Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 04.04.2000, Az.: 1 K 75/99
Widerstreitende Steuerfestsetzung; Unterschiedliche Würdigung vergleichbarer Sachverhalte in verschiedenen Veranlagungsjahren
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 04.04.2000
- Aktenzeichen
- 1 K 75/99
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 21863
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2000:0404.1K75.99.0A
Rechtsgrundlage
- AO § 174
Fundstellen
- DStRE 2000, 1172-1173 (Volltext mit amtl. LS)
- EFG 2001, 335 (Volltext mit red. LS)
Tenor:
Die Klage wird auf Kosten des Klägers abgewiesen.
Die Revision wird zugelassen.
Tatbestand
Umstritten ist, ob eine bestandskräftige Einkommensteuer- (ESt-)Veranlagung geändert werden kann mit dem Ziel, Verluste aus der Beteiligung an einer Kapitalgesellschaft als Werbungskosten (WK) steuerlich abzuziehen.
Der Kläger (Kl.) stellte in den Jahren 1987 und 1990 der Fa. S.A. (A.), einer Kapitalgesellschaft Panamaischen Rechts, Kapitalbeträge in Höhe von insgesamt 20.000,00 DM zur Verfügung. Die Fa. A., deren Verwaltungsrat seinen Sitz in Vaduz/Liechtenstein hatte, hatte dem Kl. hohe Renditen in Aussicht gestellt. Wegen der Geschäftspraktiken der Fa. A. wird auf den Tatbestand des Urteils des BFH vom 22.07.1997, Az.: VIII R 57/95, BStBl II 1997, 755 ff. Bezug genommen. Die sogenannten Renditen, die der Kl. von A. in den Jahren 1988 - 1990 gutgeschrieben erhielt, wurden vom Beklagten (Finanzamt, FA) als Einkünfte aus Kapitalvermögen nach § 20 Abs. 1 Nr. 4 Einkommensteuergesetz (EStG) versteuert. Das hiergegen erhobene Klageverfahren blieb erfolglos, die ESt-Bescheide 1988 - 1990 sind rechtskräftig.
Anlässlich eines am 15.01.1991 anstehenden Auszahlungstermins kam es zum Zusammenbruch der Fa. A.; das Konkursverfahren über das (Inlands-)Vermögen von A. wurde mangels Masse eingestellt. Der Kl. erlitt einen Totalverlust seiner gegenüber A. bestehenden Forderung in Höhe von 25.940,51 DM.
Am 26.11.1992 gab der Kl. seine ESt-Erklärung 1991 beim FA ab. Einen Hinweis auf Einlageverluste bei der Fa. A. enthält die Erklärung nicht. Der ESt-Bescheid 1991 ist bestandskräftig; ein Einlagenverlust des Kl. aus seiner Beteiligung an A. ist darin nicht steuermindernd berücksichtigt.
Mit Schriftsatz vom 26.05.1998 - beim FA eingegangen am 02.06.1998 - beantragte der damalige steuerliche Berater des Kl. die Änderung des ESt-Bescheides 1991 und die Berücksichtigung des durch das Engagement bei der Fa. A. entstandenen Verlustes. Das FA lehnte den Antrag ab, das Vorverfahren blieb erfolglos.
Hiergegen richtet sich die Klage.
Der Kl. meint, der bestandskräftige ESt-Bescheid 1991 müsse geändert werden. Formelle Rechtsgrundlage seien die Absätze 1 und/oder 3 des § 174 Abgabenordung (AO), die zumindest analog anzuwenden seien; damit stehe auch der Ablauf der Festsetzungsfrist nicht entgegen. In diesem Zusammenhang sei zu berücksichtigen, dass in früheren Jahren der Streit allein um die Frage ging, ob "A-Scheinrenditen" in den Jahren 1989 und 1990 überhaupt versteuert werden müssten oder nicht. Das sei sowohl in der Rechtsprechung verschiedener Finanzgerichte als auch in der Literatur umstritten gewesen. Erst durch mehrere Entscheidungen des BFH vom Juli 1997 sei die steuerliche Beurteilung dahingehend entschieden worden, dass die Beteiligungen an A. als typische stille Gesellschaftsverhältnisse i.S.v. § 20 Abs. 1 Nr. 4 EStG anzusehen seien; weiter seien die Renditen - einschließlich nicht ausgezahlter "Scheinrenditen" - in den Jahren vor 1991 zu versteuern und eine Berücksichtigung des entstandenen Verlustes komme allenfalls im Jahre 1991 als Werbungskosten (WK) bei den Einkünften aus Kapitalvermögen in Betracht. Bis zu diesen BFH-Entscheidungen habe es für den Kl. keinen Grund gegeben, die ESt-Veranlagung 1991 - z.B. durch Rechtsmittel - offen zu halten, um formalrechtlich die Möglichkeit eines späteren WK-Abzugs nicht zu verlieren. Materiell dürfe die Berücksichtigung des Verlusts nicht deshalb versagt werden, weil der auf den Kl. entfallende Verlustanteil nicht im Jahresabschluss 1991 von A. festgestellt, von seiner Kapitaleinlage abgebucht oder von einem Finanzamt geschätzt worden sei (vgl. BFH, Urteil vom 22. 07 1997 VIII R 57/95 a.a.O., S. 761). Es liege in der Natur der Sache, dass von der Fa. A. ein solcher Jahresabschuss nicht zu erlangen sei. Dagegen stehe außer Zweifel, dass der Kl. seine gesamte Einlage verloren habe. Unter diesen Umständen sei es als Verstoß gegen Treu und Glauben zu werten, wenn das FA keine entsprechende Verlustschätzung vornähme. Jedenfalls sei es im höchsten Maße unbefriedigend und mit rechtsstaatlichen Grundsätzen nicht vereinbar, wenn er zwar in den Jahren bis 1988 - 1990 Scheinrenditen, die er weitgehend nicht einmal erhalten habe, versteuern müsse, ihm aber im Jahre 1991 ein von der Sache her gerechtfertigter WK-Abzug aus formellen Gründen versagt werde.
Der Kl. beantragt sinngemäß,
den Bescheid vom 15.09.1998 über die Ablehnung des Antrags auf Änderung des ESt-Bescheides für 1991 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 04.01.1999 aufzuheben und das FA zu verpflichten, die ESt 1991 unter Berücksichtigung von WK bei Einkünften aus Kapitalvermögen in Höhe von 25.940,51 DM festzusetzen
Das FA beantragt,
die Klage abzuweisen.
Es hält die begehrte Änderung wegen Ablaufs der Festsetzungsfrist schon verfahrensrechtlich für unzulässig. Hinzu komme, dass die materiellen Voraussetzungen für eine Berücksichtigung des Verlustes als WK nicht vorlägen.
Im übrigen wird auf die eingereichten Schriftsätze nebst Anlagen und die vorgelegten Steuerakten Bezug genommen.
Gründe
Die Klage ist nicht begründet.
Der begehrten Änderung des ESt-Bescheides 1991 steht der Ablauf der Festsetzungsfrist entgegen. Der ESt-Bescheid 1991 vom 21.01.1993 ist bestandskräftig und kann nicht mehr geändert werden. Die Änderung bestandskräftiger Bescheide ist nicht mehr zulässig, wenn die Festsetzungsfrist abgelaufen ist (§ 169 Abs. 1 S. 1 AO). Im Streitfall ist die Festsetzungsfrist abgelaufen. Sie endete - nachdem der Kl. seine ESt-Erklärung 1991 am 26.11.1992 beim FA eingereicht hatte - mit Ablauf des 31.12.1996.
Der Ablauf der Festsetzungsfrist ist auch nicht gemäß § 174 Abs. 1 oder 3 AO unbeachtlich:
Nach § 174 Abs. 1 S. 3 AO steht - bei rechtzeitiger Antragstellung - der Änderung eines Steuerbescheides keine Frist entgegen, wenn mit der Änderung widerstreitende Steuerfestsetzungen zum Nachteil von Steuerpflichtigen beseitigt werden sollen. Widerstreitende Steuerfestsetzungen in diesem Sinne liegen vor, wenn ein bestimmter Sachverhalt in mehreren Steuerbescheiden - mehrfach - zuungunsten des Steuerpflichtigen berücksichtigt worden ist, obwohl er nur einmal hätte berücksichtigt werden dürfen. Regelungsgegenstand ist somit eine rechtswidrige mehrfache Besteuerung desselben Sachverhaltes (BFH, Urteil vom 26.01.1994 X R 57/89, BStBl II 1994, 597). Dabei müssen die mehreren Berücksichtigungen desselben Sachverhalts in einem wechselseitigen Ausschließlichkeitsverhältnis stehen, das eine nochmalige Berücksichtigung des bereits berücksichtigten Sachverhalts denkgesetzlich ausschließt (BFH, Urteil vom 11.07.1991 IV R 52/90, BStBl II 1992, 126). Dieser Tatbestand ist im Streitfall offenkundig nicht erfüllt. Vielmehr hat das FA die Beteiligung des Kl. an der Fa. A. als stiller Gesellschafter in zwei Veranlagungszeiträumen (ESt 1998 und 1990) zu seinen Ungunsten berücksichtigt, in einem dritten (ESt 1991) - wo sie sich zu seinen Gunsten ausgewirkt hätte - jedoch nicht. Das ist zwar nicht folgerichtig und widerspricht in gewissem Maße der materiellen Gerechtigkeit, fällt jedoch nicht unter § 174 Abs. 1 AO. Vielmehr kommt es nach dem Grundsatz der Abschnittsbesteuerung häufiger vor, dass Finanzämter vergleichbare Sachverhalte in verschiedenen Veranlagungsjahren unterschiedlich würdigen.
Auch der Tatbestand des § 174 Abs. 3 AO ist nicht erfüllt. Diese Norm greift nur ein, wenn ein Sachverhalt in einem bestimmten Steuerbescheid nicht berücksichtigt worden ist in der erkennbaren Annahme, er sei in einem anderen Bescheid zu berücksichtigen. Auch diese Voraussetzungen liegen im Streitfall nicht vor. Das FA hat die Berücksichtigung des Beteiligungsverlustes bei der Veranlagung des Jahres 1991 nicht etwa deshalb unterlassen, weil es glaubte, sie bereits bei der Veranlagung eines früheren Jahres erfasst zu haben oder dort erfassen zu müssen. Das FA hat die Beteiligungsverluste vielmehr deshalb nicht berücksichtigt, weil es meinte, sie seien nicht abzugsfähig. Selbst wenn diese Auffassung unrichtig sein sollte, wäre damit der Anwendungsbereich des § 174 Abs. 3 AO nicht eröffnet. § 174 Abs. 3 AO greift nicht ein, wenn aus einem Sachverhalt falsche rechtliche Schlussfolgerungen gezogen wurden.
Der Senat sieht auch keine Möglichkeit für eine analoge Anwendung des § 174 AO. § 174 AO ist eine Vorschrift, die nur in bestimmten, ausdrückliche geregelten Fällen eingreift und keineswegs alle Varianten widerstreitender Steuerfestsetzungen abdeckt. Sie lässt eine Vielzahl von Fällen offen, in denen trotz eines gewissen Widerspruchs von Steuerfestsetzungen eine Angleichung nicht möglich ist. So ist es hier.
Im übrigen könnte die Klage auch materiell keinen Erfolg haben, weil die vom BFH in ständiger Rechtsprechung geforderten Voraussetzungen - nämlich Entstehung eines dem stillen Gesellschafter anteilig zuzurechnenden laufenden Verlustes auf der Ebene der Gesellschaft, Abbuchung dieses Verlusts von der Einlage sowie Verlustnachweis durch Jahresabschlüsse der Gesellschaft oder Schätzung des zuständigen Finanzamts (vgl. z.B. BFH, Urteil vom 22.07.1997 a.a.O.) - nicht erfüllt sind. Daran ändern auch die Tatsachen nichts, dass der Kl. diese Umstände weder verschuldet hat noch ändern konnte und dass er auch unstreitig seine gesamte Einlage verloren hat. Denn der Verlustabzug ist im Interesse der Rechtssicherheit an formelle Voraussetzungen gebunden.
Das Gericht verkennt nicht, dass diese Entscheidung für den Kl. eine Härte darstellt und in gewissem Widerspruch zur materiellen Gerechtigkeit steht. Angesichts der Notwendigkeit angemessenen Rechtssicherheit und der eindeutigen gesetzlichen Formulierungen sieht der Senat jedoch keine Möglichkeit einer anderen Entscheidung.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung (FGO).
Der Senat hat die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache zugelassen, § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.