Verwaltungsgericht Lüneburg
Urt. v. 24.11.2004, Az.: 1 A 4/03
Alimentationsprinzip; Ausnahmefall; Beamter; Beihilfe; Beihilfebemessungssatz; Beihilfeberechtigung; Bemessungssatz; Bemessungssatzerhöhung; besonderer Ausnahmefall; Dialyse; existentielle Belastung; Fahrtkosten; Fürsorge; wirtschaftliche Notlage; Zumutbarkeit
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 24.11.2004
- Aktenzeichen
- 1 A 4/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2004, 50220
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 2 Abs 1 BhV
- § 14 Abs 3 BhV
- § 14 Abs 6 S 1 Nr 2 BhV
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ein besonderer Ausnahmefall, der nur bei Anlegung des strengsten Maßstabes anzunehmen ist (§ 14 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BhV), kann wegen besonderer Umstände des Einzelfalles nur dann bejaht werden, wenn der "reguläre" Bemessungssatz so niedrig ist, dass der verbleibende Eigenanteil zu einer unerträglichen Belastung der amtsangemessenen Lebensführung führt.
Tatbestand:
Der Kläger, ein Beamter auf Probe, begehrt die (weitere) Erhöhung seines Beihilfebemessungssatzes für Fahrtkosten zur Dialysebehandlung.
Der ledige Kläger, der im Ergebnis eine Besoldung nach der Besoldungsgruppe A 7 BBesO erhält und dessen Nettobezüge im April 2003 1.604,98 EUR betrugen, erkrankte im April 1994 an einer terminalen Niereninsuffizienz und war von Oktober 1999 bis November 2003 dialysepflichtig. Die Dialyse musste regelmäßig dreimal wöchentlich erfolgen. Die Fahrten vom Wohnort zur und von der Dialyseabteilung konnte der Kläger nach einem ärztlichen Attest nicht selbst oder mit einem öffentlichen Verkehrsmittel durchführen. Die einfache Fahrtstrecke vom Wohnort C., Gemeinde D., nach E. zur Dialysebehandlung beträgt ca. 20 Kilometer.
Nachdem die private Krankenversicherung mit Ablauf des 30. April 2002 eine Erstattung der Fahrtkosten zur Dialyse, die bisher auf freiwilliger Basis erfolgte, eingestellt hatte und eine Zusatzversicherung hierfür nicht möglich war, erhöhte das Grenzschutzpräsidium Nord auf Antrag des Klägers mit Bescheid vom 14. Mai 2002 den Bemessungssatz für die Fahrtkosten zur Dialyse gemäß § 14 Abs. 3 BhV um 20 v.H. auf 70 v.H..
Mit Schreiben vom 16. Mai 2002 beantragte der Kläger eine nochmalige Erhöhung des Bemessungssatzes für die Fahrten zur Dialyse gemäß § 14 Abs. 6 BhV. Er führte hierzu aus: Obwohl der Bemessungssatz für die Fahrten auf 70 v. H. erhöht worden sei, verbleibe für ihn ein Eigenanteil von ca. 150 EUR monatlich. Dieser würde ca. 10 v. H. seiner Nettobezüge ausmachen.
Die weitere Erhöhung des Beihilfebemessungssatzes lehnte das Grenzschutzpräsidium Nord mit Bescheid vom 28. August 2002 mit der Begründung ab, neben einer Bemessungssatzerhöhung nach § 14 Abs. 3 BhV sei eine weitere Erhöhung aus gleichem Grunde nach § 14 Abs. 6 BhV ausgeschlossen. Dies ergebe sich aus dem besonderen Ausnahmecharakter der Vorschriften.
Der Kläger legte dagegen Widerspruch ein und führte zur Begründung im Wesentlichen an: Eine weitere Erhöhung des Bemessungssatzes nach § 14 Abs. 6 BhV sei nicht allein deshalb ausgeschlossen, weil bereits eine Erhöhung nach § 14 Abs. 3 BhV erfolgt sei. Eine derartige Einschränkung lasse sich den Vorschriften nicht entnehmen. Entgegen der Auffassung der Behörde läge bei ihm auch ein besonderer Ausnahmefall im Sinne des § 14 Abs. 6 BhV vor, da er rund 10 v. H. seines Nettoeinkommens monatlich für die Fahrten zur Dialyse aufwenden müsse. Eine derartige Belastung sei ihm auf Dauer nicht zumutbar. Bei Anlegung eines strengen Maßstabes sei die Anhebung des Bemessungssatzes für die Fahrtkosten auf 90 v. H. angemessen.
Den Widerspruch wies das Grenzschutzpräsidium Nord mit Widerspruchsbescheid vom 18. Dezember 2002 zurück. Darin wurde ergänzend zum angefochtenen Bescheid ausgeführt, dass ein besonderer Ausnahmefall nicht vorliege. Die dem Kläger verbleibenden Fahrtkosten würden das zumutbare Maß nicht übersteigen und zu keiner existenziellen Belastung führen. Der Kläger habe zudem die Möglichkeit, die Belastung zum Beispiel durch Umzug oder Benutzung anderer Transportmöglichkeit zu reduzieren.
Am 15. Januar 2003 hat der Kläger Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft er seine Ausführungen aus dem Vorverfahren. Ergänzend trägt er vor: Die Bescheide seien schon deshalb aufzuheben und die Beklagte zur Neubescheidung zu verpflichten, weil das in § 14 Abs. 6 BhV eingeräumte Ermessen nicht ausgeübt worden sei. So sei schon die Anwendbarkeit des § 14 Abs. 6 BhV mit dem unzutreffenden Hinweis verneint worden, dass bei einer Erhöhung gemäß § 14 Abs. 3 BhV eine Erhöhung nach § 14 Abs. 6 BhV aus dem gleichen Grunde ausgeschlossen sei. Eine Verminderung oder Verringerung der Mehrkosten sei auch nicht durch einen Umzug nach E. möglich. Hier seien zum einen die Umzugskosten zu berücksichtigen. Des Weiteren falle ins Gewicht, dass er in E. eine höhere Miete zu zahlen habe, und die Fahrtkosten von einer Wohnung in E. zur Dialyse sich immer noch auf ca. 8 bis 10 Euro pro Fahrt belaufen würden. Schließlich seien seine sozialen Bindungen in C. schutzwürdig. Für die Fahrten von C. nach E. gebe es nach seinen Informationen keinen kostengünstigeren Fahrdienst als den von ihm gewählten.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Grenzschutzpräsidiums Nord vom 28. August 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18.Dezember 2002 aufzuheben und die Beklagte zu verpflichten, über seinen Antrag auf Erhöhung des Beihilfebemessungssatzes für die regelmäßigen Fahrtkosten zur Dialysebehandlung gemäß § 14 Abs. 6 BhV unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Zur Begründung wiederholt und vertieft sie ihre Ausführungen aus dem Widerspruchsbescheid. Sie legt insbesondere nochmals dar, dass ein besonderer Ausnahmefall im Sinne des § 14 Abs. 6 BhV nicht vorliege und der Kläger seine monatlichen Belastungen durch Umzug oder Benutzung anderer Fahrdienste reduzieren könne. Die bisherigen Bemühungen des Klägers hierzu seien nicht ausreichend.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge der Beklagten Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber nicht begründet.
Der Kläger hat keinen Anspruch auf eine weitere Erhöhung des Beihilfebemessungssatzes für die Fahrten zur Dialysebehandlung. Der angefochtene Bescheid des Grenzschutzpräsidiums Nord vom 28. August 2002 in der Gestalt des Widerspruchsbescheides vom 18. Dezember 2002 ist mithin rechtmäßig und verletzt den Kläger nicht in seinen Rechten (§ 113 Abs. 5 Satz 1 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Als Rechtsgrundlage für den streitigen Anspruch kommt hier, nachdem eine Erhöhung des Bemessungssatzes gemäß § 14 Abs. 3 BhV bereits gewährt wurde, nur § 14 Abs. 6 der Allgemeinen Verwaltungsvorschriften für Beihilfen in Krankheits-, Pflege- und Geburtsfällen in der Fassung der Bekanntmachung vom 1. November 2001 (GMBl. S. 918) - BhV - in Betracht. Nach der neuesten Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (vgl. Urteil vom 17.6.2004 - 2 C 50.02 -) genügen die Beihilfevorschriften als Verwaltungsvorschriften zwar nicht (mehr) den Anforderungen des verfassungsrechtlichen Gesetzesvorbehaltes, da die wesentlichen Entscheidungen über Leistungen an Beamte, Richter und Versorgungsempfänger im Falle von Krankheit und Pflegebedürftigkeit der Gesetzgeber zu treffen habe. Trotz dieses Defizits normativer Regelung ist aber hiernach für eine - nicht näher bestimmte - Übergangszeit von der Weitergeltung der Beihilfevorschriften auszugehen.
Nach § 14 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BhV kann die oberste Dienstbehörde den Bemessungssatz im Einvernehmen mit dem Bundesministerium des Innern in besonderen Ausnahmefällen, die nur bei Anlegung des strengsten Maßstabes anzunehmen sind, erhöhen. Das Grenzschutzpräsidium Nord hat zutreffend festgestellt, dass bereits ein besonderer Ausnahmefall im Sinne des § 14 Abs. 6 Satz 1 Nr. 2 BhV im Hinblick auf die von dem Kläger selbst zu tragenden Fahrtkosten zur Dialyse nicht gegeben ist. Hierzu ist auszuführen:
Nach § 14 Abs. 1 Satz 1 BhV bemisst sich die Beihilfe nach einem Vomhundertsatz der beihilfefähigen Aufwendungen (Bemessungssatz). Der Bemessungssatz beträgt für Aufwendungen, die für Beihilfeberechtigte nach § 2 Abs. 1 Nr. 1 BhV (u.a. Beamte) entstanden sind, gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 BhV 50 v.H.. Grundsätzlich sind die Bemessungssätze der Beihilfe darauf abgestellt, dass der Beihilfeberechtigte sich und seine Familie mit einem angemessenen Beitrag in einer privaten Krankenversicherung versichert, damit er nicht durch Krankheits-, Geburts- oder Todesfälle in eine wirtschaftliche Notlage gerät. Hierin liegt keine mit dem Alimentationsprinzip und mit der Fürsorge unvereinbare Abwälzung der dem Dienstherrn obliegenden Daseinsfürsorge auf den Beamten (BVerwG, Urteil vom 11.6.1964 - 8 C 153.63 -, DÖD 1965, 14 [BVerwG 11.06.1964 - BVerwG VIII C 155.63]). Es gehört auch nicht zu den hergebrachten Grundsätzen des Berufsbeamtentums, dass der Dienstherr bei der Gewährung einer Beihilfe eine etwa daneben bestehende Privatversicherung unberücksichtigt lassen müsste. In welcher Weise der Beamte die Eigenvorsorge trifft, ist ihm überlassen. Er kann sich auf bestimmten Gebieten überversichern, während er für die übrigen Fälle eine Unterversicherung hat. Dies alles ist für den Dienstherrn ohne Interesse, solange er für eine zumutbare Versicherung eine Bemessung der Beihilfe trifft, die die Restkosten annähernd abdeckt. Die Fürsorgepflicht verlangt hingegen nicht, dass das durch die Beihilfe nicht gedeckte Risiko von Aufwendungen in Krankheitsfällen versicherbar und dass ein vollständiger Ausgleich der Kosten durch Beihilfe und Versicherungsleistung möglich ist (BVerwG, Urteil vom 3.7.2003 - 2 C 36.02 -). Nur wenn der Bemessungssatz so niedrig läge, dass eine unerträgliche Belastung der amtsangemessenen Lebensführung eintreten würde, könnte die Fürsorgepflicht in ihrem Wesenskern beeinträchtigt sein. Bis zu dieser äußersten Grenze hat der Dienstherr aber einen weiten Ermessensspielraum, wie er die Beihilfeleistungen ausgestaltet (BVerwG, Urteil vom 18.6.1980 - 6 C 19.79 - , ZBR 1980, 349).
Unter Berücksichtigung dieser allgemeinen Grundsätze liegt ein besonderer Ausnahmefall - eine vom Verwaltungsgericht im vollen Umfang nachprüfbare Tat- und Rechtsfrage - erst dann vor, wenn die Bemessung der Beihilfe nach den allgemeinen Regeln wegen besonderer Umstände als unzureichende Erfüllung der Fürsorgepflicht auch dann erscheint, wenn man in Betracht zieht, dass die Beihilferegelung eine den durchschnittlichen Verhältnissen angepasste Regelung ist, bei der in Kauf genommen werden muss, dass nicht in jedem Einzelfall eine volle Deckung der Aufwendungen erreicht wird (BVerwG, Urteil vom 16.12.1976 - IV C 24.71 -, ZBR 1977, 194/196). Ein besonderer Ausnahmefall liegt danach insbesondere vor, wenn bei objektiver Betrachtungsweise zu befürchten ist, dass der Beihilfeberechtigte zur Vermeidung finanzieller Nachteile gezwungen sein könnte, die schutzwürdigen persönlichen Belange eines ernsthaft erkrankten nahen Angehörigen zu vernachlässigen oder zu gefährden (vgl. BVerwG, Beschluss vom 26.7.1984 - 2 B 132.83 -, ZBR 1985, 25 [BVerwG 23.05.1984 - BVerwG 2 C 40.81]) oder wenn zum Beispiel die Aufwendungen, mit denen der Beihilfeberechtigte belastet wird, gemessen an dem schon in den Dienst- und Versorgungsbezügen enthaltenen Anteil für Aufwendungen aus Anlass von Krankheits-, Geburts- und Todesfällen eine schwere und unerträgliche Belastung der amtsangemessenen Lebensführung darstellen würde.
Ein besonderer Ausnahmefall in diesem Sinne ist beim Kläger nicht gegeben. Hierbei ist zu berücksichtigen, dass er für die regelmäßigen Fahrten zur Dialysebehandlung bereits gemäß § 14 Abs. 3 BhV einen erhöhten Bemessungssatz, nämlich 70 v.H., gewährt bekommen hat. Der danach für ihn verbleibende Eigenanteil von 30 v. H. der Fahrtkosten, stellt bei objektiver Betrachtungsweise noch keine schwere und unerträgliche Belastung für den Kläger dar. Der Kläger erhielt im April 2003 Nettobezüge in Höhe von monatlich 1.604,98 EUR. Gemessen an diesen Bezügen stellt die monatliche Belastung mit Fahrtkosten in Höhe von ca. 150 EUR im Schnitt noch keine unzumutbare, die amtsangemessene Lebensführung beeinträchtigende Belastung dar. Die im Schnitt 150 EUR machen zwar 9,35 v. H. des monatlichen Nettogehaltes aus. Dem Kläger verbleiben aber immer noch 1.454,98 EUR netto, was zu einer amtsangemessenen Lebensführung eines Beamten im mittleren Dienst ausreichend ist. Im Übrigen kann bei dem Begehren des Klägers nicht unberücksichtigt bleiben, dass die Fahrten zur Dialyse nach Angabe des Bevollmächtigten in der mündlichen Verhandlung glücklicherweise nur bis zum November 2003 erforderlich waren, da beim Kläger im Dezember 2003 erfolgreich eine Nierentransplantation durchgeführt worden ist.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus § 167 VwGO i.V.m. § 708 Nr. 11 ZPO.
Gründe, die Berufung nach § 124a Abs. 1 Satz 1 i.V.m. § 124 Abs. 2 Nr. 3 oder 4 VwGO zuzulassen, sind nicht gegeben.