Amtsgericht Göttingen
Beschl. v. 19.03.2004, Az.: 74 IK 74/02

Anforderungen an die Durchführung eines Insolvenzverfahrens; Voraussetzungen für das Vorliegen von Insolvenzgründen; Anforderungen an die Gewährung einer Restschuldbefreiung

Bibliographie

Gericht
AG Göttingen
Datum
19.03.2004
Aktenzeichen
74 IK 74/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 34388
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:AGGOETT:2004:0319.74IK74.02.0A

Fundstellen

  • DStR 2004, XVIII Heft 22 (Kurzinformation)
  • NJW 2004, XIV Heft 22 (amtl. Leitsatz)
  • NWB 2004, 2065 (Kurzinformation)
  • NZI 2004, 332-334 (Volltext mit amtl. LS)
  • NZI (Beilage) 2004, 6 (amtl. Leitsatz)
  • ZInsO 2004, 456-458 (Volltext mit amtl. LS)
  • ZVI 2004, 198-200 (Volltext mit amtl. LS)
  • ZVI (Beilage) 2004, 25 (amtl. Leitsatz)

Amtlicher Leitsatz

  1. 1.

    Gem. § 36 Abs. 4 InsO ist das Insolvenzgericht zuständig zur Entscheidung, ob eine vom Treuhänder vereinnahmte Steuerrückerstattung diesem oder dem Schuldner zusteht.

  2. 2.

    Steuerrückerstattungsansprüche fallen nicht unter den Begriff des Arbeitseinkommens und werden von der Abtretungserklärung des § 287 Abs. 2 Satz 1 InsO nicht erfasst. In der Wohlverhaltensperiode stehen sie folglich dem Schuldner zu.

  3. 3.

    Die Entscheidung der Frage, ob dem Finanzamt in der Wohlverhaltensperiode eine Aufrechnungsmöglichkeit gegen Steuerrückerstattungsansprüche zusteht, wird dadurch nicht präjudiziert.

  4. 4.

    Unbefriedigende und zufällige Ergebnisse sind in diesem Zusammenhang hinzunehmen. Insolvenzgerichte können in Anbetracht der wachsenden Belastung Verfahren nur noch nach einfachen und überschaubaren Regeln abwickeln. Korrekturen obliegen dem Gesetzgeber.

Entscheidungsgründe

1

Über das Vermögen des Schuldners ist am 3.6.2002 das Verbraucherinsolvenzverfahren eröffnet und dem Schuldner Stundung bewilligt worden. Nachdem der Beschl. v. 18.8.2003 über die Ankündigung der Restschuldbefreiung rechtskräftig geworden ist, ist das Verfahren mit Beschl. v. 6.10.2003 aufgehoben worden. Mit Schreiben v. 3.12.2003 hat der Schuldner mitgeteilt, dass der Einkommensteuerbescheid für das Jahr 2002, am 4.11.2003 dem Treuhänder zugestellt, ein Guthaben von 117,56 EUR ausweist. Schuldner und Treuhänder streiten darum, wem der Erstattungsbeitrag zusteht.

2

Der Anspruch steht dem Schuldner zu.

3

Steuererstattungen in der Insolvenz fallen nicht unter den Begriff des Arbeitseinkommens, werden von der Abtretungserklärung des § 287 Abs. 2 Satz 1 InsO nicht erfasst und stehen in der Wohlverhaltensperiode folglich dem Schuldner zu (I.). Nicht präjudiziert wird dadurch die Entscheidung, ob das Finanzamt aufrechne kann (II.). Zur Entscheidung über diese Streitfrage ist nicht das Prozessgericht, sondern das Insolvenzgericht zuständig (III.).

4

I.

Im Rahmen der Restschuldbefreiung tritt der Schuldner seine pfändbaren Forderungen auf Bezüge aus einem Dienstverhältnis oder an deren Stelle tretende laufende Bezüge an den Treuhänder ab (§ 287 Abs. 2 Satz 1 InsO). Zu den Bezügen aus einem Dienstverhältnis sind sämtliche Arten von Arbeitseinkommen i.S.d. § 850 ZPO zu rechnen (FK-InsO/Ahrens, § 287 Rn. 39).

5

1.

Die Frage, ob Steuererstattungsansprüche unter den Begriff des Arbeitseinkommens gem. § 850 ZPO fallen, ist in Rechtsprechung und Literatur umstritten. Veröffentlichte Entscheidungen sind zu verschiedenen Phasen des Insolvenzverfahrens ergangen:

6

- Mittelbar wird die Frage diskutiert im Rahmen des § 309 Abs. 1 Satz 2 InsO im Rahmen der Möglichkeit einer Zustimmungsersetzung. Relevant wird die Frage, wenn ein Schuldner im Schuldenbereinigungsplan für das Finanzamt als Gläubiger nicht die Möglichkeit vorsieht, dass das Finanzamt seine Ansprüche mit Steuererstattungsansprüchen des Schuldners verrechnen kann. Es stellt sich die Frage, ob eine unangemessene Benachteiligung gem. § 309 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 InsO vorliegt mit der Folge, dass eine Zustimmungsersetzung nicht erteilt werden kann (s. 2 c).

7

  • Im Zeitraum zwischen Eröffnung und Ankündigung der Restschuldbefreiung stellt sich die Frage, ob Steuererstattungsansprüche Arbeitseinkommen darstellen mit der Folge, dass das Insolvenzgericht gem. § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO i.V.m. §§ 850 ff. ZPO Pfändungsschutzanordnungen treffen kann (s. 2a).
  • Vermehrt stellt sich die Frage, wem Steuererstattungen nach rechtskräftiger Ankündigung der Restschuldbefreiung in der Wohlverhaltensperiode zustehen, dem Treuhänder oder dem Schuldner (s. 2 b).

8

2.

a)

Für den Zeitraum des eröffneten Insolvenzverfahrens vor Ankündigung der Restschuldbefreiung hat das AG Dortmund entschieden, dass die Steuererstattung kein Arbeitseinkommen i.S.d. §§ 850 ff. ZPO ist, sodass auch die Pfändungsschutzbestimmungen nicht anwendbar sind (ZInsO 2002, 685[AG Dortmund 21.03.2002 - 257 IK 17/00] m. zust. Anm. Henning = NZI 2002, 448 = InVo 2002, 419).

9

b)

Für die Wohlverhaltensperiode vertritt das AG Gifhorn (ZInsO 2001, 630) die Ansicht, dass die Abtretungserklärung des § 287 Abs. 2 Satz 1 InsO auch Ansprüche auf Steuererstattungen umfasst. Dem stimmt die Literatur teilweise zu (Kübler/Prütting/Wenzel, InsO, § 287 Rn. 9; Uhlenbruck/Vallender, InsO, § 287 Rn. 31). Andererseits wird eine weite Auslegung des Begriffes des Arbeitseinkommens abgelehnt (MünchKomm-InsO/Stephan, § 287 Rn. 40; FK-InsO/Ahrens, § 287 Rn. 44; Gerigk, ZInsO 2001, 931, 935).

10

c)

Im Rahmen der Entscheidung gem. § 309 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 InsO werden Steuererstattungsansprüche teilweise nicht als Arbeitseinkommen angesehen (AG Neuwied, NZI 2000, 334, 335; LG Koblenz, ZInsO 2000, 507, 508[LG Koblenz 13.06.2000 - 2 T 162/00]; AG Wittlich, ZInsO 2003, 577[AG Wittlich 04.05.2003 - 7b IK 50/02] = ZVI 2003, 428 [AG Wittlich 04.04.2003 - 7b IK 50/02]; Hilbertz/Busch, ZInsO 2000, 491, 492)[LG Koblenz 13.06.2000 - 2 T 162/00], teilweise bleibt die Frage dahingestellt (AG Göttingen, ZInsO 2001, 329[AG Göttingen 27.02.2001 - 14 IK 136/00] = NZI 2001, 270). Sieht man Steuererstattungsansprüche nicht als Arbeitseinkommen an, stellt sich weiter die Frage, ob dem Finanzamt dennoch eine Aufrechnungsbefugnis zusteht (dazu Hilbertz/Busch, ZInsO 2000, 491; Grote, ZInsO 2001, 452; Schmidt, ZInsO 2003, 547).

11

3.

Auszugehen ist davon, dass Ansprüche auf Rückzahlung von Lohn- oder Einkommenssteuer nicht von der Abtretung gem. § 287 Abs. 2 Satz 1 InsO umfasst werden. Es handelt sich nicht um Arbeitseinkommen, sondern um einen öffentlich-rechtlichen Erstattungsanspruch gem. § 37 Abs. 2 AO (AG Dortmund, ZInsO 2002, 685[AG Dortmund 21.03.2002 - 257 IK 17/00] m. zust. Anm. Henning = NZI 2002, 448 = InVo 2002, 419; FK-InsO/Ahrens, § 287 Rn. 44). Laufende Bezüge, die unter § 287 Abs. 2 Satz 1 InsO fallen, haben ihren Rechtsgrund in einem zivilrechtlichen Dienstverhältnis und nicht in einem öffentlich-rechtlichen Steuerschuldverhältnis. Weiter ist die Aufzählung in § 287 Abs. 2 Satz 1 InsO als abschließend aufzufassen. Zutreffend weist Gerigk (ZInsO 2001, 931, 935) darauf hin, dass die Begründung des RegE zur Regelung über die Unwirksamkeit von Verfügungen des Schuldners nach Verfahrenseröffnung (§ 92 Entwurf = § 81 InsO) Steuererstattungsansprüche nicht erwähnt (BT-Drucks. 12/2443, S. 135 f.).

12

4.

Das Insolvenzgericht verkennt nicht, dass das gefundene Ergebnis nicht befriedigend erscheint.

13

a)

So besteht im Zeitraum bis zur Ankündigung der Restschuldbefreiung nicht die Möglichkeit, gem. § 36 Abs. 1 Satz 2 InsO die Vorschriften der §§ 850 ff. ZPO anzuwenden, vielmehr fällt ein Steuererstattungsanspruch uneingeschränkt in die Insolvenzmasse. Im Zeitraum nach Ankündigung der Restschuldbefreiung verhält es sich genau umgekehrt. Zu klären ist auch die Frage, ob man auf den Zeitpunkt der Ankündigung der Restschuldbefreiung oder die Rechtskraft des Beschlusses abstellt. Das Insolvenzgericht neigt dazu, auf die Rechtskraft abzustellen. Weiter ist fraglich, ob auf das Datum des Steuererstattungsbescheides, auf das Datum der Bekanntgabe oder auf das Datum der Auszahlung abzustellen ist; das Insolvenzgericht neigt dazu, auf das Bescheidsdatum abzustellen.

14

Es ergibt sich ein eher zufälliges Ergebnis je nachdem, wann entsprechend der Arbeitsbelastung beim Finanzamt und beim Insolvenzgericht ein Bescheid ergeht und die Restschuldbefreiung angekündigt wird. Zufälligkeiten, die sich aus der Ankündigung der Restschuldbefreiung jedenfalls für den Beginn der Laufzeit der Wohlverhaltensperiode ergaben, wollte der Gesetzgeber durch die Gesetzesänderung zum 1.12.2001 beseitigen. Erreicht wird dies dadurch, dass die sechsjährige Wohlverhaltensphase gem. § 287 Abs. 2 Satz 1 InsO mit dem Zeitpunkt der Eröffnung zu laufen beginnt. Ungelöst geblieben sind allerdings weitere, damit zusammenhängende Probleme, so z.B. die Frage, ob die Obliegenheiten des § 295 InsO sofort mit Eröffnung des Verfahrens beginnen (AG Göttingen, NZI 2003, 217 m. abl. Anm. Ahrens = ZVI 2003, 295; Kübler/Prütting/Wenzel, InsO, § 295 Rn. 1 c) oder erst mit Ankündigung der Restschuldbefreiungsphase gem. § 291 InsO (FK-InsO/Ahrens, § 287 Rn. 89 1 ff.; MünchKomm-InsO/Ehricke, § 295 Rn. 12; Uhlenbruck/Vallender, a.a.O., § 287 Rn. 44 f.).

15

b)

Sieht man Steuererstattungsansprüche als von der Abtretungserklärung umfasst an, ergeben sich allerdings eine Vielzahl von Folgeproblemen:

  • Eine Abtretung dürfte nur für den pfändbaren Anteil der Steuererstattungsansprüche erfassen, es müssten jeweils entsprechende Berechnungen vorgenommen werden.
  • Probleme können sich ergeben bei gemeinsamer Veranlagung von Ehegatten.
  • Gewiefte Schuldner könnten möglicherweise entsprechende Regelungen dadurch umgehen, dass sie sich entsprechende Freibeträge auf der Steuerkarte eintragen lassen.
  • Schließlich kann sich die Problematik eines Steuerpflichtigen mit pfändbaren Einkommen stellen, der keinen entsprechenden Antrag beim Finanzamt stellt. Mit Ankündigung der Restschuldbefreiung geht die Verwaltungs- und Verfügungsbefugnis wieder auf den Schuldner über, der Treuhänder ist zur Antragstellung nicht befugt (MünchKomm-InsO/Ehricke, § 292 Rn. 41; Uhlenbruck/Vallender, a.a.O., § 292 Rn. 14). Eine Sanktionsmöglichkeit gem. § 295 InsO besteht nicht.

16

c)

Die Vielzahl dieser Fragen und Folgeprobleme zu beantworten und zu regeln ist nicht Aufgabe des Insolvenzgerichtes. In Anbetracht zunehmender Verfahrenszahlen und Arbeitsbelastung können Insolvenzverfahren nur noch schematisch nach möglichst einfachen Regelungen abgewickelt werden. Gerechtigkeitsüberlegungen umzusetzen, kann nicht mehr Aufgabe der Insolvenzgerichte sein, sondern Aufgabe des hierzu berufenen Gesetzgebers. Dieser kann im Rahmen der anstehenden Novellierung der InsO entsprechende Regelungen treffen.

17

d)

Folglich steht im vorliegenden Fall der vereinnahmte Steuerrückerstattungsanspruch nicht dem Treuhänder, sondern dem Schuldner zu unabhängig von der Frage, ob er aus dem unpfändbaren Einkommen stammt. Eine andere Frage ist es, ob der Einzug des Steuerrückerstattungsanspruches durch den Schuldner sinnvoll ist. Verbliebe der Anspruch beim Treuhänder, würden zunächst die Verfahrenskosten getilgt (§ 292 Abs. 1 Satz 3 InsO). Andernfalls trifft den Schuldner nach Erteilung der Restschuldbefreiung die sog. vierjährige Nachhaftung gem. § 4b Abs. 2 InsO. Ist der Schuldner allerdings unpfändbar und wird er es voraussichtlich bleiben, kann er der Nachhaftung gelassen entgegensehen.

18

II.

Nicht zu entscheiden und nicht präjudiziert ist durch die vorliegende Entscheidung die Frage, ob eine Aufrechnungsmöglichkeit des Finanzamtes besteht, auch wenn Steuererstattungsansprüche kein Arbeitseinkommen sind und damit nicht der Abtretung gem. § 287 Abs. 2 Satz 1 InsO unterfallen. Diese Frage wird in der Rechtsprechung kontrovers diskutiert (bejahend LG Koblenz ZInsO 2000, 507[LG Koblenz 13.06.2000 - 2 T 162/00]; ablehnend AG Neuwied, NZI 2000, 334; AG Göttingen, ZInsO 2001, 329[AG Göttingen 27.02.2001 - 14 IK 136/00] = NZI 2001, 270; AG Wittlich, ZInsO 2003, 577[AG Wittlich 04.05.2003 - 7b IK 50/02] = ZVI 2003, 428 [AG Wittlich 04.04.2003 - 7b IK 50/02]). Auch insoweit ist eine gesetzgeberische Klarstellung anlässlich der bevorstehenden Novellierung der InsO wünschenswert (Schmidt, ZInsO 2003, 547, 548).

19

III.

Zur Entscheidung ist auch das Insolvenzgericht und nicht das Prozessgericht berufen. Die Entscheidung des AG Gifhorn (ZInsO 2001, 630) über die hier streitige Frage wurde zwar vom Prozessgericht getroffen. Die Entscheidung stammt jedoch v. 12.6.2001 und damit aus dem Zeitraum vor In-Kraft-Treten des InsOÄndG zum 1.12.2001. Nunmehr ist in §§ 36, 292 Abs. 1 Satz 3 InsO geregelt, dass Entscheidungen über die Anwendbarkeit der Pfändungsschutzregelungen gem. § 850 ff. ZPO (im Wesentlichen) vom Insolvenzgericht zu treffen sind. Hätte der Schuldner im vorliegenden Fall einen Antrag gem. § 850 f. Abs. 1 ZPO gestellt, wäre zur Entscheidung das Insolvenzgericht berufen. In diesem Zusammenhang hätte das Insolvenzgericht auch klären müssen, ob Steuererstattungsansprüche überhaupt unter den Begriff des Arbeitseinkommens gem. § 850 ZPO fallen. Die Entscheidung dieser Frage durch Insolvenz- oder Prozessgericht kann aber nicht von der Zufälligkeit abhängen, ob der Schuldner Auskehrung des Betrages vom Treuhänder verlangt oder einen Antrag gem. § 850f ZPO stellt. Damit wäre Zufälligkeit Tür und Tor geöffnet. Gewichtige Gesichtspunkte der Sachnähe sprechen dafür, dass das Insolvenzgericht diese Entscheidung trifft (ähnlich FK-InsO/Grote, § 292 Rn. 6; Uhlenbruck/Vallender, a.a.O., §292 Rn. 55; a.A. FK-InsO/Schuhmacher, § 36 Rn. 43; Kübler/Prütting/Holzer, a.a.O., § 36 Rn. 36). Die Entscheidungskompetenz ergibt sich zumindest aus einer erweiterten Auslegung des § 36 Abs. 4 InsO.

20

IV.

Gem. § 18 Abs. 2 RPflG hat der Richter das Verfahren zur Entscheidung an sich gezogen, da es sich um eine im Bezirk des Insolvenzgerichtes Göttingen ungeklärte, klärungsbedürftige Frage handelt.

21

Vom Richter gem. § 36 Abs. 4 InsO getroffene Entscheidungen sind nicht anfechtbar, da § 6 InsO eine Anfechtungsmöglichkeit nicht vorsieht. Deshalb erfolgt eine förmliche Zustellung des Beschlusses an den Treuhänder nicht.