Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 04.04.2000, Az.: 1 K 232/99
Vorausssetzungen der Änderung eines bestandskräftigen Einkommensteuerbescheides mit dem Ziel der Abziehung von Verlusten aus der Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft als Werbungskosten bei Ablauf der Festsetzungsfrist
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 04.04.2000
- Aktenzeichen
- 1 K 232/99
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 21862
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2000:0404.1K232.99.0A
Rechtsgrundlage
- § 174 Abs. 1 S.3 AO
Fundstelle
- DStRE 2001, 217-218 (Volltext mit amtl. LS)
Tatbestand
Umstritten ist, ob eine bestandskräftige Einkommensteuer- (ESt-)Veranlagung geändert werden kann mit dem Ziel, Verluste aus der Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft als Werbungskosten (WK) steuerlich abzuziehen.
Die Klägerin (Kl'in) und ihr ... verstorbener Ehemann stellten in den Jahren ... der Fa. ..., einer Kapitalgesellschaft ..., Kapitalbeträge ... zur Verfügung. Im ... ließen sie sich ... DM auszahlen. Die Fa. ..., ..., hatte hohe Renditen in Aussicht gestellt. ... In den Jahren .... wurden der Kl'in und ihrem Ehemann sogenannte Renditen in Höhe von ca. ... DM von ... gutgeschrieben. Der Beklagte (Finanzamt, FA) versteuerte diese Gutschriften als Einkünfte aus Kapitalvermögen nach § 20 Abs. 1 Nr. 4 Einkommensteuergesetz (EStG). Das hiergegen erhobene Klageverfahren blieb weitgehend erfolglos.
Anläßlich eines am ... anstehenden Auszahlungstermins kam es zum Zusammenbruch der Fa. .....; das Konkursverfahren über das ...Vermögen von ... wurde mangels Masse eingestellt. Die Kl'in erlitt einen Totalverlust ihrer gegenüber ... bestehenden Forderungen in Höhe von ca. ... DM.
Am ... gab die Kl'in ihre ESt-Erklärung ... beim FA ab. Einen Hinweis auf Einlageverluste bei der Fa. ... enthält die Erklärung nicht. In dem ESt-Bescheid ... ist kein Einlageverlust der Kl'in aus der Beteiligung an ... steuermindernd berücksichtigt.
Mit Schriftsatz vom 09.04.1999 beantragten die steuerlichen Berater der Kl'in die Änderung des ESt-Bescheides ... und die Berücksichtigung des durch das Engagement bei der Fa. ..... entstandenen Verlustes. Das FA lehnte den Antrag ab.
Hiergegen richtet sich die mit Zustimmung des FA erhobene Sprungklage.
Der Kl'in meint, der bestandskräftige ESt-Bescheid ... müsse geändert werden. Formelle Rechtsgrundlage seien die Absätze 1 und/oder 3 des § 174 Abgabenordung (AO), die zumindest analog anzuwenden seien; damit stehe auch der Ablauf der Festsetzungsfrist nicht entgegen. In diesem Zusammenhang sei zu berücksichtigen, dass in früheren Jahren der Streit allein um die Frage ging, ob "Scheinrenditen" in den Jahren ... überhaupt versteuert werden müssten oder nicht. Das sei sowohl in der Rechtsprechung verschiedener Finanzgerichte als auch in der Literatur umstritten gewesen. Erst durch mehrere Entscheidungen des BFH vom Juli 1997 sei die steuerliche Beurteilung dahingehend entschieden worden, dass die Beteiligungen an ... als typische stille Gesellschaftsverhältnisse i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 4 EStG anzusehen seien; weiter seien die Renditen - einschließlich nicht ausgezahlter "Scheinrenditen" - in den Jahren vor ... zu versteuern und eine Berücksichtigung des entstandenen Verlustes komme allenfalls im Jahre ... als Werbungskosten (WK) bei den Einkünften aus Kapitalvermögen in Betracht. Bis zu diesen BFH-Entscheidungen habe es für die Kl'in keinen Grund gegeben, die ESt-Veranlagung ... - z.B. durch Rechtsmittel - offen zu halten, um formalrechtlich die Möglichkeit eines späteren WK-Abzugs nicht zu verlieren. Materiell dürfe die Berücksichtigung des Verlusts nicht deshalb versagt werden, weil der auf die Kl'in entfallende Verlustanteil nicht im Jahresabschluss ... von ..... festgestellt, von ihrer Kapitaleinlage abgebucht oder von einem Finanzamt geschätzt worden sei (vgl. BFH, Urteil vom 22.07.1997 VIII R 57/95 a.a.O., S. 761). Es liege in der Natur der Sache, dass von der ..... ein solcher Jahresabschuss nicht zu erlangen sei. Dagegen stehe außer Zweifel, dass die Kl'in ihre gesamte Einlage verloren habe. Unter diesen Umständen sei es als Verstoß gegen Treu und Glauben zu werten, wenn das FA keine entsprechende Verlustschätzung vornähme. Jedenfalls sei es im höchsten Maße unbefriedigend und mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar, wenn sie zwar in den Jahren ... Scheinrenditen, die sie nicht einmal erhalten habe, versteuern müsse, ihr aber im Jahre ... ein von der Sache her gerechtfertigter WK-Abzug aus formellen Gründen versagt werde.
Die Kl'in beantragt,
die ablehnende Verfügung des FA vom ... aufzuheben und das FA zu verpflichten, den ESt-Bescheid für ... vom ... unter Berücksichtigung von Werbungskosten bei Einkünften aus Kapitalvermögen in Höhe von ... DM zu ändern.
Das FA beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es hält die begehrte Änderung wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist schon verfahrensrechtlich für unzulässig. Hinzu komme, dass die materiellen Voraussetzungen für eine Berücksichtigung des Verlustes als WK nicht vorlägen.
Im übrigen wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen und die vorgelegten Steuerakten Bezug genommen.
Gründe
Die Klage ist nicht begründet.
Der begehrten Änderung des ESt-Bescheides ... steht der Ablauf der Festsetzungsfrist entgegen. Der ESt-Bescheid ... vom ... ist bestandskräftig und kann nicht mehr geändert werden. Die Änderung bestandskräftiger Bescheide ist nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist (§ 169 Abs. 1 S. 1 AO). Im Streitfall ist die Festsetzungsfrist abgelaufen. Sie endete - nachdem der Kl'in ihre ESt-Erklärung ... am ... beim FA eingereicht hatte - mit Ablauf des 31.12. ...
Der Ablauf der Festsetzungsfrist ist auch nicht gemäß § 174 Abs. 1 oder 3 AO unbeachtlich:
Nach § 174 Abs. 1 S. 3 AO steht - bei rechtzeitiger Antragstellung - der Änderung eines Steuerbescheides keine Frist entgegen, wenn mit der Änderung widerstreitende Steuerfestsetzungen zum Nachteil des Steuerpflichtigen beseitigt werden sollen. Widerstreitende Steuerfestsetzungen in diesem Sinne liegen vor, wenn ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden - mehrfach - zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen. Regelungsgegenstand ist somit eine rechtswidrige mehrfache Besteuerung desselben Sachverhaltes (BFH, Urteil vom 26.01.1994 X R 57/89, BStBl II 1994, 597). Dabei müssen die mehreren Berücksichtigungen desselben Sachverhalts in einem wechselseitigen Ausschließlichkeitsverhältnis stehen, das eine nochmalige Berücksichtigungen des bereits berücksichtigten Sachverhalts denkgesetzlich ausschließt (BFH, Urteil vom 11.07.1991 IV R 52/90, BStBl II 1992, 126). Dieser Tatbestand ist im Streitfall nicht erfüllt. Vielmehr hat das FA die Beteiligung der Kl'in und ihres verstorbenen Ehemanns an der Fa. ... als stille Gesellschafter in drei Veranlagungszeiträumen (...) zu ihren Ungunsten berücksichtigt, in einem dritten (...) - wo sich die Beteiligung zugunsten der Kl'in ausgewirkt hätte - jedoch nicht. Das ist zwar nicht folgerichtig und widerspricht in gewissem Maße der materiellen Gerechtigkeit, fällt jedoch nicht unter § 174 Abs. 1 AO. Vielmehr kommt es nach dem Grundsatz der Abschnittsbesteuerung häufiger vor, dass Finanzämter vergleichbare Sachverhalte in verschiedenen Veranlagungsjahren unterschiedlich würdigen.
Auch der Tatbestand des § 174 Abs. 3 AO ist nicht erfüllt. Diese Norm greift nur ein, wenn ein Sachverhalt in einem bestimmten Steuerbescheid nicht berücksichtigt worden ist in der erkennbaren Annahme, er sei in einem anderen Bescheid zu berücksichtigen. Auch diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor. Das FA hat die Berücksichtigung des Beteiligungsverlustes bei der Veranlagung des Jahres ... nicht etwa deshalb unterlassen, weil es glaubte, sie bereits bei der Veranlagung eines früheren Jahres erfasst zu haben oder dort erfassen zu müssen. Das FA hat die Beteiligungsverluste vielmehr deshalb nicht berücksichtigt, weil es meinte, sie seien nicht abzugsfähig. Selbst wenn diese Auffassung unrichtig sein sollte, wäre damit der Anwendungsbereich des § 174 Abs. 3 AO nicht eröffnet. § 174 Abs. 3 AO greift nicht ein, wenn aus einem Sachverhalt falsche rechtliche Schlussfolgerungen gezogen wurden.
Der Senat sieht auch keine Möglichkeit für eine analoge Anwendung des § 174 AO. § 174 AO ist eine Vorschrift, die nur in bestimmten, ausdrückliche geregelten Fällen eingreift und keineswegs alle Varianten widerstreitender Steuerfestsetzungen abdeckt. Sie lässt eine Vielzahl von Fällen offen, in denen trotz eines gewissen Widerspruchs von Steuerfestsetzungen eine Angleichung nicht möglich ist. So ist es hier.
Im übrigen könnte die Klage auch materiell keinen Erfolg haben, weil die vom BFH in ständiger Rechtsprechung geforderten Voraussetzungen " nämlich Entstehung eines dem stillen Gesellschafter anteilig zuzurechnenden laufenden Verlustes auf der Ebene der Gesellschaft, Abbuchung dieses Verlusts von der Einlage sowie Verlustnachweis durch Jahresabschlüsse der Gesellschaft oder Schätzung des zuständigen Finanzamts (vgl. z.B. BFH, Urteil vom 22.07.1997 a.a.O.) " nicht erfüllt sind. Daran ändern auch die Tatsachen nichts, dass die Kl'in diese Umstände weder verschuldet hat noch ändern konnte und dass sie auch unstreitig ihre gesamte Einlage verloren hat. Denn der Verlustabzug ist im Interesse der Rechtssicherheit an die genannten Voraussetzungen gebunden.
Das Gericht verkennt nicht, dass diese Entscheidung für die Kl'in eine Härte darstellt und in gewissem Widerspruch zur materiellen Gerechtigkeit steht. Angesichts der Notwendigkeit angemessenen Rechtssicherheit sowie der eindeutigen gesetzlichen Formulierungen sieht der Senat jedoch keine Möglichkeit einer anderen Entscheidung.