Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 19.11.2004, Az.: 4 B 198/04

Aufwendung; Auslegung; einstweilige Anordnung; Ersatzschule; freie Trägerschaft; Förderschule; heilpädagogische Schule; Menschenkunde; private Beförderung; Rudolf Steiner; Schulweg; Schülerbeförderung; sonderpädagogischer Förderbedarf; Sonderschule; Vorwegnahme der Hauptsache; Waldorfschule

Bibliographie

Gericht
VG Lüneburg
Datum
19.11.2004
Aktenzeichen
4 B 198/04
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 50796
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

1

Die Antragstellerin begehrt, den Antragsgegner durch einstweilige Anordnung zu verpflichten, sie von ihrem Wohnort A. 40 A in B. zur C. -D. -Schule in E. -F. und zurück zu befördern, hilfsweise, ihr die notwendigen Aufwendungen für die Fahrten dorthin zu erstatten.

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Die C. -D. -Schule ist eine heilpädagogische Schule in freier Trägerschaft, die auf der Grundlage der Menschenkunde Rudolf Steiners geführt wird. Sie ist am 29. September 2000 von der Bezirksregierung B. als Ersatzschule genehmigt worden und ihr ist am 28. September 2003 die Eigenschaft einer anerkannten Ersatzschule für Lernhilfe, Erziehungshilfe und geistig Behinderte verliehen worden. Mit Bescheid vom 26. Juni 2000 hat die Bezirksregierung Lüneburg festgestellt, dass bei der Antragstellerin sonderpädagogischer Förderbedarf vorliege, und angeordnet, dass sie die Schule am G. - Schule für geistig Behinderte - in B. zu besuchen habe. Mit Schreiben vom 12. Juli 2004 hat sich die Bezirksregierung B. damit einverstanden erklärt, dass die Antragstellerin ab dem Schuljahr 2004/2005 die C. -D. -Schule besucht. Den Antrag der Antragstellerin auf Schülerbeförderung zur C. -D. -Schule hat der Antragsgegner mit Bescheid vom 11. August 2004 abgelehnt. Über den dagegen eingelegten Widerspruch vom 26. August 2004 ist noch nicht entschieden worden.

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Der Antrag hat Erfolg.

4

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes in Bezug auf ein streitiges Rechtsverhältnis treffen, wenn dies zur Abwendung von wesentlichen Nachteilen oder drohender Gewalt oder aus anderen Gründen nötig erscheint. Die Anwendung dieser Vorschrift setzt neben einer besonderen Eilbedürftigkeit der Regelung (Anordnungsgrund) voraus, dass der Hilfesuchende mit Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf die begehrte Regelung hat (Anordnungsanspruch). Anordnungsgrund und Anordnungsanspruch sind glaubhaft zu machen (§ 123 Abs. 3 VwGO i. V. m. § 920 Abs. 2 ZPO). Diese Voraussetzungen sind hier erfüllt.

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Die Antragstellerin hat glaubhaft gemacht, dass die begehrte Regelung eilbedürftig ist. Sie besucht seit Beginn des Schuljahres 2004/2005 die C. -D. -Schule in E. -F.. Derzeit werden sie und ein anderes Kind, das Antragsteller des Verfahrens 4 B 197/04 ist, morgens von dessen Mutter zur Schule gebracht und nachmittags von der Mutter der Antragstellerin abgeholt. Die Mutter der Antragstellerin hat eidesstattlich versichert, dass diese private Beförderung nicht länger aufrecht erhalten werden könne und sie die Antragstellerin ohne Erlass einer einstweiligen Anordnung von der C. -D. -Schule nehmen müsse, was einen erheblichen Rückschlag für die Entwicklung der Antragstellerin bedeuten würde. Die Mutter der Antragstellerin hat glaubhaft versichert, dass sie in Kürze wieder ihren Schichtdienst nachmittags aufnehmen müsse und die Kinder daher nicht mehr von der Schule abholen könne. Auch die Mutter des anderen Kindes könne die beiden Kinder nicht von der Schule abholen. Zudem könne sie die für die private Beförderung anfallenden Kosten nicht länger tragen, insbesondere wenn ein Fahrer eingestellt werden müsse.

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Die Antragstellerin hat auch glaubhaft gemacht, dass sie einen Anspruch auf Beförderung zur C. -D. -Schule in E. -F. oder auf Erstattung der notwendigen Aufwendungen für den Schulweg hat.

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Nach § 114 Abs. 1 Satz 2 des Niedersächsischen Schulgesetzes (in der hier maßgeblichen Fassung vom 3. März 1998, Nds. GVBl. S. 137, zuletzt geändert durch Art. 1 des Gesetzes vom 29.4.2004, Nds. GVBl. S. 140 - NSchG -) hat der Träger der Schülerbeförderung - hier: der Antragsgegner - u.a. Schüler der 1. bis 10. Schuljahrgänge der allgemeinbildenden Schulen unter zumutbaren Bedingungen zur Schule zu befördern oder ihnen oder ihren Erziehungsberechtigten die notwendigen Aufwendungen für den Schulweg zu erstatten. Diese Verpflichtung besteht allerdings nur für den Weg zu der nächsten Schule der von dem Schüler gewählten Schulform, die den von diesem verfolgten Bildungsgang anbietet (§ 114 Abs. 3 Satz 1 NSchG). Die Bestimmungen des § 114 NSchG sind nach § 141 Abs. 3 NSchG auf die Schulen in freier Trägerschaft entsprechend anzuwenden. "Bildungsgang" im Sinne des Schülerbeförderungsrechts ist nach ständiger Rechtsprechung des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts, der die Kammer folgt, die besondere fachliche Schwerpunktbildung in einem schulischen Angebot, die sich im Allgemeinen zugleich in einer besonderen Gestaltung des Abschlusses auswirkt (Urteil vom 30.11.1983 - 13 A 56/83 - NVwZ 1984, 812 -; Urteile vom 20.12.1995 - 13 L 2013/93 - und - 13 L 7975/94 - m.w.N.).

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Hier muss sich die Antragstellerin nicht darauf verweisen lassen, dass sie die Schule am G. in B. besuchen und daher nur dorthin Schülerbeförderung beanspruchen könne. Die C. -D. -Schule ist eine anerkannte Ersatzschule für Lernhilfe, Erziehungshilfe und geistig Behinderte. Ihrer Schulform nach ist sie ebenso wie die Schule am G. eine Förderschule gem. § 5 Abs. 2 Nr. 1 lit h NSchG. Allerdings bietet die C. -D. -Schule, wenn sie - wie hier die Antragstellerin - Schüler mit einem sonderpädagogischen Förderbedarf im Bereich der geistigen Behinderung aufnimmt, gegenüber der Schule am G. einen besonderen Bildungsgang im Sinne des § 114 Abs. 3 Satz 1 NSchG an. Dies hat die Kammer bereits mit Urteil vom 21. Januar 2003 - 4 A 247/01 - bei einem Vergleich der C. -D. -Schule mit einer anderen staatlichen Förderschule entschieden und dazu Folgendes ausgeführt:

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„Ihrer Arbeit (der C. -D. -Schule( liegt die anthroposophische Heilpädagogik zu Grunde, eine erweiterte Form der Waldorfpädagogik, die auf der Menschenkunde Rudolf Steiners beruht (vgl. Konzeptionsentwurf der C. -D. -Schule S. 2). Sie bietet u.a. entwicklungsbezogenen Unterrichtsstoff nach Rudolf Steiner. Der Hauptunterricht gliedert sich in drei Bereiche, in einen "rhythmischen Teil", einen "Lernteil" sowie einen "Erzählteil" und findet in Epochen statt. Angeboten werden die Fächer Lesen/Schreiben, Rechnen, Formenzeichnen, Heimatkunde/Naturkunde, Projekte wie Ackerbau, Handwerk, Hausbau (in der Unterstufe), künstl. u. technisches Zeichnen, Musik im Orchester, Chor, Theater Jahresreferat, Gartenbau, Werken (in der Mittelstufe), Feldmessen, Forsten, Landwirtschaft, Industrie-, Sozial-, Werkpraktika, Schauspiel, Kunstgeschichtliche Reise (in der Werkoberstufe).

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Damit ist die C. -D. -Schule einer Freien Waldorfschule vergleichbar. Dabei geht die Begründung zum Entwurf des Fünften Gesetzes zur Änderung des Niedersächsischen Schulgesetzes davon aus, dass Freie Waldorfschulen auf Grund ihres pädagogischen Konzepts wie eine eigenständige Schulform anzusehen seien; auf ihre Schüler und Schülerinnen seien die Regelungen über die Schülerbeförderung anzuwenden (LT.Drs. 13/1938 S. 4). Nach der ständigen Rechtsprechung des Nds. Oberverwaltungsgerichts stellen die Freien Waldorfschulen im Vergleich zu sonstigen Regelschulen einen eigenen Bildungsgang dar (vgl. statt vieler, Urt. v. 30.11.1983 - 13 A 56/83 - NVwZ 1984, 812).

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Allerdings legt auch die Schule für geistig Behinderte "An Boerns Soll" ihrer Arbeit den Grundsatz der Ganzheitlichkeit zu Grunde. Sie arbeitet nach dem Erlass des Nds. Kultusministerium vom 18.4.1989 "Die Arbeit in der Schule für Geistigbehinderte" (SVBl. S. 103). Dieser sieht u.a. vor, dass ganztags Unterricht in Form von Projekten, Vorhaben, Kursen, Lehrgängen, Arbeitsgemeinschaften und speziellen Erlebnis - und Handlungseinheiten von unterschiedlicher Dauer erteilt wird. Jede Unterrichtsstunde enthält mehrere Lernbereichsteile, d.h. entwicklungsorientierte (Motorik, Wahrnehmung, Sprache, Denken), handlungsorientierte (z.B. Spielen, Technik, Freizeit, Soziale Beziehungen) und fachorientierte ( z.B. Musik, Rhythmik, Ästhetische Erziehung, Werken). Ebenso wie in der C. -D. -Schule verbleiben die Schüler der Schule "An Boerns Soll" in ihrem Klassenverband, Versetzungen sind nicht vorgesehen, Zeugnisse werden in Form von Textzeugnissen erstellt. Einzelförderung und Therapien unterstützen den Unterricht.

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Dennoch bietet die C. -D. -Schule im Vergleich zu der Schule "An Boerns Soll" einen eigenen Bildungsgang. Die Orientierung der C. -D. -Schule an der Menschenkunde Rudolf Steiners stellt nicht nur einen besonderen pädagogischen Ansatz dar sondern wirkt sich organisatorisch und auch auf die Lerninhalte aus. So finden sich dort u.a. die Fächer "Formenzeichnen", "Eurythmie" und "Heileurythmie", die an der Schule "An Boerns Soll" - wie auch an anderen öffentlichen Sonderschulen - nicht unterrichtet werden. Weiter findet an der C. -D. -Schule - anders als an der Schule für geistig Behinderte "An Boerns Soll" - eine integrative Beschulung von Kindern mit verschiedenen Förderbedarfen in den Bereichen Lernhilfe, Erziehungshilfe, Körperbehinderte sowie von Kindern mit geistigen Behinderungen statt. Dabei ist anerkannt, dass die Sonderschulen der verschiedenen Behinderungsarten jeweils eigene Bildungsgänge bieten (Seyderhelm/Nagel, NSchG, § 59 Ziff. 2.1). Einen eigenständigen Bildungsgang stellt mithin auch der gemeinsame Unterricht von Schülern mit unterschiedlichen Arten der Behinderung nach einem einheitlichen Konzept dar, wie er an der C. -D. -Schule und an anderen heilpädagogischen Sonderschulen, die auf der Grundlage der Menschenkunde Rudolf Steiners arbeiten, praktiziert wird (so auch VG Hannover, Urt. v. 27.2.2002 - 6 A 5408/01 -; vgl. weiter VG Hannover Urt. v. 22.2.2002 - 6 A 2078/01 -; Nds.OVG, Beschl. v. 15.8.1997 - 13 M 3217/97 -; Beschl. v. 17.12.1997 - 13 M 5013/97 - zu anderen anthroposophischen heilpädagogischen Schulen).“

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Diese Ausführungen, an denen die Kammer weiter festhält, gelten entsprechend für das Verhältnis zwischen der C. -D. -Schule und der öffentlichen Schule am G.. Auch hier ist davon auszugehen, dass die C. -D. -Schule einen eigenen Bildungsgang bietet, so dass diese Schule für die Antragstellerin die nächste Schule ist und sie dorthin Schülerbeförderung beanspruchen kann.

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Die Beförderungs- bzw. Erstattungspflicht des Antragsgegners ist auch nicht auf die Höhe der Kosten der teuersten Zeitkarte des öffentlichen Nahverkehrs beschränkt, die er bei Schülerbeförderung in seinem Gebiet zu erstatten hat. Nach § 114 Abs. 3 Satz 5 1. Halbsatz NSchG kann der Träger der Schülerbeförderung seine Verpflichtung nach Abs. 1 entsprechend beschränken, wenn die nächste Schule außerhalb seines Gebietes liegt. Der Antragsgegner hat von dieser Möglichkeit in § 1 Abs. 3 seiner Satzung über die Schülerbeförderung im Landkreis B. vom 21.4.1997 Gebrauch gemacht. Die Ermächtigung in § 114 Abs. 3 Satz 5 NSchG gilt jedoch nicht im Falle des Besuchs von Förderschulen (§ 114 Abs. 3 Satz 5 2. Halbsatz NSchG). Dies hat der Antragsgegner in seiner Satzung auch entsprechend geregelt. Da die C. -D. -Schule nach der staatlichen Anerkennung vom 28. September 2003 einer Sonderschule (jetzt: Förderschule) gleichgestellt ist, kommt eine Kostenbegrenzung nicht in Betracht.

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Eine andere Beurteilung ergibt sich auch nicht aufgrund der Ausführungen des Antragsgegners. Dieser vertritt die Auffassung, die Ausnahmeregelung für die Schülerbeförderung zu Förderschulen sei eng auszulegen und greife nach ihrem Sinn und Zweck nur ein, wenn für den konkreten sonderpädagogischen Förderbedarf eines Schülers in seinem Gebiet keine Förderschule vorhanden sei. Da die in seinem Gebiet gelegene Schule am G. geeignet sei, den Förderbedarf der Antragstellerin zu gewährleisten, gelte hier die Ausnahmeregelung für Förderschulen nicht. Dem kann nicht gefolgt werden. So lassen der eindeutige Wortlaut der Regelung in § 114 Abs. 3 Satz 5 NSchG und dementsprechend der Wortlaut des § 1 Abs. 3 der Schülerbeförderungssatzung des Antragsgegners eine derartige Auslegung nicht zu. Das Verwaltungsgericht Hannover hat zudem in seinem Urteil vom 27. Februar 2002 - 6 A 5408/01 - ausgeführt, die Gesetzesmaterialien böten keine Anhaltspunkte für die Annahme, der Wortlaut des § 114 Abs. 3 Satz 5 NSchG sei zu weit gefasst worden und solle deshalb nicht für Sonderschulen in freier Trägerschaft und somit nicht für Waldorfschulen gelten, die der Schulform Sonderschule entsprechen. Dem schließt sich die Kammer an. Auch das Urteil des Verwaltungsgerichts Braunschweig vom 7. September 2000 - 6 A 156/99 -, auf das sich der Antragsgegner beruft, führt zu keiner anderen Beurteilung. Denn in dem dort entschiedenen Fall ging es um die Frage, ob § 114 Abs. 3 Satz 5 2. Halbsatz NSchG über seinen auf Förderschulen begrenzten Wortlaut hinaus erweiternd auch für den Besuch einer Integrationsklasse an einer Gesamtschule anzuwenden sei, was verneint worden ist. Hier besucht die Antragstellerin jedoch eine Förderschule, so dass die Ausnahmeregelung bereits unmittelbar zur Anwendung kommt.

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Der getroffenen Entscheidung steht auch nicht das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache entgegen. Dem Wesen und Zweck der einstweiligen Anordnung entsprechend kann das Gericht grundsätzlich lediglich vorläufige Regelungen treffen und dem Antragsteller nicht schon in vollem Umfang, wenn auch nur auf beschränkte Zeit und unter Vorbehalt einer Entscheidung in der Hauptsache, das gewähren, was er nur in einem Hauptsacheverfahren erreichen könnte. Im Hinblick auf Art. 19 Abs. 4 GG gilt das Verbot der Vorwegnahme der Hauptsache jedoch nicht, wenn eine bestimmte Regelung zur Gewährung eines effektiven Rechtsschutzes schlechterdings notwendig ist und ein hoher Grad an Wahrscheinlichkeit für einen Erfolg auch in der Hauptsache spricht. Diese Voraussetzungen liegen hier vor. Wie bereits ausgeführt worden ist, kann die für eine Übergangszeit privat organisierte Beförderung der Antragstellerin zur C. -D. -Schule nicht länger durchgeführt werden, so dass die Antragstellerin während des laufenden Schuljahres auf die Schule am G. wechseln müsste. Die Mutter der Antragstellerin hat eidesstattlich versichert, dass sich aufgrund der speziellen Förderung und der integrativen Beschulung in der C. -D. -Schule die Leistungen der Antragstellerin bereits deutlich verbessert hätten. Durch einen Schulwechsel bestünde die Gefahr, dass Rückschritte in der Entwicklung eintreten würden. Angesichts der der Antragstellerin drohenden Nachteile und des Umstandes, dass sie nach den vorstehenden Ausführungen mit hoher Wahrscheinlichkeit einen Anspruch auf Schülerbeförderung zur C. -D. -Schule hat, konnte hier die begehrte Regelung getroffen werden.

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Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts beruht auf §§ 53 Abs. 3, 52 Abs. 1 und 2 GKG.