Landgericht Stade
Urt. v. 30.06.2022, Az.: 4 S 36/21

Mehrfachversicherung; Auskunft

Bibliographie

Gericht
LG Stade
Datum
30.06.2022
Aktenzeichen
4 S 36/21
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2022, 65444
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
AG Geestland - 22.10.2021 - AZ: 3 C 193/21

In dem Rechtsstreit
XXX,
Klägerin und Berufungsklägerin
Prozessbevollmächtigte: XXX
gegen
XXX,
Beklagte und Berufungsbeklagte
Prozessbevollmächtigte: XXX
hat die 4. Zivilkammer des Landgerichts Stade auf die mündliche Verhandlung vom 09.06.2022 durch
die Vorsitzende Richterin am Landgericht XXX,
die Richterin am Landgericht XXX und
die Richterin XXX
für Rechterkannt:

Tenor:

Das Urteil des Amtsgerichts Geestland vom 22.10.2021, Az.: 3 C 193/21, wird abgeändert:

  1. 1.

    Die Beklagte wird verurteilt, der Klägerin Auskunft über das Rechtsverhältnis zum Kommunalen Schadensausgleich XXX zu erteilen, insbesondere eine Abschrift der Satzung des Kommunalen Schadenausgleich XXX zu überreichen, welche die Mitgliedschaft der Beklagten regelt.

  2. 2.

    Die Beklagte trägt die Kosten des Rechtsstreits erster und zweiter Instanz.

  3. 3.

    Das Urteil ist hinsichtlich der Ziffer 1 des Tenors gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 5.000,00 € und hinsichtlich der Ziffer 2 des Tenors gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrags vorläufig vollstreckbar.

  4. 4.

    Gegen das Urteil wird die Revision zugelassen.

    Der Streitwert des Berufungsverfahrens wird auf 80.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Klägerin begehrt von der Beklagten Auskunft über die Ausgestaltung ihres Versicherungsverhältnisses zum Kommunalen Schadenausgleich XXX (im Folgenden: XXX).

Die Klägerin hat als Versicherungsgesellschaft das Mehrfamilienhaus des Vermieters Herrn XXX unter der Anschrift XXX unter anderem auch gegen Brandschäden versichert. Die Beklagte als Gemeinde mietete dieses Objekt durch Mietvertrag vom 29.02.2016 vom Vermieter an und nutzte es zur Unterbringung Geflüchteter und Asylbewerber. Am 28.05.2018 gegen 18:30 Uhr ereignete sich ein Brand in dem Mehrfamilienhaus des Vermieters. Dieser brach in der Wohnung 10, dort im Kinderzimmer, aus. In diesem Zimmer hatte der 6-jährige Sohn der dort untergebrachten Familie mit einem ebenfalls 6-jährigen Nachbarsjungen gespielt, wobei die näheren Umstände der Brandentstehung ungeklärt sind. Beide spielten jedenfalls mit einem Feuerzeug, wer den Brand entzündete, blieb unklar. Durch den Brand wurde das Mehrfamilienhaus beschädigt, die Schadenshöhe beträgt ca. 800.000,00 €.

Die Beklagte ist Mitglied des XXX, einem nichtrechtsfähigen Verein von kommunalen Gebietskörperschaften zum solidarischen Ausgleich von Aufwendungen seiner Mitglieder für Schadensfälle. Dieser arbeitet als Selbsthilfefonds ohne Gewinnerzielungsabsicht nach dem Umlageverfahren.

Die Klägerin hat die Ansicht vertreten, dass der XXX als Versicherungsgesellschaft im Sinne des VVG anzusehen sei und ihr deshalb Ausgleichsansprüche analog § 78 Abs. 2 VVG gegen diesen zustehen könnten. Zur Vorbereitung und Prüfung dieses Anspruchs sei sie darauf angewiesen, dass die Beklagte die Satzung des XXX, die nicht öffentlich einsehbar sei (das ist unstreitig), zur Verfügung stelle, da diese den Versicherungsumfang zwischen der Beklagten und dem XXX regele und insbesondere Auskunft darüber gebe, ob in dieser Satzung eine Subsidiaritätsklausel, welche eine Haftung des XXX ausschließe, vereinbart sei.

Die Klägerin hat beantragt,

die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Auskunft über das Rechtsverhältnis zum Kommunalen Schadensausgleich XXX zu erteilen, insbesondere eine Abschrift der Satzung des Kommunalen Schadenausgleich XXX zu überreichen, welche die Mitgliedschaft der Beklagten regelt.

Die Beklagte hat beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Beklagte hat behauptet, dass in der Satzung des XXX eine Subsidiaritätsklausel, welche eine Haftung des XXX ausschließe, bestünde. Sie ist zudem der Meinung, dass der XXX als nichtrechtsfähiger Verein keine Versicherung im Sinne des VVG sei und ein Auskunftsanspruch deswegen scheitere.

Das Amtsgericht hat den Auskunftsanspruch abgelehnt und die Klage abgewiesen. Es hat im Wesentlichen ausgeführt, dass ein Auskunftsanspruch nach § 242 BGB der Klägerin nicht zustehe, da sie sich nicht in einer entschuldbaren Ungewissheit befinde. Vielmehr stehe der Klägerin ein Auskunftsanspruch gegen den XXX analog §§ 31,77 VVG zu. Ein Anspruch gegen die Beklagte scheitere daran, dass es zwischen der Klägerin und dem XXX an einer notwendigen Sonderverbindung fehle. Es gebe keine gesetzliche Bestimmung, die Auskunftspflichten eines Versicherers gegen den Dritten selbst oder aber den Versicherer das Dritten in den Fällen einer Mehrfachversicherung analog § 78 Abs. 1 VVG ausdrücklich regele. Gemäß § 31 VVG bestehe die Auskunftspflicht lediglich gegenüber dem Versicherungsnehmer selbst, oder aber gegenüber einem Dritten, der Anspruch auf die vertragliche Leistung des Versicherers hat. Die Beklagte sei aber weder Versicherungsnehmerin der Klägerin noch stehe ihr ein Anspruch auf die vertraglichen Leistungen der Klägerin aus der Gebäudeversicherung zu. Ebenso unterfalle der XXX als Haftpflichtversicherer der Beklagten nicht dem Regelungsgehalt des § 31 VVG. Auch § 77 Abs. 1 VVG sei nicht einschlägig und verschaffe der Klägerin keinen Auskunftsanspruch gegenüber der Beklagten oder dem XXX. Die Interessenlage sei ebenfalls nicht vergleichbar. Denn Sinn und Zweck des § 31 VVG sei es, den Versicherer in die Lage zu versetzen, die sachgemäße Entschließung über die Behandlung des Versicherungsfalles zu treffen. Im Rahmen des § 77 Abs. 2 VVG soll der Versicherer gerade in die Lage versetzt werden, prüfen zu können, ob er von seinem Recht nach § 78 Abs. 2 VVG Gebrauch machen will. Im Rahmen des Ausgleichs zwischen dem Gebäudeversicherer und dem Haftpflichtversicherer des Mieters analog § 78 Abs. 2 VVG soll dieser Ausgleich ausschließlich auf der Ebene der Versicherer geregelt werden. Dem widerspreche es jedoch, wäre der Gebäudeversicherer, wenn sie die Person des Haftpflichtversicherers des Mieters kenne, verpflichtet, zunächst gegenüber dem Mieter Auskunft über die nähere Ausgestaltung seines Versicherungsverhältnisses zu verlangen, um dann in einem zweiten Prozess gegen Haftpflichtversicherer vorzugehen. Prozessökonomischer sei es, dem Gebäudeversicherer zu ermöglichen, im Rahmen einer Stufenklage direkt Auskunft beim Haftpflichtversicherer zu verlangen und nach erfolgter Auskunft und Prüfung direkt gegen diesen seinen Ausgleichsanspruch geltend zu machen.

Gegen dieses Urteil wendet sich die Klägerin mit der Berufung. Sie hält die Rechtsauffassung des Amtsgerichts für falsch. Das Amtsgericht habe lediglich einen Anspruch gemäß § 242 BGB geprüft, jedoch nicht die Anspruchsgrundlage der §§ 31,77 VVG analog. Hätte es eine solche Prüfung vorgenommen, hätte es schon auf der Grundlage der dann weiteren Erwägungen, die ausschließlich im Rechtsverhältnis zwischen den Parteien zutreffend seien, einen solchen Auskunftsanspruch bejahen und der Klage zusprechen müssen. Weder bestehe ein Auskunftsanspruch gegen den XXX, noch wäre dieser gegenüber einem Anspruch gegen die Beklagte vorrangig. Es sei abwegig, dass das Amtsgericht einen Auskunftsanspruch der Klägerin gemäß den §§ 31,77 VVG analog ablehne. Sowohl § 31 VVG als auch § 77 VVG sähen einen Auskunftsanspruch des Versicherers gegenüber dem Versicherungsnehmer vor. Zu berücksichtigen sei, dass die Beklagte an der Leistung des Versicherers über den höchstrichterlich entwickelten Regressverzicht, der dazu führe, dass die Beklagte nicht mit Schadensersatzansprüchen konfrontiert sei, wie dies ohne den Versicherungsschutz der Klägerin der Fall wäre, partizipiert. Entsprechend sei es Gegenstand sämtlicher Entscheidung des BGH, die diesen Regressverzicht entwickelt bzw. bestätigt haben, dass das Schadensersatzinteresse des Mieters in den Gebäudeversicherungsvertrag einbezogen sei, was Grundlage dieses Regressverzichts sei. Das Schadensersatzinteresse der Beklagten sei somit durchaus in den Versicherungsschutz bei der Klägerin eingezogen, sie partizipiere an der Versicherungsleistung der Klägerin und sei daher Anspruchsgegnerin im Rahmen der §§ 31,77 VVG jedenfalls in analoger Anwendung.

Die Klägerin beantragt,

  1. 1.

    das Urteil des Amtsgerichts Geestland vom 22.10.2021 (Az.: 3 C 193/21) abzuändern und die Beklagte zu verurteilen, der Klägerin Auskunft über das Rechtsverhältnis zum Kommunalen Schadensausgleich XXX zu erteilen, insbesondere eine Abschrift der Satzung des Kommunalen Schadensausgleichs XXX zu überreichen, welche die Mitgliedschaft der Beklagten regelt,

  2. 2.

    hilfsweise, die Revision zuzulassen.

Die Beklagte beantragt,

  1. 1.

    die Berufung zurückzuweisen,

  2. 2.

    die Revision zuzulassen.

Die Beklagte verteidigt das Urteil des Amtsgerichts. Ein Auskunftsanspruch bestehe nicht, da es für den vermeintlichen Ausgleichsanspruch der Klägerin schlicht und ergreifend nicht erforderlich sei, die Satzung des XXX ausgehändigt zu erhalten. Zudem fehle der Klägerin das Rechtsschutzbedürfnis, da die näheren Umstände des Brandes ungeklärt seien.

II.

Die zulässige Berufung hat in der Sache Erfolg.

Der Klägerin steht gegen die Beklagte ein Auskunftsanspruch gem. §§ 31, 77 VVG analog zu, um prüfen zu können, ob und in welchem Umfang ihr ein Innenausgleich gegen den XXX gem. § 78 Abs. 2 VVG zusteht.

Liegt eine Mehrfachversicherung (§ 77 VVG) vor, ist der die Regulierung im Außenverhältnis durchführende Versicherer darauf angewiesen, die begehrte Auskunft hinsichtlich weiterer Mitversicherer zu erlangen, da anderenfalls der Innenausgleich (§ 78 Abs. 2 VVG) nicht erfolgen kann. Eine Mehrfachversicherung liegt vor, wenn durch mehrere Versicherungsverträge dasselbe Interesse gegen dieselbe Gefahr versichert ist, was in unterschiedlichen Konstellationen geschehen kann. Die mehreren Versicherungsverträge müssen nicht von demselben Versicherungsnehmer geschlossen worden sein; auch bei Zusammentreffen von Eigen- und Fremdversicherung kann eine Mehrfachversicherung vorliegen. Eine Identität des Versicherungsnehmers ist nicht erforderlich (Jahnke/Burmann Hdb Personenschaden, 1. Kap. Grundzüge der Personenschadenregulierung Rn. 294c, beck-online). Auch wenn die Klägerin und der XXX nicht ein Interesse gegen dieselbe Gefahr versichern, so ist doch der Beklagte in ebenfalls analoger Anwendung des § 31 VVG dazu verpflichtet, der Klägerin Auskunft über das Versicherungsverhältnis zu erteilen. Dies folgt bereits aus der sich aus dem sog. Regressverzicht ergebenden Sonderrechtsverbindung zwischen den Parteien.

Denn die Beklagte partizipiert als Mieterin von dem Versicherungsschutz der Klägerin. In der Gebäudeversicherung ergibt die ergänzende Vertragsauslegung einen Regressverzicht des Versicherers für die Fälle, in denen der Mieter einen Schaden am Gebäude durch leichte Fahrlässigkeit verursacht hat; dem Versicherer ist der Regress auch dann verwehrt, wenn der Mieter eine Haftpflichtversicherung unterhält, die Ansprüche wegen Schäden an gemieteten Sachen deckt (Bestätigung und Fortführung von BGHZ 145, 393 = NJW 2001, 1353 = NVersZ 2001, 84 = NZM 2001, 108 = VersR 2001, 94). Das Sachersatzinteresse des Mieters wird in den Gebäudeversicherungsvertrag einbezogen. Der Mieter ist dadurch ein sog. "Quasi-Versicherungsnehmer". Dem Gebäudeversicherer, dem der Regress gegen den Mieter verwehrt ist, steht gegen dessen Haftpflichtversicherer entsprechend den Grundsätzen der Doppelversicherung ein Anspruch auf anteiligen Ausgleich zu; einen vollen Ausgleich im Deckungsumfang der Haftpflichtversicherung kann er nicht verlangen, BGH, Urteil vom 13. 9. 2006 - IV ZR 273/05.

Aus diesem Grund ist auch die analoge Anwendung des Auskunftsanspruchs aus §§ 31, 77 VVG sachgerecht. Denn durch diesen Regressverzicht ist eine planwidrige Regelungslücke hinsichtlich der Auskunftsansprüche gem. §§ 31, 77 VVG entstanden.

Der XXX ist jedenfalls als Versicherer im Sinne des VVG anzusehen (BGH, Urteil vom 16.11.1967, II ZR 259/64, VersR 1968, 138). Insofern ist ein Auskunftsanspruch auch nicht deswegen ausgeschlossen, weil § 78 Abs. 2 VVG im Verhältnis zwischen der Klägerin und dem XXX keine Anwendung findet.

Auch unter Berücksichtigung der Grundsätze der Drittschadensliquidation ist ein Auskunftsanspruch der Klägerin gegen die Beklagte aufgrund des Regressverzichts sachgerecht.

Die Ansicht des Amtsgerichts, dass es prozessökonomischer sei, den XXX im Wege einer Stufenklage zunächst auf Auskunft und anschließend auf Zahlung zu verurteilen, verfängt nicht. Jedenfalls ist dies kein Argument für die grundsätzliche Ablehnung eines Auskunftsanspruchs der Klägerin. Denn diese hätte ja nicht gewusst, wer der Versicherer der Beklagten ist, wenn der Beklagte diese (Teil-)Auskunft nicht bereits erteilt hätte. Es ist jedenfalls nicht ersichtlich, dass ein etwaig bestehender Auskunftsanspruch gegen den XXX dem Anspruch gegen die Beklagte vorgeht.

Die Beklagte ist zudem aus §§ 77, 31 VVG analog auch dazu verpflichtet, die Vereinssatzung vorzulegen. Denn hieraus ergibt sich der für die Beurteilung eines etwaig gegebenen Innenausgleichs relevante Versicherungsschutz. Jedenfalls auf Nachfrage ist das Bedingungswerk zur Beurteilung der Deckung mitzuteilen (Langheid/Wandt/Halbach, 3. Aufl. 2022, VVG § 77 Rn. 28).

Die Nebenentscheidungen folgen aus §§ 91, 709 ZPO.

Die Revision war zuzulassen, da die Voraussetzungen des § 543 ZPO gegeben sind. Die Voraussetzungen für eine Zulassung zur Fortbildung des Rechts gem. § 543 Abs. 2 Nr. 2 ZPO sind gegeben, wenn der Einzelfall Veranlassung gibt, Leitsätze für die Auslegung von Gesetzesbestimmungen des materiellen oder formellen Rechts aufzustellen oder Gesetzeslücken auszufüllen. Hierzu besteht nur dann Anlass, wenn es - wie hier - für die rechtliche Beurteilung typischer oder jedenfalls verallgemeinerungsfähiger Lebenssachverhalte an einer richtungsweisenden Orientierungshilfe ("Leitentscheidung") ganz oder teilweise fehlt (BeckOK ZPO/Kessal-Wulf, 44. Ed. 1.3.2022, ZPO § 543 Rn. 23).