Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 31.03.2005, Az.: 16 K 25/04

Voraussetzungen der Gewährung von Kindergeld für ein geistig behindertes Pflegekind

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
31.03.2005
Aktenzeichen
16 K 25/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 14938
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2005:0331.16K25.04.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - AZ: III R 35/05

Fundstellen

  • EFG 2005, 1786-1787 (Volltext mit amtl. LS)
  • NWB direkt 2005, 5

Verfahrensgegenstand

Kindergeld/Einkommensteuer

Amtlicher Leitsatz

Die Gewährung von Kindergeld für Pflegekinder setzt nicht voraus, dass das erwachsene geistig behinderte Kind in seiner geistigen Entwicklung einem Kinde gleichsteht. Es genügt, dass den leiblichen Eltern gem. Kindergeld zu gewähren wäre (gegen DA-FamEStG 63.2.2.3.)

Tatbestand

1

Streitig ist die Frage, unter welchem Voraussetzungen Kindergeld für ein Pflegekind gewährt werden kann, wenn die Pflegeeltern das Kind erst nach Vollendung des 27. Lebensjahres in ihren Haushalt aufgenommen haben.

2

Der am 27. Januar 1968 geborene D S ist der Bruder der Ehefrau des Klägers. Er ist von Geburt an geistig behindert. Laut einer Bescheinigung des St. Vitus-Werks M ist D S auf ständige Hilfe angewiesen, wie z.B. bei Behördengängen, Nahrungszubereitung, Wäschepflege, Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel etc. Bei einer amtsärztlichen Untersuchung wurde festgestellt, dass D sich in einfachen Sätzen gut verständlich machen kann. Lesen und Schreiben falle ihm schwer. Er fühle sich in der Familie seiner Schwester wohl und sei gut lenkbar. Einfache Arbeiten könne er ausführen. Die durch Schwerbehindertenbescheid festgestellte Minderung der Erwerbsfähigkeit beträgt 80 v.H.. D S ist in der Behindertenwerkstatt des St. Vitus-Werks in M beschäftigt und bezieht aus dieser Tätigkeit seit dem 1. April 2003 ein Entgelt von monatlich 469,- EUR. Über eigenes Vermögen verfügt D nicht.

3

Die Eltern von D S sind nach Vollendung von dessen 27. Lebensjahr verstorben. Alleinerbin war die Ehefrau des Klägers, M T. Diese ist nach dem Erbvertrag verpflichtet, ihrem Bruder Unterkunft zu gewähren und ihn zu pflegen. Der Kläger und seine Ehefrau haben D in Erfüllung dieser Verpflichtung in ihren Haushalt aufgenommen.

4

Einen ersten Antrag des Klägers auf Gewährung von Kindergeld für D S als Pflegekind hat der Beklagte mit Bescheid vom 5. Mai 2000 abgelehnt. Auch einen weiteren Kindergeldantrag vom 2. Mai 2003 hat der Beklagten mit Bescheid vom 8. Mai 2003 abschlägig beschieden. Den dagegen gerichteten Einspruch hat er bestandskräftig am 1. September 2003 zurückgewiesen.

5

Schließlich stellten die Kläger am 10. November 2003 erneut einen Kindergeldantrag, den der Beklagte mit Bescheid vom 8. Dezember 2003 abgelehnt hat. Den dagegen gerichteten Einspruch hat er mit Einspruchsbescheid vom 8. Januar 2004 zurückgewiesen.

6

Der Kläger vertritt im Klageverfahren die Auffassung, dass eine Gewährung von Kindergeld nicht voraussetzte, dass das Pflegekind geistig und seelisch schwer behindert sei und in seiner geistigen Entwicklung einem Kinde gleich stehe. Die entsprechende Gesetzesauslegung durch den Beklagten finde im Gesetzeswortlaut keine Stütze. Es reiche aus, dass das Kind die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG erfülle, d.h. wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außer Stande sei, sich selbst zu unterhalten. Dies sei hier aber der Fall, wie sich aus den eingereichten Unterlagen ergebe.

7

Der Kläger beantragt,

unter Aufhebung des Bescheides vom 10. November 2003 und der Einspruchsentscheidung vom 8. Januar 2004 den Beklagten zu verpflichten, Kindergeld für D S für den Zeitraum Juni 2003 bis Januar 2004 in gesetzlicher Höhe zu gewähren.

8

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

9

Der Beklagte ist der Meinung, dass Kindergeld für ein erwachsenes Pflegekind nur gewährt werden könne, wenn dieses hilflos wie ein Kind sei. Diese Voraussetzungen erfülle D S nicht. Das zeige sich daran, dass er im Arbeitsbereich der Behindertenwerkstatt tätig und damit in der Lage sei, mehrere Arbeitsschritte abzuarbeiten und auch Industriemaschinen zu bedienen. Er wäre deshalb auch als Metallhilfsarbeiter auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu vermitteln.

Entscheidungsgründe

10

Die Klage ist begründet. Dem Kläger steht für den Zeitraum Juni 2003 bis Januar 2004 Kindergeld für D S zu.

11

Gem. 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, Satz 2 EStG werden beim Kindergeld Kinder im Sinne des § 32 Abs. 1 EStG berücksichtigt, wenn ein Kindergeldtatbestand (§ 32 Abs. 3, 4 EStG) vorliegt und das Kind nicht über kindergeldschädliche eigene Einkünfte (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG) verfügt.

12

Als Kindergeldtatbestand ist im Streitfall § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG einschlägig. Danach wird ein Kind berücksichtigt, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außer Stande ist, sich selbst zu unterhalten; Voraussetzung ist, dass die Behinderung vor Vollendung des 27. Lebensjahres eingetreten ist.

13

Den Nachweis einer Behinderung kann der Berechtigte durch Vorlage eines Schwerbehindertenausweises erbringen, wenn darin eine Behinderung von mindestens 50 v.H. festgestellt ist (DA-FamEStG 63.3.6.2. Abs. 1 Nr. 1). Die Ursächlichkeit der Behinderung für die Unfähigkeit des Kindes zur Ausübung einer Erwerbstätigkeit kann grundsätzlich angenommen werden, wenn der Grand der Behinderung 50 v.H. oder mehr beträgt und besondere Umstände hinzutreten, aufgrund derer eine Erwerbstätigkeit unter den üblichen Bedingungen des allgemeinen Arbeitsmarktes ausgeschlossen erscheint, wie z.B. bei Unterbringung in einer Werkstatt für behinderte Menschen (DA-FamEStG 63.3.6.3.1.Abs. 2, zweiter Spiegelstrich). Diese Voraussetzungen sind im vorliegenden Fall erfüllt, da die durch Schwerbehindertenausweis festgestellte Minderung der Erwerbsfähigkeit 80 v.H. beträgt und D S in einer Behindertenwerkstatt tätig ist. Es steht einer Kindergeldgewährung auch nicht entgegen, dass D S im Zeitpunkt der erstmaligen Antragstellung bereits das 27. Lebensjahr vollendet hatte, weil seine geistige Behinderung bereits von Geburt an vorlag.

14

D bezog auch keine kindergeldschädlichen eigenen Einkünfte. Bei behinderten Kindern ist die Einkommensgrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG um den behinderungsbedingten Mehrbedarf zu erhöhen; für diesen kann, wenn kein Einzelnachweis geführt wird, der Behindertenpauschbetrag des § 33 b Abs. 3 Satz 3 EStG von 3.700,- EUR angesetzt werden. Den Jahresgrenzbetrag von hier 10.888,- EUR hat D S mit monatlichen Einkünften von 469,- EUR bei weitem nicht erreicht.

15

Lebten die Eltern von D noch, so wäre ihnen Kindergeld zu gewähren, was auch der Beklagte einräumt.

16

Die Gewährung von Kindergeld ist im Streitfall nicht deshalb ausgeschlossen, weil hier Kindergeld für ein Pflegekind beantragt wird. Zu den gem. § 63 Abs. 1 Nr. 1 EStG zu berücksichtigenden Kindern gehören aufgrund der Verweisung auf § 32 Abs. 1 EStG auch Pflegekinder. § 32 Abs. 1 Nr. 2 i.V.m. § 52 Abs. 40 EStG definiert Pflegekinder als Personen, mit denen der Steuerpflichtige durch ein familienähnliches, auf längere Dauer berechnetes Band verbunden ist, sofern er sie nicht zu Erwerbszwecken in seinen Haushalt aufgenommen hat und das Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern nicht mehr besteht.

17

Die Tatbestandsmerkmale dieser Definition des Pflegekindes sind im Falle von D erfüllt. Jener wurde dauerhaft in die Familie des Klägers aufgenommen und wird in dessen Haushalt versorgt; ein Obhuts- und Pflegeverhältnis zu den Eltern besteht seit deren Tod nicht mehr.

18

Der Beklagte beruft sich für seine Rechtsauffassung auf DA-FamEStG 63.2.2.3. Danach begründet die Aufnahme eines volljährigen Familienangehörigen in die Hausgemeinschaft und die Sorge für ihn für sich allein regelmäßig kein Pflegekindschaftsverhältnis, selbst wenn der Angehörige behindert ist. Etwas anderes soll nur gelten, wenn es sich bei dem Familienangehörigen um einen schwer geistig oder seelisch behinderten Menschen handelt, der in seiner geistigen Entwicklung einem Kinde gleichsteht; in diesem Falle könne das Pflegekindschaftsverhältnis unabhängig vom Alter des behinderten Angehörigen und der Pflegeeltern begründet werden.

19

Das Gericht folgt dieser den Kindergeldanspruch von Pflegeeltern einschränkenden Verwaltungsvorschrift nicht. Sie findet im Gesetzeswortlaut des § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG keine Stütze. Aus der Vorschrift ergibt sich keinerlei Anhaltspunkt dafür, dass mit volljährigen Familienangehörigen ein Pflegekindschaftsverhältnis nur dann begründet werden kann, wenn die Person in ihrer geistigen Entwicklung einem Kinde gleichsteht. Dies kann auch nicht aus dem Begriff des Pflege-"kindes" hergeleitet werden. Der Begriff des Pflegekindes ist selbst nicht Teil der Legaldefinition des Pflegekindes in § 32 Abs. 1 Nr. 2 EStG. Das zeigt ein Vergleich mit der bis 1995 geltenden Gesetzesfassung. Damals befand sich die Definition des Pflegekindes nicht wie gegenwärtig in einem Klammerzusatz, sondern in einem gesonderten, durch die Worte "Das sind Personen, mit denen der Steuerpflichtige ..." eingeleiteten Satz. Diese Formulierung zeigt eindeutiger als die seit 1996 geltende, nur redaktionell, aber nicht inhaltlich geänderte Gesetzesfassung, dass ausschließlich durch den zweiten Satz beschrieben wird, wer Pflegekind ist und wer nicht.

20

Das Gericht sieht auch keine inhaltliche Rechtfertigung dafür, für ein volljähriges Kind, das die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Nr. 3 EStG erfüllt, Kindergeld zwar dann zu gewähren, wenn es im Haushalt der leiblichen Eltern lebt, nicht aber, wenn es nach deren Tode von Familienangehörigen langfristig wie ein Familienmitglied in ihren Haushalt aufgenommen wird. Die wirtschaftliche Belastung beider Familienhaushalte durch die Person, die aufgrund ihrer geistigen Behinderung nicht ihren eigenen Unterhalt erwirtschaften kann, ist jeweils identisch.

21

Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

22

Die Entscheidung zur vorläufigen Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 151 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.

23

Die Revision wird gem. § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO im Hinblick auf die Frage zugelassen, ob Kindergeld für erwachsene Pflegekinder nur dann zu gewähren ist, wenn es sich um einen schwer geistig behinderten Menschen handelt, der in seiner geistigen Entwicklung einem Kinde gleichsteht.