Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 28.10.2004, Az.: 3 A 56/03

Angola; Bakongo; Cabinda; Existenzminimum; extreme Gefahrenlage; FLEC; FLEC-FAC; Fluchtalternative; Luanda; Malaria; politische Verfolgung; PTBS; regionale Verfolgung; Retraumatisierung

Bibliographie

Gericht
VG Göttingen
Datum
28.10.2004
Aktenzeichen
3 A 56/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 50816
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tatbestand:

1

Der 17-jährige Kläger ist Staatsangehöriger von Angola, katholischen Glaubensbekenntnisses und gehört der Volksgruppe der Bakongo an. Er reiste nach eigenen Angaben mit seinem erwachsenen Bruder am 21.07.2002 von Cabinda über Brazzaville aus seinem Heimatland aus und gelangte auf dem Luftwege über Südafrika mit einem Direktflug ab Johannesburg in die Bundesrepublik Deutschland, wo er am 30.07.2002 seine Anerkennung als Asylberechtigter begehrte. Zur Begründung trug er im Wesentlichen vor, Mitglieder seiner Familie seien aktiv in der FLEC-FAC tätig gewesen. Nach dem Tod seiner Mutter im Jahr 1998 hätten sein Bruder und er in Luanda bei einer Tante gewohnt und seien dort zur Schule gegangen. Am 15.06.2002 seien sie zu ihrem Vater nach Cabinda geflogen. Wie immer hätten sie Pakete und Taschen von Luanda nach Cabinda mitgenommen, die der Vater dort verteilt hätte. Zwei Sicherheitsagenten hätten sie wieder aus dem Flugzeug geholt, im Sicherheitsbüro am Flughafen verhört und misshandelt. Sie hätten die Taschen durchsucht und einen großen Dollarbetrag sowie Munition gefunden. Die Sicherheitsagenten hätten sie dann auf dem Flug begleitet. Nach der Ankunft in Cabinda seien sie als letzte in Begleitung der Agenten ausgestiegen. Ihr Vater, der sie abholen wollte, habe die Situation erkannt und sei geflohen; dabei sei er erschossen worden. Sein Bruder und er hätten das entstandene Durcheinander genutzt, um vom Flughafengelände zu ihrem Großvater zu fliehen. Weil die Polizei nach dem Kläger und seinem Bruder gesucht habe, hätte der Großvater mit einem Parteifreund ihres Vaters beschlossen, dass seine Enkel nach Deutschland flüchten sollten, wo eine Tante von ihnen lebe. Diesen Antrag lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge mit Bescheid vom 04.03.2003, zugestellt am 06.03.2003, ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG nicht vorliegen. Der Kläger wurde unter Abschiebungsandrohung nach Angola und Fristsetzung aufgefordert, die Bundesrepublik Deutschland zu verlassen.

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Am 12.03.2003 hat der Kläger Klage erhoben, zu deren Begründung er sich auf sein Vorbringen aus dem Verwaltungsverfahren bezieht. Mit Schriftsatz vom 26.10.2004 trägt der Kläger unter Vorlage einer Kinder- und jugendpsychiatrischen Stellungnahme des Oberarztes Dr. H., Kinder- und Jugendpsychiatrie der I. -Universität C. - Bereich Humanmedizin - vom 20.10.2004 ergänzend vor, dass er infolge der Ereignisse auf dem Flugplatz von Cabinda an einer posttraumatischen Belastungsstörung (ICD-10 F 43.1) erkrankt sei; auf die Stellungnahme von Dr. H. wird Bezug genommen.

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Der Kläger beantragt,

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die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 04.03.2003 zu verpflichten, den Kläger als Asylberechtigten anzuerkennen und festzustellen, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 AuslG vorliegen.

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Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

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Sie bezieht sich zur Begründung auf den angefochtenen Bescheid.

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Der Beteiligte hat sich zur Sache nicht geäußert und keinen Antrag gestellt.

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Nach Anhörung der Beteiligten hat die Kammer den Rechtsstreit dem Berichterstatter als Einzelrichter zur Entscheidung übertragen. Das Gericht hat Beweis erhoben durch die Einholung eines ergänzenden Gutachtens von Dr. H. in der mündlichen Verhandlung zu Protokoll. Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhaltes und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die den Beteiligten vorab übersandte Erkenntnismittelliste, die Gerichtsakte und die beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge Bezug genommen. Die Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung und Entscheidungsfindung gewesen.

Entscheidungsgründe

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Die zulässige und auch sonst statthafte Klage ist lediglich begründet, soweit der Kläger die Feststellung eines Abschiebungshindernisses gemäß § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG begehrt. Dagegen ist der angefochtene Bescheid der Beklagten, soweit mit ihm der Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigter abgelehnt und festgestellt wurde, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG sowie Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1 und 4 AuslG nicht vorliegen, rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten.

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Ausländern steht nach Art. 16 a Abs. 1 GG i. V. m. Art. 1 des Abkommens über die Rechtsstellung der Flüchtlinge - Genfer Flüchtlingskonvention - ein Asylanspruch zu, wenn ihnen im Heimatstaat politische Verfolgung droht, also wenn ihnen in Anknüpfung an ihre politische Überzeugung, ihre religiöse Grundentscheidung oder andere für sie unverfügbare Merkmale, die ihr Anderssein prägen, gezielt Rechtsverletzungen zugefügt werden, die sie ihrer Intensität nach aus der übergreifenden Friedensordnung der staatlichen Einheit ausgrenzen. Die spezifische Zielrichtung der behaupteten Verfolgung ist anhand ihres inhaltlichen Charakters nach dem erkennbaren Zweck und nicht nach den subjektiven Motiven des Verfolgenden zu ermitteln (BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989 - 2 BvR 502/86 u. a. -, InfAuslR 1990, 21, 26f).

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Auch Verfolgungsmaßnahmen Dritter können politische Verfolgung bedeuten. Dies setzt allerdings voraus, dass sie dem jeweiligen Staat zuzurechnen sind. Insoweit kommt es darauf an, ob der Staat dem Betroffenen mit den ihm an sich zur Verfügung stehenden Mitteln Schutz gewährt. Es begründet aber auch die Zurechnung, wenn der Staat zur Schutzgewährung entweder nicht bereit ist oder wenn er sich nicht in der Lage sieht, die ihm an sich verfügbaren Mittel im konkreten Fall gegenüber Verfolgungsmaßnahmen bestimmter Dritter hinreichend einzusetzen (vgl. BVerfG, aaO.). Einer bereits eingetretenen Verfolgung steht dabei die unmittelbar drohende Gefahr der Verfolgung gleich (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85 u. a. -, DVBl. 1991, 531 ff.).

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Auf das Individualgrundrecht des Art. 16 a Abs. 1 GG kann sich nur berufen, wer in eigener Person politische Verfolgung erlitten oder zu befürchten hat. Die Gefahr eigener politischer Verfolgung eines Asylsuchenden kann sich auch aus gegen Dritte gerichteten Maßnahmen ergeben, wenn diese Dritten wegen eines asylerheblichen Merkmals verfolgt werden, das er mit ihnen teilt, und wenn er sich mit ihnen in einer nach Ort, Zeit und Wiederholungsträchtigkeit vergleichbaren Lage befindet. Diese Gruppengerichtetheit der Verfolgung kann dazu führen, dass jedes Mitglied der Gruppe im Verfolgerstaat eigener Verfolgung jederzeit gewärtig sein muss (vgl. BVerfG, Beschluss vom 23.01.1991 - 2 BvR 902/85 u. a. -, BVerfGE 83, 216, 230 ff.; BVerwG, Urteil vom 05.07.1994 - 9 C 158/94 -, InfAuslR 1994, 424).

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Wer nur von regionaler politischer Verfolgung betroffen ist, ist erst dann politisch Verfolgter i. S. v. Art. 16 a Abs. 1 GG, wenn er dadurch landesweit in eine ausweglose Lage versetzt wird. Das ist der Fall, wenn er in anderen Teilen seines Heimatstaates eine zumutbare Zuflucht (inländische Fluchtalternative) nicht finden kann, also in anderen Regionen nicht hinreichend sicher ist oder ihm dort andere existenzielle Nachteile und Gefahren drohen, die nach ihrer Intensität und Schwere einer asylerheblichen Rechtsgutbeeinträchtigung aus politischen Gründen gleichkommen (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, aaO.). Das Bestehen einer innerstaatlichen Fluchtalternative ist allerdings nur dann zu prüfen, wenn es konkrete Anhaltspunkte dafür gibt, dass der Verfolgerstaat Personen, die er in einem Landesteil verfolgt, in einer anderen Region unbehelligt lässt ("Mehrgesichtigkeit", vgl. BVerwG, Urteil vom 10.05.1994 - 9 C 434/93 -, DVBl. 1994, 1407, 1409).

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Nicht zur Seite steht das Asylrecht allerdings denen, die aufgrund der allgemeinen Zustände in ihrem Heimatstaat in die Bundesrepublik Deutschland gekommen sind, wie z. B. Flüchtlingen, die aufgrund wirtschaftlicher Not, einer schlechten Arbeitsmarktlage, Hunger, Naturkatastrophen oder allgemeiner Auswirkungen von Unruhen, Revolutionen und Kriegen aus ihrem Heimatstaat ausgereist sind (vgl. BVerfG, Beschluss vom 10.07.1989, aaO.).

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Gemessen an diesen Grundsätzen kann das Vorbringen des Klägers keinen Asylanspruch begründen. Im jetzigen Zeitpunkt (vgl. § 77 Abs. 1 AsylVfG) besteht selbst dann, wenn das Gericht im Gegensatz zu der im angefochtenen Bescheid vertretenen Auffassung den Vortrag des Klägers als wahr unterstellt, unter Annahme des herabgestuften Wahrscheinlichkeitsmaßstabes kein Anhaltspunkt dafür, dass der Kläger als Sohn eines von den angolanischen Sicherheitskräften vor mehr als zwei Jahren getöteten FLEC-FAC-Aktivisten bei einer Rückkehr nach Angola im Rahmen des Art. 16 a Abs. 1 GG relevante politische Verfolgung oder existenzbedrohende wirtschaftliche Gefahren zu befürchten hätte.

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Nach den vorliegenden und in das Verfahren eingeführten Erkenntnismitteln wurden die verschiedenen Fraktionen der Separatismusbewegung FLEC im Herbst 2002 durch angolanische Regierungsstreitkräfte nahezu aufgerieben, ihre Hauptquartiere eingenommen und große Mengen Kriegsmaterial zerstört. Effektive Gebietskontrolle über Teile von Cabinda üben Fraktionen der FLEC seither nicht mehr aus, sondern beschränken ihre Aktivitäten im Wesentlichen auf gelegentliche Überfälle im unübersichtlichen Dschungelgebiet von den Nachbarstaaten aus. Während in der Cabinda-Region bis in die zweite Jahreshälfte 2003 erhebliche und schwer wiegende Menschenrechtsverletzungen durch angolanische Streit- und Sicherheitskräfte begangen wurden (vgl. amnesty international, Jahresbericht 2004 und Auskunft an das VG Münster vom 22.04. 2004), ist von einer Verfolgung von Mitgliedern oder Sympathisanten der FLEC außerhalb der Cabinda-Exklave nichts bekannt geworden. In Luanda bekennen sich Vertreter der Unabhängigkeit Cabindas offen zu ihren Positionen und publizieren diese beispielsweise in den Medien, ohne dass sie deshalb Repressionen durch staatliche Stellen ausgesetzt wären. Die soziale Integration ehemaliger FLEC-Mitglieder soll nach entsprechenden öffentlichen Erklärungen seitens des Sozialministeriums gefördert werden (Auswärtiges Amt, Lagebericht vom 23.04.2004 und Auskunft an das VG Kassel vom 08.07.2003). Die verschiedenen Fraktionen der FLEC haben sich nach eigenem Bekunden am 29.08.2004 wiedervereinigt (www.cabinda. net); Mitglieder haben in London (GB) eine Exilregierung der „Republic of Cabinda“ unter dem Ministerpräsidenten N'Zita Henriques Tiago gebildet, die aber nicht international anerkannt ist.

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Unter diesen Umständen wäre zwar eine politische Verfolgung von FLEC-Mitgliedern in der Exklave Cabinda im Juni 2002 und auch im gegenwärtigen Zeitpunkt nicht ausgeschlossen; zu denen zählt der Kläger aber nicht. Seiner Darstellung der Ereignisse um den Flug von Luanda nach Cabinda am 15.06.2002 ist kein Anhaltspunkt zu entnehmen, dass angolanische Sicherheitskräfte an ihm und seinem Bruder ein Interesse gehabt hätten, welches über die Identifizierung der Empfängerperson der transportierten Taschen auf dem Flughafen von Cabinda hinausging; andernfalls hätten sie sich nicht ohne Weiteres vom Flughafengelände entfernen können, nachdem Sicherheitskräfte bereits Schusswaffen gebraucht hatten. Davon abgesehen, ist nicht ansatzweise erkennbar, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr zu seiner Tante nach Luanda - weder im Juni 2002 noch gegenwärtig - einer politischen Verfolgung ausgesetzt wäre. Daher ist er darauf zu verweisen, dass ihm an seinem letzten dauerhaften angolanischen Wohnort Luanda eine innerstaatliche Fluchtalternative zur Verfügung gestanden hat und weiterhin steht, an dem auch eine aktive Unterstützung der FLEC aller Voraussicht nach keine asylrelevanten Maßnahmen nach sich zieht (i. E. ebenso Nds.OVG, Urteil vom 01.03.2001 - 1 L 649/00 -; VG Stade, Urteil vom 16.04.2003 - 3 A 530/01 -).

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Es ist auch nicht hinreichend wahrscheinlich, dass dem Kläger in Luanda das Existenzminimum nicht zur Verfügung stehen könnte. Ein verfolgungssicherer Ort bietet dem Ausländer das wirtschaftliche Existenzminimum grundsätzlich immer dann, wenn er durch eigene Arbeit oder durch Zuwendungen von dritter Seite jedenfalls nach Überwindung von Anfangsschwierigkeiten das zu seinem Lebensunterhalt unbedingt Notwendige erlangen kann. Das ist nicht der Fall, wenn der Asylsuchende am Ort der inländischen Fluchtalternative bei der gebotenen grundsätzlich generalisierenden Betrachtungsweise auf Dauer ein Leben zu erwarten hat, das zu Hunger, Verelendung und schließlich zum Tode führt, oder wenn er dort nichts anderes zu erwarten hat als ein Dahinvegetieren am Rande des Existenzminimums. Andere als durch die politische Verfolgung bedingte Nachteile und Gefahren, die an einem verfolgungssicheren Ort drohen, schließen diesen Ort als inländische Fluchtalternative nur aus, wenn eine gleichartige existenzielle Gefährdung am Herkunftsort nicht bestünde (BVerwG, Beschluss vom 31.07.2002 - 1 B 128.02 -, InfAuslR 2002, 455-456). Dem Kläger und seinem Bruder standen bis Juni 2002 in Luanda genügend Mittel zur Verfügung, um neben dem Schulbesuch auch regelmäßige Flüge der Brüder zwischen Cabinda und Luanda zu finanzieren; auch die Verwandten in Cabinda verfügten offensichtlich über ausreichende Mittel, um die kurzfristige Ausreise beider Brüder auf dem Luftweg über Brazzaville und Südafrika zu finanzieren, so dass von einer wirtschaftlichen Notlage keine Rede sein kann.

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Es besteht auch keine durch sachverständige Stellen belegbare beachtliche Wahrscheinlichkeit dafür, dass der Kläger wegen seiner Volkszugehörigkeit zur Ethnie der Bakongo in Luanda staatliche oder dem Staat zurechenbare Repressionen zu fürchten hätte. Das Auswärtige Amt hat eine Verfolgung der Bakongo wiederholt verneint (Lageberichte vom 26.06.2002 und vom 18.12.2001, jeweils Abschn. II Nr. 1 lit. c; Auskunft vom 09.03.2001 an VG Hannover). Auch amnesty international hat keine Erkenntnisse über eine systematische Verfolgung von Angehörigen der Bakongo. Eine Gefährdung wegen der Asylantragstellung im Ausland ist gleichfalls nicht beachtlich wahrscheinlich. Es lässt sich nicht erhärten, dass die Einreisekontrollen für Rückkehrer aus Europa staatliche Repressionen zur Folge haben. Schließlich ist nach dem Waffenstillstand vom 04.04.2002 und wegen des "Vierten Amnestiegesetzes" vom 02.04.2002, das den Prozess nationaler Versöhnung fördern soll, auch nicht zu befürchten, dass der Kläger wegen einer früheren Verwicklung in den Bürgerkrieg mit staatlichen Repressionen zu rechnen hätte (vgl. OVG Magdeburg, Urteil vom 13. 02.2003 - 2 L 376/95 -).

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Liegt es somit auf der Hand, dass dem Kläger bei Rückkehr in die Heimat keine politische Verfolgung droht, so entfällt ebenso der Abschiebungsschutz gemäß § 51 Abs. 1 AuslG, denn auch insoweit ist das Vorliegen politischer Verfolgung tatbestandsbegründend. Der hierbei gültige Prognosemaßstab ist deckungsgleich mit dem im Asylanerkennungsverfahren nach Art. 16 a Abs. 1 und 3 GG anzuwendenden.

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Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 1 und 4 AuslG liegen hinsichtlich des Klägers ebenfalls nicht vor. Es bestehen nach seinem Vorbringen und den vorliegenden Erkenntnismitteln keine Anhaltspunkte, dass dem Kläger bei einer Rückkehr nach Luanda (Angola) die konkrete Gefahr drohen könnte, im Sinne des § 53 Abs. 1 AuslG der Folter unterworfen zu werden, oder dass ihm dort wegen einer Straftat die Verhängung der Todesstrafe drohen würde (§ 53 Abs. 2 Satz 1 AuslG). Die Todesstrafe ist in Angola abgeschafft, was zwar sog. "extralegale" Vorgehensweisen bei der Polizei und beim Militär nicht ausschließt; es gibt aber keinerlei besondere Anhaltspunkte beim Kläger dafür, dass dieser mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit konkret gefährdet wäre. Das Bundesverwaltungsgericht hat unter Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, insbesondere der Urteile vom 29.04.1997 - 11/196/630/ 813 - und vom 02.05.1997 - 146/1996/767/ 964 - ausdrücklich entschieden, dass ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK nur dann in Betracht kommt, wenn die dem Ausländer im Zielstaat drohende Misshandlung vom Staat oder einer staatsähnlichen Organisation ausgeht oder zu verantworten ist (BVerwG, Urteil vom 02.09.1997 - 9 C 40.96 -, BVerwGE 105, 187; Urteil vom 15.04.1997 - 9 C 38.96 -, BVerwGE 104, 265; ebenso Nds.OVG, Beschluss vom 19.01.2001 - 8 L 4049/00 - und vom 11.01.2001 - 12 LA 323/01; VGH Kassel, Urteil vom 15.02.2000, a.a.O., m.w.N.). Für die Feststellung einer in diesem Sinne drohenden Gefahr bedarf es konkreter Hinweise und Anhaltspunkte, die für jeden Einzelfall spezifiziert nachzuweisen sind und die ein geplantes, vorsätzliches und auf die jeweils bestimmte Person gerichtetes Handeln verlangen; hierfür ist nichts ersichtlich.

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Die Voraussetzungen des § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG sind dagegen erfüllt, so dass die Beklagte insofern zur Feststellung zu verpflichten ist. Diese Vorschrift setzt im Einzelfall eine erhebliche, individuell konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit voraus. Es muss mithin eine schwere existenzielle Bedrohung konkret zu befürchten sein, die sich nicht schon aus der allgemeinen, von einer desolaten wirtschaftlichen Situation und den Nachwirkungen des im Frühjahr 2002 beendeten Bürgerkrieges gekennzeichneten Lage in Angola herleiten ließe. Allgemeine Gefahren, die nicht nur dem betreffenden Ausländer, sondern zugleich der ganzen Bevölkerung oder einer Bevölkerungsgruppe drohen, begründen auch dann nicht Abschiebungshindernisse nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG, wenn sie den Ausländer konkret und individualisierbar betreffen; sie sind einer politischen Leitentscheidung im Sinne des § 54 AuslG vorbehalten. Lediglich wenn einem Ausländer im Zielstaat im Ausnahmefall so erhebliche konkrete Gefahren für Leib, Leben oder Freiheit drohen, dass unmittelbar aus dem Grundgesetz die Gewährung von Abschiebungsschutz geboten ist (Art. 1 GG, Art. 2 Abs. 2 GG), sind allgemeine Gefahren durch eine verfassungskonforme einschränkende Auslegung des § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG zu berücksichtigen.

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Eine extreme Gefahrenlage ist allerdings weder in den allgemeinen Lebensbedingungen in Luanda noch in der Gefahr zu sehen, dort an einer der gefährlichen Infektionskrankheiten wie z. B. Malaria zu erkranken (i.E. ebenso OVG Magdeburg, Urteil vom 13. 02.2003 - 2 L 376/95 -, m.w.N.). Die Lage in Angola hat sich grundsätzlich mit dem Tod des Anführers der Rebellenorganisation UNITA, Jonas Savimbi, im Februar 2002 und der darauf folgenden Einstellung der militärischen Handlungen im März 2002 entscheidend geändert. Der bewaffnete Konflikt, der Angola über Jahrzehnte geprägt hat, ist beendet und eine Wiederaufnahme wird in Angola allgemein ausgeschlossen. Dennoch ist die humanitäre Situation als kritisch zu bezeichnen. Dies gilt nicht nur für die Versorgung mit Lebensmitteln; auch die Mortalitätsrate von sieben bis fünfzehn pro 10.000 Menschen pro Tag übertrifft den oft angewendeten Schwellenwert für humanitäre Interventionen von zwei Todesopfern pro 10.000 Menschen pro Tag bei weitem. Die Situation hat sich zwar ab Mitte 2002 auch durch die Tätigkeit internationaler Hilfsorganisationen verbessert; dennoch ist die Versorgungslage mit Nahrungsmitteln in weiten Teilen des Landesinnern Angolas weiterhin sehr kritisch. Bezogen auf den Großraum Luanda ist allerdings eine - wenn auch am unteren Rand des Menschenwürdigen liegende - Versorgung gegeben; von einer Hungersnot in Luanda ist in den vorliegenden Erkenntnismitteln keine Rede. Bedenklich sind zwar die Lebensbedingungen für behinderte Menschen ohne familiäre Unterstützung und Kinder ohne familiären Rückhalt; diese Kriterien treffen auf den Kläger jedoch nicht zu. Er hat bis Juni 2002 in Luanda gelebt, kennt also die dortigen Verhältnisse und verfügt nunmehr über zusätzliche Kenntnisse durch seinen Auslandsaufenthalt in der Bundesrepublik. Es ist nicht bekannt, dass er an bestimmten Krankheiten leidet und er ist in einem günstigen Lebensalter, um sich seine im Ausland erworbenen Kenntnisse zu Nutze machen zu können.

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Das Gericht kann auch nicht davon ausgehen, dass der Kläger aufgrund fehlender Anpassungsmöglichkeiten seines Immunsystems "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod" entgegengeht. Der Kläger ist gesundheitlich nicht vorbelastet und hat bis zum seinem 15. Lebensjahr in Angola gelebt. Der Gutachter Dr. J. stellt in seinem Gutachten vom 15.10.2001 die Situation in Angola im Vergleich zu Deutschland dar und hat dabei die Wahrscheinlichkeit schwerwiegender gesundheitlicher Schäden bzw. ein erhöhtes Sterberisiko in Angola untersucht. Daraus ergibt sich insbesondere, dass die Mortalität im Hinblick auf Malaria im Vergleich zur Bundesrepublik um ein Vielfaches gesteigert ist; danach sterben in Angola von 100.000 Einwohnern 168 pro Jahr an Malaria. Dr. J. führt in seinem Gutachten weitere Krankheiten auf, wie z. B. die Schlafkrankheit, HIV, Lungenentzündung, Tuberkulose sowie Mangel- und Fehlernährung. Insgesamt ist die Gefahr, an Infektionskrankheiten und parasitären Erkrankungen zu sterben, im Vergleich zu Deutschland um das 53fache erhöht. Dr. J. stellt in dem genannten Gutachten dar, dass die längere Abwesenheit aus einer tropischen Region einen der gravierenden Risikofaktoren für eine Malariaerkrankung darstellt. Ein Kind, das in einem Gebiet mit hoher Malariaübertragungswahrscheinlichkeit wie z. B. Angola geboren werde, entwickle über die Jahre einen relativen Schutz. Dieser schütze zwar nicht vor erneuten Infektionen, jedoch vor den tödlichen Komplikationen derselben. Erwachsene, die über mehrere Jahre aus einem derartigen Gebiet abwesend gewesen seien, verlören diesen relativen Schutz und seien damit wieder durch jede Malariainfektion lebensgefährlich gefährdet. Vergleichbares gelte für andere Erreger, gegen die kein permanenter Immunschutz durch einmalige überstandene Infektion oder Impfung aufgebaut werden könne. Dazu zählten vor allem zahlreiche infektiöse Magen- und Darmerkrankungen. Man könne der Gefahr, an Malaria zu erkranken, durch ein Moskitonetz vorbeugen. Diese Methode senke das Erkrankungsrisiko, sei aber individuell keine sichere Methode, eine Malaria regelmäßig zu verhindern. Außerdem gebe es die Chemoprophylaxe, die die Entwicklung einer Malaria durch regelmäßige Einnahme von Medikamenten unterdrücke. Diese Methode könne jedoch nicht dauerhaft angewandt werden. Selbst wenn für den Kläger angenommen würde, dass er seine mit großer Wahrscheinlichkeit erworbene Semi-Immunität durch seinen mehr als zweijährigen Auslandsaufenthalt verloren hätte, muss dennoch eine Extremgefahr für ihn ausgeschlossen werden. Selbst wenn man von einer hohen Erkrankungshäufigkeit und der oben genannten Sterblichkeitsrate ausgeht, stellt dies keine Extremgefahr dar. Die Höhe der Sterblichkeitsrate bedeutet nicht, dass jeder Abgeschobene "gleichsam sehenden Auges dem sicheren Tod" entgegengeht. Es kommt hinzu, dass es wirksame und kostengünstige Prophylaxemöglichkeiten gibt, wie beispielsweise das imprägnierte Moskitonetz. Auch das Risiko, an einer der weiteren genannten Krankheiten zu erkranken oder zu sterben, kann nicht als extrem erhöht angesehen werden (ebenso Hess.VGH, Urteil vom 14.10.2003 - 3 UE 466/02.A -).

26

Der Kläger kann aber angesichts seines Krankheitsbildes die Feststellung beanspruchen, dass bei ihm ein Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG bezüglich Angolas vorliegt. Dies hat seinen Grund nicht bereits darin, dass sich seine Krankheit in seinem Heimatstaat in erheblicher Weise verschlimmern könnte, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend oder für ihn nicht erreichbar sind (vgl. BVerwG, Urt. v. 27.04.1998 - 9 C 13.97 -, NVwZ 1998, 973; Urt. v. 25.11.1997 - 9 C 58.96 -, NVwZ 1998, 524, 525). Ungeachtet der Behandlungsmöglichkeiten in Angola ist dem Kläger eine Rückkehr nicht zuzumuten, weil dadurch mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit eine Retraumatisierung mit erheblicher Verschlechterung seines Gesundheitszustandes unter erheblicher Steigerung seiner Suizidalität verursacht werden würde. Zu diesem Ergebnis ist der Gutachter Dr. H. aufgrund einer Untersuchung des Klägers gekommen. Er führte in der mündlichen Verhandlung aus, dass dem Kläger im Falle seiner Rückkehr nach Angola mit hoher Wahrscheinlichkeit eine Retraumatisierung droht, weil er dort den allgegenwärtigen Triggern - insbesondere der Sturz einer Person auf den Boden, blutende Verletzungen oder ein Knall - ausgesetzt wäre, ohne die subjektive Sicherung durch ein hinreichendes soziales Netz zu besitzen. Das Gutachten begründet die Ergebnisse in sich schlüssig und widerspruchsfrei in einer auch für den medizinischen Laien verständlichen, nachvollziehbaren Art und Weise; das Gericht hat deshalb keinen Zweifel an der Richtigkeit der gefundenen Diagnose sowie der daraus für die Beantwortung der Beweisfragen gezogenen Schlussfolgerungen.

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Dieser erheblichen weiteren Gefahr für den ohnehin schlechten psychischen Gesundheitszustand des Klägers kann nicht dadurch wirksam begegnet werden, dass er sich unverzüglich nach einer Rückkehr in den Heimatstaat in psychologische Behandlung - sofern eine solche in Angola verfügbar sein sollte - begibt, in deren Rahmen eine Retraumatisierung gleich mit behandelt werden könnte. Eine Behandlung von seelischen Wunden ist nämlich nur dann sinnvoll und Erfolg versprechend, wenn sie nicht durch die tägliche Konfrontation mit der Umgebung und den dort verorteten leidvollen Erinnerungen wieder neu aufgerissen werden. Es geht also nicht nur um die Sicherung der Fortsetzung eines eventuell in Deutschland eingeleiteten Heilungsprozesses im Heimatstaat, sondern insbesondere auch um den Schutz vor eigenständigen neuen seelischen Verletzungen (vgl. Treiber, Fallgruppen traumatisierter Flüchtlinge im Asylverfahren, www.bafl.de/ template/publikationen/asylpraxis_pdf; i.E. ebenso: VG Göttingen, Urteil vom 23.03.2004 - 3 A 3237/02 -; VG Düsseldorf, Urt. v. 14.02.2003 - 26 K 6089/02.A - ; VG Sigmaringen, Urt. v. 25.09.2001 - A 4 K 11142/00 - und Urt .v. 11.05.1999 - 7 K 2297/98 -; VG Wiesbaden, Urt. v. 05.01.2000 - 9 E 30344/94.A -; VG München, Urt .v. 23.06.1999 - M 26 K 97.51801 -; VGH BW, Beschl. v. 07.05.2001 - 11 S 389/01 -, AuAS 2001, 174; BayVGH, Urt. v. 20.10.1999 - 23 B 98.30524 -). Da es dem bestellten Gutachter nicht möglich war, die Gefahr einer erneuten Traumatisierung des Klägers räumlich auf den Ort, an dem die Verletzungshandlung erfolgte, oder auch nur regional einzugrenzen, kann der Kläger nicht auf eine Aufenthaltnahme an anderen Orten in Angola als Alternative zur Gewährung von Abschiebungsschutz verwiesen werden.

28

Die Feststellung eines Abschiebungshindernisses kann im vorliegenden Fall schließlich auch nicht daran scheitern, dass die Anzahl traumatisierter Personen aus Angola so groß wäre, dass eine Entscheidung nach § 54 AuslG erforderlich und individueller Abschiebungsschutz deshalb nur nach § 53 Abs. 6 Satz 2 AuslG - bei extremer Gefahrenlage, die nach den obenstehenden Ausführungen jedoch nicht vorliegt - zu gewähren wäre. Unabhängig davon, ob eine „in Deutschland lebende angolanisch-stämmige Bevölkerungsgruppe bürgerkriegsbedingt Traumatisierter“ schon deshalb nicht besteht, weil es sich um eine Schädigung durch jeweils individuelle Erlebnisse handelt (vgl. hierzu OVG Münster, Beschl. v. 19.11.1999 - 19 B 1599/98 -; OVG Saarl., Beschl. v. 20.09.1999 -9 Q 286/98 -), wäre ein solche Gruppe gleichartig Geschädigter nach Einschätzung des Gerichts nicht groß genug, dass es einer politischen Leitentscheidung nach § 54 AuslG - wegen der weitreichenden Folgewirkungen als politische Grundsatzentscheidung (vgl. BVerwG, Urteil vom 17.10.1995 - 9 C 9.95 -, BVerwGE 99, 324-331) - bedürfte.

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Die Kostenentscheidung beruht auf § 155 Abs. 1 Satz 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit findet ihre Grundlage in § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.