Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 11.04.2000, Az.: 15 K 857/97
Kinderfreibetrag, wenn das behinderte Kind Eigentümer einer Eigentumswohnung ist
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 11.04.2000
- Aktenzeichen
- 15 K 857/97
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 21885
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2000:0411.15K857.97.0A
Fundstelle
- DStRE 2001, 237-238 (Volltext mit amtl. LS)
Tatbestand
Streitig ist, ob die Klägerin (Kl'in) für das Streitjahr 1996 für ihre Tochter einen Kinderfreibetrag beanspruchen kann.
Die Kl'in ist alleinstehend. Ihre im Jahre 1969 geborene Tochter lebte von Januar bis Juli 1996 in ihrem Haushalt und ab August des Streitjahres in einer eigenen Wohnung in ... Die Tochter war zum 1. Januar 1996 für die Wohnung der Kl'in gemeldet.
Die Tochter der Kl'in leidet an einer chronischen schizophrenen Psychose. Ihr Grad der Behindert ist mit Wirkung vom 31. Januar 1996 vom Versorgungsamt ... mit 80 v.H. festgestellt.
Die Tochter der Kl'in war Eigentümerin einer im Streitjahr vermieteten Eigentumswohnung in ..., die sie nach dem Tod ihres Vaters im Jahre 1994 geerbt hatte. Mieteinnahmen aus der Wohnung beliefen sich auf jährlich ... DM, die Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung auf ... DM.
In dem angefochtenen Einkommensteuerbescheid 1996 zog das Finanzamt (FA) weder einen Kinderfreibetrag noch einen Haushaltsfreibetrag ab. Es vertrat die Auffassung, dass die Tochter der Kl'in in der Lage gewesen sei, sich selbst zu unterhalten und deshalb die Berücksichtigung eines Kinderfreibetrages nicht in Betracht komme. Denn es sei ihr zuzumuten, zunächst die Eigentumswohnung zu verkaufen und ihren Lebensunterhalt aus dem Veräußerungserlös zu bestreiten.
Der hiergegen gerichtete Einspruch blieb ohne Erfolg.
Die Kl'in hat Klage erhoben, zu deren Begründung sie vorbringt, dass ihre Tochter aufgrund der Behinderung nicht in der Lage sei, ihren Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Um die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit der Tochter zu fördern, habe sie eine in der Nähe gelegene Eigentumswohnung erworben und an die Tochter vermietet, damit diese lerne, einen eigenen Haushalt zu führen. Langfristig sei geplant, dass die Tochter in die von ihrem Vater geerbte Wohnung einziehe. Schon aus diesem Grunde sei es der Tochter nicht zumutbar zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes die Eigentumswohnung zu verkaufen.
Die Kl'in beantragt,
den Einkommensteuerbescheid 1996 vom ... unter Aufhebung des Einspruchsbescheides vom ... dahingehend abzuändern, dass die Einkommensteuer auf ... DM festgesetzt wird.
Der Beklagte (Bekl.) beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Bekl. hält an seiner im Vorverfahren vertretenen Rechtsauffassung fest. Die Tochter sei zunächst gehalten, zur Bestreitung ihres Lebensunterhaltes ihr eigenes Vermögen zu verwerten. Der Verkauf der Eigentumswohnung, die offensichtlich einen Wert von weit über 30.000,00 DM habe und deshalb kein geringfügiges Vermögen im Sinne von R 190 Abs. 3, R 180 d Abs. 3 Satz 5 der Einkommensteuerrichtlinien - EStR - darstelle, sei ihr auch zuzumuten, da sie die Wohnung nicht selbst bewohne. Die vage Aussicht, die Tochter werde die Wohnung künftig einmal selbst beziehen, lasse den Verkauf nicht als unzumutbar erscheinen.
Die Beteiligten haben sich mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt.
Gründe
Die Klage ist begründet.
Die Kl'in hat einen Anspruch auf Abzug eines Kinderfreibetrages nach § 32 Abs. 5 i.V.m. Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Einkommensteuergesetz - EStG -, eines Haushaltsfreibetrages nach § 32 Abs. 7 EStG und eines Behindertenpauschbetrages nach § 33b Abs. 2 und 3 i.V.m. Abs. 5 EStG.
1.
Nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist ein Kinderfreibetrag für ein Kind, welches das 18. Lebensjahr vollendet hat, abzuziehen, wenn das Kind wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten.
Das Tatbestandsmerkmal "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten" ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Nach der ständigen Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs - BFH - ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Dies ist dann der Fall, wenn die Behinderung einer Erwerbstätigkeit entgegensteht und das Kind keine anderen Einkünfte oder Bezüge hat (BFH-Urteile vom 12. November 1996 III R 53/95, BStBl II 1997, 173, und vom 15. Oktober 1999 VI R 40/98, BStBl II 2000, 75). Die Fähigkeit des Kindes seinen Lebensunterhalt selbst bestreiten zu können, ist durch eine Gegenüberstellung seiner finanziellen Mittel und seines Unterhaltsbedarfs festzustellen.
Im Streitfall bemisst sich der Unterhalt der Tochter der Kl'in nach dem sog. Grundbedarf, denn es bestehen keine Anhaltspunkte dafür, dass sie darüber hinaus einen behinderungsbedingten Mehrbedarf hatte. Der Grundbedarf für das Streitjahr 1996 kann in Anlehnung an § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG mit einem Betrag in Höhe von 12.000,00 DM angenommen werden (vgl. auch BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 40/98 a.a.O.). Diesen Unterhaltsbedarf konnte die Tochter der Kl'in nicht durch eigene Einkünfte oder Bezüge abdecken. Unstreitig war sie nicht in der Lage, eine eigene Gewerbstätigkeit auszuüben; ihre Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung betrugen im Streitjahr nur ... DM und lagen deshalb weit unter diesem das Existenzminimum abdeckenden Grundbetrag.
Die Tochter der Kl'in wäre nur imstande, ihren Lebensunterhalt aus eigenen Mitteln zu bestreiten, wenn sie gehalten gewesen wäre, ihre Eigentumswohnung zu veräußern und den nach Abzug der darauf lastenden Grundverbindlichkeiten verbleibenden Veräußerungserlös für ihren Lebensunterhalt einzusetzen. Hiervon geht die Finanzverwaltung in Abschn. 180 d Abs. 3 EStR unter Bezugnahme auf Abschn. 190 Abs. 2 EStR aus. Danach kommt ein Abzug eines Kinderfreibetrages nicht in Betracht, wenn das Kind über mehr als ein geringfügiges Vermögen verfügt. Ein mehr als geringfügiges Vermögen liegt danach grundsätzlich dann vor, wenn es höher ist als 30.000,00 DM.
Der Senat folgt dieser Auffassung nicht. Die Formulierung in § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG ist allerdings weitgehend identisch mit der Formulierung in § 1602 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuches - BGB -. Danach ist unterhaltsberechtigt nur, "wer außerstande ist, sich selbst zu unterhalten". Eine Unterhaltsbedürftigkeit setzt, wie sich insbesondere aus § 1602 Abs. 2 BGB ergibt, voraus, dass der Unterhaltsberechtigte vermögenslos ist. Grundsätzlich ist danach vorhandenes Vermögen zunächst für den eigenen Unterhalt einzusetzen, es sei denn, die Verwertung des Vermögens sei unwirtschaftlich. Diese zivilrechtliche Auslegung der Unterhaltsbedürftigkeit kann jedoch für das Einkommensteuergesetz nicht uneingeschränkt übernommen werden. Denn der zivilrechtliche Unterhaltsanspruch ist auf den angemessenen Unterhalt, der sich nach der Lebensstellung des Unterhaltsberechtigten bestimmt (§ 1610 BGB) gerichtet. Der zivilrechtliche Unterhaltsanspruch geht somit über die Sicherung des Existenzminimums hinaus. Dagegen soll durch den Kinderfreibetrag lediglich das Existenzminimum, der sog Grundbedarf, abgedeckt werden. Die Frage, unter welchen Umständen außerstande ist, seinen Unterhalt selbst zu bestreiten ist deshalb nach den Vorschriften des Einkommensteuergesetzes zu bestimmen.
§ 32 Abs. 4 Nr. 1 und 2 EStG macht den Anspruch auf Abzug eines Kinderfreibetrages bei einem nicht behinderten Kind nicht davon abhängig, dass dieses Kind über kein oder nur ein geringfügiges Vermögen verfügt. Hieraus folgt nach Auffassung des Senats, dass auch für behinderte Kinder ein vorhandenes Kindesvermögen der Gewährung des Kinderfreibetrages nicht entgegen steht. Die Voraussetzungen, unter denen ein Kind nach § 32 Abs. 4 Nr. 1 und 2 EStG einerseits und nach § 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG andererseits zu berücksichtigen ist, weicht nach dem Wortlaut des Gesetzes voneinander ab. Denn nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG sind Einkünfte und Bezüge des Kindes nach dem Gesetzeswortlaut nur bei nicht behinderten Kindern zu berücksichtigen. Die Rechtsprechung des BFH (Urteile vom 15. Oktober 1999 VI R 183/97, BStBl II 2000, 72; VI R 40/98, BStBl II 2000, 75, und VI R 182/98, BStBl II 2000,79) hat die Voraussetzungen, unter denen ein behindertes Kind zu berücksichtigen ist, insoweit der Regelung für nicht behinderte Kinder angeglichen, als auch Einkünfte und Bezüge des behinderten Kindes den Abzug eines Kinderfreibetrages dann ausschließen, wenn das Kind hiervon seinen Lebensunterhalt bestreiten kann. Wenn die Voraussetzungen, unter denen ein behindertes Kind zu berücksichtigen ist, den Regelungen für nicht behinderte Kinder hinsichtlich der Einkommensverhältnisse angepasst werden, gebietet es nach Auffassung des Senats der Gleichheitsgrundsatz, auch vorhandenes Kindesvermögen bei einem behinderten Kind - wie bei nicht behinderten Kindern auch - als unschädlich für den Abzug eines Kinderfreibetrages anzusehen (vgl. auch Kanzlei in Hermann Heuer/Raupach, Kommentar zum Einkommen- und Körperschaftsteuerrecht, § 32, Rdz. 118). Dem steht nicht entgegen, dass die Unterhaltsbedürftigkeit bei Kindern nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 und 2 EStG zeitlich beschränkt und nur vorübergehend ist, während behinderte Kinder, die wegen ihrer Behinderung nicht imstande sind, ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, auf dauernde Unterhaltsleistungen angewiesen sind. Dieser Gesichtspunkt rechtfertigt es vielmehr, Kindervermögen bei dem Abzug des Kinderfreibetrages unberücksichtigt zu lassen, denn das Kindesvermögen kann in diesen Fällen dazu dienen, den Lebensunterhalt des Kindes auch über den Tod der Eltern hinaus zumindest teilweise zu sichern.
Gegen die Berücksichtigung des Kindesvermögens spricht weiterhin auch § 33a Abs. 1 Satz 3 EStG. Dort wird der Abzug von Unterhaltsleistungen als außergewöhnliche Belastung davon abhängig gemacht, dass die unterhaltene Person kein oder nur ein geringfügiges Vermögen besitzt. Hätte der Gesetzgeber die Berücksichtigung von Kindesvermögen bei Abzug eines Kinderfreibetrages gewollt, hätte es nahe gelegen, dies - wie in § 33a EStG - eindeutig im Gesetzestext zu berücksichtigen.
2.
Die Kl'in hat daneben einen Anspruch auf Abzug eines Haushaltsfreibetrags nach § 32 Abs. 7 EStG. Danach ist ein Haushaltsfreibetrag zu berücksichtigen, wenn für den Steuerpflichtigen das Splitting-Verfahren nicht anzuwenden ist und er für ein Kind, welches für seine Wohnung polizeilich angemeldet ist, einen Kinderfreibetrag erhält. Die Kl'in ist verwitwet und hat für das Streitjahr keinen Anspruch auf Anwendung des Splitting-Tarifs (§ 32a Abs. 5 EStG). Auch die weiteren Tatbestandsvoraussetzungen liegen vor. Die Tochter der Kl'in war zum 1. Januar 1996 für die Wohnung der Kl'in polizeilich gemeldet. Daneben bestand, wie oben ausgeführt, ein Anspruch auf Abzug eines Kinderfreibetrages.
3.
Die Kl'in kann außerdem den Abzug eines Behindertenpauschbetrages beanspruchen. Nach § 33b Abs. 3 EStG wird bei einem Grad der Behinderung von 80 v.H. - wie für die Tochter der Kl'in festgestellt - ein Behindertenpauschbetrag in Höhe von 20.070,00 DM gewährt. Dieser der Tochter zustehende Pauschbetrag ist gem. § 33b Abs. 5 EStG auf die Kl'in auf deren Antrag hin zu übertragen, da die Tochter den Pauschbetrag nicht in Anspruch genommen hat und der Kl'in für die Tochter ein Kinderfreibetrag zustand.
4.
Die Einkommensteuer 1996 ist neu zu berechnen:
...
5.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO, die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf § 151 Abs. 1 und 3 FGO i.V.m. §§ 710, 711 Nr. 10 ZPO.