Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 14.06.2018, Az.: 13 ME 208/18

Anordnungsanspruch; Anordnungsgrund; Aufhebung; Beschwerde; Einreise- und Aufenthaltsverbot; einstweilige Anordnung; Reiseunfähigkeit

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
14.06.2018
Aktenzeichen
13 ME 208/18
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2018, 74189
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 23.05.2018 - AZ: 11 B 1389/18

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Mit § 11 Abs. 4 AufenthG hat der Gesetzgeber eine spezielle Rechtsgrundlage auch für die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots geschaffen, die einen Rückgriff auf die allgemeinen Regelungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes ausschließt.

Tenor:

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den Beschluss des Verwaltungsgerichts Oldenburg - Einzelrichter der 11. Kammer - vom 23. Mai 2018 wird zurückgewiesen.

Der Antragsteller trägt die Kosten des Beschwerdeverfahrens.

Der Streitwert des Beschwerdeverfahrens wird auf 5.000 EUR festgesetzt.

Gründe

Die Beschwerde des Antragstellers gegen den die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes versagenden Beschluss bleibt ohne Erfolg. Das Verwaltungsgericht hat den von ihm sinngemäß gestellten Antrag, den Antragsgegner im Wege einer einstweiligen Anordnung zu verpflichten, ihm durch Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 4 AufenthG die Wiedereinreise in das Bundesgebiet zu ermöglichen, zutreffend abgelehnt. Der Antragsteller hat einen für den Erlass der begehrten einstweiligen Anordnung erforderlichen Anordnungsgrund (1.) und auch einen Anordnungsanspruch (2.) nicht glaubhaft gemacht.

1. Ein Anordnungsgrund ist gleichzusetzen mit einem spezifischen Interesse gerade an der begehrten vorläufigen Regelung. Dieses Interesse ergibt sich regelmäßig aus einer besonderen Eilbedürftigkeit der Rechtsschutzgewährung (vgl. Niedersächsisches OVG, Beschl. v. 19.10.2010 - 8 ME 221/10 -, juris Rn. 4; Schoch/Schneider/Bier, VwGO, § 123 Rn. 81 (Stand: März 2014)). Dabei ist einem die Hauptsache vorwegnehmenden Antrag im Verfahren nach § 123 Abs. 1 VwGO nur ausnahmsweise (vgl. zum grundsätzlichen Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache im Verfahren vorläufigen Rechtsschutzes: BVerwG, Beschl. v. 27.5.2004 - BVerwG 1 WDS VR 2.04 -, juris Rn. 3; OVG Lüneburg, Beschl. v. 19.7.1962 - I B 57/62 -, OVGE MüLü 18, 387, 388 f.) dann stattzugeben, wenn durch das Abwarten in der Hauptsache für den Antragsteller schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Der besonderen Bedeutung der jeweils betroffenen Grundrechte und den Erfordernissen eines effektiven Rechtsschutzes ist Rechnung zu tragen (vgl. BVerfG, Beschl. v. 30.4.2008 - 2 BvR 338/08 -, juris Rn. 3; Beschl. v. 25.10.1988 - 2 BvR 745/88 -, BVerfGE 79, 69, 74; BVerwG, Beschl. v. 10.2.2011 - BVerwG 7 VR 6.11 -, juris Rn. 6; Beschl. v. 29.4.2010 - BVerwG 1 WDS VR 2.10 -, Buchholz 310 § 123 VwGO Nr. 28; Senatsbeschl. v. 12.5.2010 - 8 ME 109/10 -, juris Rn. 14; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, Vorläufiger Rechtsschutz im Verwaltungsstreitverfahren, 7. Aufl., Rn. 193 f. jeweils m.w.N.).

Hier erstrebt der Antragsteller eine solche Vorwegnahme der Hauptsache. Das Ziel der von ihm begehrten Regelungsanordnung ist mit dem Ziel einer noch zu erhebenden Verpflichtungsklage identisch. Dem steht nicht entgegen, dass die im einstweiligen Anordnungsverfahren erstrebte Regelung vorläufig wäre und unter der auflösenden Bedingung des Ergebnisses des Klageverfahrens stünde. Denn auch die bloße vorläufige Vorwegnahme der Hauptsache vermittelt die mit dem Klageverfahren erstrebte Rechtsposition und stellt den Antragsteller - ohne, dass diese Rechtsstellung rückwirkend wieder beseitigt werden könnte - vorweg so, als wenn er im Klageverfahren bereits obsiegt hätte (vgl. BVerwG, Beschl. v. 14.12.1989 - BVerwG 2 ER 301.89 -, Buchholz 310 § 123 VwGO Nr. 15; Senatsbeschl. v. 8.10.2003 - 13 ME 342/03 -, NVwZ-RR 2004, 258 f.; OVG Rheinland-Pfalz, Beschl. v. 21.10.1987 - 12 B 109/87 -, NVwZ-RR 1988, 19; Finkelnburg/Dombert/Külpmann, a.a.O., Rn. 180 m.w.N.).

Der nach dem eingangs dargestellten Maßstab nur ausnahmsweise mögliche Erlass einer solchen, die Hauptsache vorwegnehmenden Regelungsanordnung kommt hier nicht in Betracht. Denn der Antragsteller hat nicht hinreichend glaubhaft gemacht, dass ihm ohne die Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes schwere und unzumutbare, anders nicht abwendbare Nachteile entstehen, zu deren nachträglicher Beseitigung die Entscheidung in der Hauptsache nicht mehr in der Lage wäre. Er behauptet schlicht, dass es ihm "gesundheitlich zunehmend schlechter" gehe und ihm deshalb ein weiteres Abwarten nicht hinnehmbar sei (Schriftsätze v. 20.3.2018, dort S. 3, v. 10.4.2018, dort S. 2, und v. 15.5.2018). Diese Behauptung ist schon nicht in einer den formalen Anforderungen des § 123 Abs. 3 VwGO in Verbindung mit §§ 920 Abs. 2, 294 ZPO genügenden Weise glaubhaft gemacht. Sie ist mangels konkreten und substantiierten Vortrags für den Senat auch inhaltlich nicht nachzuvollziehen. Dies gilt auch mit Blick auf die weitere Bescheinigung des Krankenhauses im albanischen C. vom 10. April 2018 (Blatt 51 f. der Gerichtsakte). Denn aus dieser ergibt sich mitnichten, dass die "versuchten suizidalen Idealen und Handlungen" nach der Abschiebung aus dem Bundesgebiet vorgenommen worden sind oder mit dieser überhaupt in einem Zusammenhang stehen. Selbst wenn man aber unterstellt, dass dem Antragsteller bei einem weiteren Verbleib in seinem Heimatland schwere gesundheitliche und unzumutbare Nachteile drohen, ist nicht ersichtlich, dass diese durch den begehrten Erlass der einstweiligen Anordnung abgewendet werden könnten. Denn allein die (vorläufige) Aufhebung des kraft Gesetzes nach § 11 Abs. 1 AufenthG durch die Abschiebung entstandenen Einreise- und Aufenthaltsverbots würde den Antragsteller nicht zur Einreise in das Bundesgebiet berechtigen. Dass er über den hierfür nach § 4 Abs. 1 AufenthG erforderlichen Aufenthaltstitel verfügt, ergibt sich aus seinem Vorbringen nicht und ist für den Senat auch sonst nicht offensichtlich.

2. Der Antragsteller hat auch das Vorliegen eines Anordnungsanspruchs auf Aufhebung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots gemäß § 11 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG nicht glaubhaft gemacht.

Gemäß § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG kann das kraft Gesetzes nach § 11 Abs. 1 AufenthG entstandene Einreise- und Aufenthaltsverbot zur Wahrung schutzwürdiger Belange des Ausländers oder, soweit es der Zweck des Einreise- und Aufenthaltsverbots nicht mehr erfordert, aufgehoben werden. Gemäß § 11 Abs. 4 Satz 2 AufenthG soll das Einreise- und Aufenthaltsverbot aufgehoben werden, wenn die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 vorliegen. Mit diesen Bestimmungen hat der Gesetzgeber eine spezielle Rechtsgrundlage für die nachträgliche Verlängerung oder Verkürzung der Frist und auch für die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots geschaffen, die einen Rückgriff auf die allgemeinen Regelungen des Verwaltungsverfahrensgesetzes ausschließt. Eine Verkürzung der Frist oder die Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots kann angezeigt sein, wenn Umstände eintreten, die das Gewicht des öffentlichen Interesses, den Ausländer aus dem Bundesgebiet fernzuhalten oder ihm die Erteilung eines Aufenthaltstitels im Bundesgebiet vorzuenthalten, verringern. Eine Aufhebung des Einreise- und Aufenthaltsverbots ist insbesondere angezeigt, soweit die general- bzw. spezialpräventiven Gründe für die Sperrwirkungen es nicht mehr erfordern, oder zur Wahrung der schutzwürdigen Belange des Betroffenen (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 12.7.2017 - 11 B 9.16 -, juris Rn. 16; Gesetzentwurf der Bundesregierung, Entwurf eines Gesetzes zur Neubestimmung des Bleiberechts und der Aufenthaltsbeendigung, BT-Drs. 18/4097, S. 36 f.).

Die so beschriebenen Voraussetzungen des § 11 Abs. 4 Satz 1 AufenthG (a.) oder des § 11 Abs. 4 Satz 2 AufenthG (b.) für eine Aufhebung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots sind nach dem Vorbringen des Antragstellers offensichtlich nicht erfüllt.

a. Der Antragsteller hat nicht aufgezeigt, dass der mit dem gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbot verfolgte Zweck erreicht ist oder nicht mehr fortbesteht. Dies ist für den Senat auch nicht offensichtlich.

Aus dem Vorbringen des Antragstellers ergeben sich auch keine schutzwürdigen Belange, die eine Aufhebung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots gebieten würden. Es fehlt an jedwedem Anknüpfungspunkt für eine Verbindung des Antragstellers zum Bundesgebiet, die schutzwürdig sein könnte. Eine solche kann sich von vorneherein dann nicht aus einer behaupteten Reiseunfähigkeit und einer daraus vermeintlich resultierenden rechtlichen Unmöglichkeit der Abschiebung ergeben, wenn die Abschiebung - wie hier - bereits erfolgt ist. Denn die Abschiebung beendet insoweit die Verbindung zum Bundesgebiet endgültig, ohne dass sie durch eine Wiedereinreise erneut begründet werden könnte. Abgesehen davon stünde eine behauptete Reiseunfähigkeit mit Blick auf die sich aus Art. 2 Abs. 2 GG ergebenden Schutzwirkungen auch einer Wiedereinreise in das Bundesgebiet entgegen. Obwohl es danach entscheidungserheblich nicht mehr darauf ankommt, weist der Senat darauf hin, dass das Verwaltungsgericht in der angefochtenen Entscheidung die Glaubhaftmachung einer Reiseunfähigkeit zutreffend verneint hat und auch das Beschwerdevorbringen des Antragstellers eine abweichende Beurteilung nicht gebietet.

b. Auch die Voraussetzungen für die Erteilung eines Aufenthaltstitels nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes erfüllt der Antragsteller nicht.

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 3 AufenthG wegen eines krankheitsbedingten zielstaatsbezogenen Abschiebungsverbots im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG beansprucht der Antragsteller ausdrücklich nicht (vgl. Schriftsatz v. 10.4.2018, dort S. 1).

Die Erteilung einer Aufenthaltserlaubnis nach § 25 Abs. 5 Satz 1 AufenthG wegen eines inlandsbezogenen Ausreisehindernisses kann der Antragsteller offensichtlich nicht beanspruchen. Nach dieser Bestimmung setzt die Erteilung der Aufenthaltserlaubnis voraus, dass die Ausreise aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist, mithin sich der Ausländer bereits oder noch im Bundesgebiet aufhält (vgl. Hamburgisches OVG, Beschl. v. 25.8.2006 - 3 Bf 51/06 -, juris Rn. 5; Nr. 25.5.0 der Allgemeinen Verwaltungsvorschrift zum Aufenthaltsgesetz - AVwV AufenthG - v. 26.10.2009, GMBl. S. 878). Daran fehlt es hier, nachdem der Antragsteller aus dem Bundesgebiet abgeschoben worden ist.

Für Ausländer, die sich im Ausland aufhalten, kann vielmehr eine Aufenthaltserlaubnis nach Kapitel 2 Abschnitt 5 des Aufenthaltsgesetzes nur aus völkerrechtlichen oder dringenden humanitären Gründen gemäß § 22 AufenthG erteilt werden. Diese Bestimmung ist aber keine allgemeine Härtefallregelung, die Ausländern, die die Voraussetzungen für die Einreise nach anderen Vorschriften nicht erfüllen, die Einreise nach Deutschland ermöglichen soll bzw. kann (vgl. OVG Berlin-Brandenburg, Beschl. v. 19.9.2017 - 3 S 52.17 -, juris Rn. 11 f. m.w.N.). Die Entscheidung über eine Aufnahme aus dem Ausland nach § 22 Satz 1 AufenthG ist vielmehr Ausdruck autonomer Ausübung staatlicher Souveränität, auf die kein gesetzlicher Rechtsanspruch besteht (vgl. BVerwG, Urt. v. 15.11.2011 - BVerwG 1 C 21.10 -, BVerwGE 141, 151, 154; Nr. 22.0.1.2 AVwV AufenthG). § 22 Satz 2 AufenthG dient insoweit insbesondere der Wahrung des außenpolitischen Handlungsspielraums des Bundes (vgl. OVG Bremen, Beschl. v. 13.2.2018 - 1 B 268/17 -, juris Rn. 13).

Schließlich bestehen - selbst wenn man das Vorliegen der tatbestandlichen Voraussetzungen des § 11 Abs. 4 Satz 1 und 2 AufenthG entgegen vorstehender Ausführungen annimmt - auch keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass das nach § 11 Abs. 4 Satz 4 in Verbindung mit § 11 Abs. 3 Satz 1 AufenthG eröffnete Ermessen (vgl. hierzu BVerwG, Urt. v. 22.2.2017 - BVerwG 1 C 27.16 -, BVerwGE 157, 356, 361 f.) des Antragsgegners dahin reduziert sein könnte, das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbots mit sofortiger Wirkung aufzuheben.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 2 VwGO.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf §§ 47 Abs. 1, 53 Abs. 2 Nr. 1, 52 Abs. 2 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§ 152 Abs. 1 VwGO, §§ 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).