiligten und des Sachverhalts im Übrigen wird auf die Gerichtsakte, den Verwaltungsvorgang der Beklagten und die beigezogen Genehmigungsakten der Nds. Landesschulbehörde Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist begründet. Die Kläger haben gegen die Beklagte einen Anspruch auf Erstattung der Schülerbeförderungskosten für das Schuljahr 2010/2011 in Höhe von 1.030,75 €.

Rechtsgrundlage für den Anspruch der Kläger ist § 114 Abs. 1 und Abs. 3 NSchG. Nach § 114 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 NSchG hat der Träger der Schülerbeförderung - hier die Beklagte - Schüler der 1. bis 10. Schuljahrgänge der allgemein bildenden Schulen unter zumutbaren Bedingungen zur Schule zu befördern oder ihnen oder ihren Erziehungsberechtigten die notwendigen Aufwendungen für den Schulweg zu erstatten. Nach § 114 Abs. 3 Satz 1 NSchG besteht die Beförderungs- oder Erstattungspflicht der Beklagten jedoch nur für den Weg zur nächsten Schule der von der Schülerin gewählten Schulform und innerhalb der gewählten Schulform zur nächsten Schule, die den von der Schülerin verfolgten Bildungsgang anbietet. Diese Bestimmungen des § 114 NSchG sind gemäß § 141 Abs. 3 NSchG auf Ersatzschulen anzuwenden.

Die Beklagte ist danach verpflichtet, den Klägern die im Schuljahr 2010/2011 entstandenen notwendigen Aufwendungen für die Schülerbeförderung zu erstatten. Die Grundschule M-Bildungshaus in P. ist die nächstgelegene Schule der von den Klägern gewählten Schulform „Grundschule“, die den von ihnen für ihre Kinder mit der Wahl dieser Schule verfolgten Bildungsgang anbietet. Sie bietet einen anderen Bildungsgang an als die Grundschule L..

Der Begriff „Bildungsgang“ i.S.v. §§ 114, 59 Abs. 1 NSchG ist gesetzlich nicht definiert. Nach der Rechtsprechung ist unter einem „Bildungsgang“ die besondere fachliche Schwerpunktbildung in einem schulischen Angebot zu verstehen, die sich im Allgemeinen zugleich in einer besonderen Gestaltung des Abschlusses auswirkt (Nds. OVG, Urteile vom 30.11.1983 - 13 A 56/83 -, NVwZ 1984, 812; vom 20.12.1995 - 13 L 7975/94 - NdsVBl. 1996, 242). Neben der besonderen fachlichen können auch die methodische, didaktische oder pädagogische Schwerpunktbildung den Inhalt des schulischen Angebots besonders gestalten, so dass darin ein eigenständiger Bildungsgang angesehen werden kann, der sich im Allgemeinen - aber nicht immer - zugleich in einer besonderen Gestaltung des Abschlusses auswirkt (Nds. OVG, Urteil vom 24.05.2007 - 2 LC 9/07 -, NdsVBl. 2007, 336). Dieses Begriffsverständnis liegt auch der gefestigten Rechtsprechung der Kammer (Urteil vom 19.07.2011, 6 A 5521/10) zugrunde und zwar mit der Maßgabe, dass entscheidend auf die besondere fachliche Schwerpunktbildung abgestellt wird. Es kommt daher weder darauf an, welche Bezeichnung sich eine Schule gibt, noch nach welcher Richtung der Pädagogik sie ihre Unterrichts- und Erziehungsarbeit gestaltet. Das bedeutet, dass allein das Prädikat „Montessori-Schule“ noch nicht zwangsläufig einen besonderen Bildungsgang beschreibt. Ein (besonderer) Bildungsgang liegt vielmehr vor, wenn innerhalb der Schulform Grundschule besondere durch organisatorische Regelungen abgesicherte Bildungsinhalte angeboten werden, so dass aus fachlicher Sicht die Rede von einer „Unterform“ sein kann. Für die zum Vergleich heranzuziehenden öffentlichen Grundschulen findet sich die organisatorische Absicherung der Bildungsinhalte allgemein in der Beschreibung der für die Schulform gesetzlich festgelegten Bildungsziele und im Besonderen in den betreffenden Schulformerlassen sowie den schulformbezogenen (verordnungs-) ergänzenden Bestimmungen und curricularen Vorgaben (Urteil der Kammer vom 19.07.2011 - 6 A 5521/10 - JURIS, zum bilingualen Grundschulunterricht).

Danach bietet die Grundschule des M-Bildungshaus P. e. V. (im Verhältnis zur Grundschule L.) einen eigenständigen Bildungsgang an.

Der Lehrplan der Montessori-Grundschule weicht nach dem Schulkonzept, welches Grundlage für die Genehmigungsentscheidungen der Schulbehörde war, inhaltlich erheblich von den curricularen Vorgaben für die öffentlichen Grundschulen ab. Dies hat unter anderem auch seinen Niederschlag in dem Bescheid der Bezirksregierung Hannover vom 13.02.2004 gefunden, in dem ausdrücklich festgestellt wird, dass die Zeugnisse der Montessori-Grundschule P. nicht die rechtlichen Auswirkungen wie die Zeugnisse an öffentlichen Schulen hätten.

Diese erheblichen Abweichungen sind tatsächlich organisatorisch in der Montessori-Grundschule P. umgesetzt worden. Die Schüler der Grundschule werden abweichend vom System an öffentlichen Grundschulen nicht nach Jahrgängen sondern in jahrgangs- und schulformübergreifenden Lerngruppen unterrichtet. Die Konzeption der Montessori-Grundschule in P. sieht in Verbindung mit der Montessori-Gesamtschule des gleichen Schulträgers in P. drei Lerngruppen vor: die Grundstufe (Jahrgänge 1 bis 3), die Mittelstufe (Jahrgänge 4 bis 6) und die Oberstufe.

Das bedeutet für den „Gang der Bildung“ der Kinder der Kläger, dass auf ihren Unterricht weder die Vorgaben der Stundentafeln für die Grundschule (Abschnitt 4 des RdErl. des Nds. Kultusministeriums vom 03.02.2004, SVBl. S. 85) noch die Inhalte der auf die Grundschulfächer betreffenden Kerncurricula Anwendung finden müssen. Die die Intensität der Vermittlung der Fächerinhalte regelnden Stundentafeln und die mit den Kerncurricula vorgegebenen Überprüfungen der Kompetenzstände knüpfen aber in den öffentlichen Grundschulen an den jahrgangsbezogenen Unterricht an, der nach § 6 Abs. 4 NSchG nur durch die Einrichtung einer pädagogischen Einheit des 1. und 2. Schuljahrgangs (Eingangsstufe) modifiziert werden kann.

Die davon abweichende Organisation der Lerngruppen im M-Bildungshaus P. ist durch den Genehmigungsbescheid der Nds. Landesschulbehörde vom 06.07.2010 rechtlich abgesichert. Dass darüber hinaus eine enge Verbindung der beiden genehmigten Schulformen (Grundschule und Gesamtschule) mit fließendem Übergang und schulformübergreifenden Lerngruppen vorgesehen ist, wurde in dem Genehmigungsverfahren von der Nds. Landesschulbehörde zur Kenntnis genommen und nach Abschnitt IV. Nr. 1 zum Inhalt der Ersatzschulgenehmigung vom 06.07.2010 erklärt. Sie ergibt sich folgerichtig auch aus der Entscheidung der Landesschulbehörde zur künftigen Bezeichnung der Schule. Durch die Erteilung der Genehmigung zur Errichtung der Gesamtschule besteht schließlich auch die Möglichkeit des Erwerbs eines Abschlusses, wobei nicht jeder Bildungsgang in einen spezifischen Abschluss münden muss.

Die Beklagte kann sich nicht darauf berufen, die Genehmigung der Gesamtschule sei zunächst nur befristet erteilt worden, so dass damals nicht klar gewesen sei, ob an der Gesamtschule überhaupt ein Abschluss erreicht werden könne. Die Genehmigung für die Gesamtschule vom 5. bis 10. Jahrgang wurde am 06.07.2010 erteilt und vor Beginn des Schuljahres 2010/2011 wirksam. Die Befristung mit ausdrücklicher Aufhebungsoption beruhte lediglich darauf, dass für die sich im Aufbau befindliche Schule noch weitere Unterrichtsräume und höhere Schülerzahlen für die künftigen Jahrgänge 9 und 10 nachgewiesen werden mussten. Dass bei erfolgreichem Besuch der Schule ein Abschluss erreicht werden kann, stand jedoch außer Frage. Unabhängig davon ist zweifelhaft, ob die so formulierte Nebenbestimmung rechtmäßig war. Tatsächlich diente die Befristung der Durchsetzung von im Bescheid nicht als Auflagen formulierten Vorgaben (Schaffung von Unterrichtsräumen, Mindestschülerzahl zur Sicherung der Differenzierung des Unterrichts) und somit der Erleichterung der Durchsetzung von Verwaltungsvorgaben. Die Frage der Rechtmäßigkeit der Befristung kann aber dahinstehen. Jedenfalls hat der Schulträger des M-Bildungshaus P. diese Vorgaben mit der Folge erfüllt, dass die Befristung bereits mit Bescheid vom 07.12.2011 aufgehoben worden ist.

Somit haben die Kläger einen Anspruch auf Erstattung der Kosten der Schülerbeförderung in Höhe von 1.030,75 €. Gemäß § 5 Abs. 1 der Schülerbeförderungssatzung wird bei Benutzung eines (von der Beklagten als Beförderungsmittel bestimmten) privaten Personenkraftwagens die Kilometerpauschale nach § 9 Abs. 1 Nr. 4 Einkommensteuergesetz berücksichtigt. Für die Mitnahme weiterer Schülerinnen und Schüler erhöht sich der Entschädigungssatz um jeweils 10% der Kilometerpauschale. Die beiden Kinder der Kläger haben die Schule im Schuljahr gemeinsam an 195 Tagen besucht. Für diese 195 Tage sind bei einer Entfernung von 15,87 km und einer Kilometerpauschale von 0,33 € 1.021,23 € zu erstatten. Hinzu kommen noch 9,52 € für zwei Tage, an dem nur ein Kind die Schule besucht hat.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1VwGO. Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergeht nach § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.