Oberlandesgericht Celle
Urt. v. 28.04.2005, Az.: 9 U 242/04

Geltendmachung eines Schadensersatzanspruch wegen psychisch verursachter Drittschäden; Mittelbar Geschädigter als Anspruchsinhaber; Bestimmung des Geltungsbereichs eines deliktischen Anspruchs; Notwendigkeit eines haftungsrechtlichen Zurechnungszusammenhangs; Schutzzweck des Schadensersatzanspruchs nach dem Haftpflichtgesetz (HaftPflG)

Bibliographie

Gericht
OLG Celle
Datum
28.04.2005
Aktenzeichen
9 U 242/04
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2005, 36216
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGCE:2005:0428.9U242.04.0A

Verfahrensgang

vorgehend
LG Hannover - 03.11.2004 - AZ: 11 O 145/04

Fundstelle

  • VersR 2006, 1376-1377 (Volltext mit amtl. LS)

In dem Rechtsstreit ...
hat der 9. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Celle
auf die mündliche Verhandlung vom 13. April 2005
durch
den Vorsitzenden Richter am Oberlandesgericht ... und
die Richter am Oberlandesgericht ... und ...
für Recht erkannt:

Tenor:

Die Berufung gegen das am 3. November 2004 verkündete Urteil der 11. Zivilkammer des Landgerichts Hannover wird auf Kosten des Klägers zurückgewiesen.

Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar.

Dem Kläger wird nachgelassen, die Zwangsvollstreckung gegen Sicherheitsleistung von 115 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, wenn nicht die Beklagte Sicherheit in Höhe von 115 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Die Revision wird nicht zugelassen.

Gründe

1

I.

Es wird auf die tatsächlichen Feststellungen im angefochtenen Urteil verwiesen (§ 540 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 ZPO).

2

Mit der Berufung verfolgt der Kläger seinen erstinstanzlichen Antrag weiter. Das Urteil beruhe auf einer Rechtsverletzung. Auch rechtfertigten die nach § 529 ZPO zugrundezulegenden Tatsachen eine andere Entscheidung.

3

Das Landgericht sei fehlerhaft davon ausgegangen, dass seine psychische Erkrankung nicht von dem Schutzbereich der in Frage kommenden haftungsbegründenden Normen erfasst sei mit der Folge, dass er das allgemeine Risiko seines Berufs als Grenzschutzbeamter zu tragen habe. Bei einer psychisch vermittelten Primärerkrankung - posttraumatische Belastungsstörung in Kombination mit einer depressiven Störung - bestehe ein Schadensersatzanspruch keineswegs nur bei einem sog. Schockschaden. Es habe sich auch um ein besonders schweres Unfallereignis, also keineswegs um eine "Bagatellursache" gehandelt. Seine Prädisposition aufgrund der Eisenbahnunglücke in H. und E., bei denen er auch eingesetzt gewesen sei, sei für die Schadensersatzpflicht der Beklagten nicht von Belang. Der Einsatz in B. habe "das Fass zum Überlaufen" gebracht. Das Landgericht gehe fehlerhafterweise davon aus, dass die Eindrücke am Unfallort deswegen nicht gravierend und begründend für die psychische Reaktion hätten sein können, weil er die Unfallstelle erst über 3 Stunden nach dem eigentlichen Unfallereignis erreicht habe. Gegen 04:00 Uhr sei er in ca. 20 m vom Unfallort eingesetzt worden. Bei Beginn seines Einsatzes im Bahnhofsgebäude von B. gegen 00:00 Uhr im Rahmen der "Einsatzleistung bei Unfallermittlungen", und zwar u. a. als Führer des Einsatztagebuchs, sei das Feuer noch nicht unter Kontrolle gewesen. Das sei erst um 00:42 Uhr der Fall gewesen.

4

Er habe auch nicht etwa lediglich nur eine Bagatellkörperverletzung erlitten. Immerhin sei er 6 Wochen krank geschrieben gewesen. Er sei mit Epichlorhydrin (fortan: ECH), das eindeutig krebserregend sei, in Berührung gekommen, indem er es eingeatmet habe.

5

Die Beklagte verteidigt das Urteil.

6

II.

Die Berufung ist unbegründet; die Entscheidungsgründe des angefochtenen Urteils sind im Wesentlichen zutreffend.

7

Der Kläger macht psychisch verursachte Drittschäden geltend, und zwar vor allem eine psychische Primärerkrankung, d. h. eine psychische Erkrankung, die ohne eine somatische Vermittlung entstanden ist, in Gestalt einer posttraumatischen Belastungsstörung in Kombination mit einer depressiven Störung, ferner die Angst vor einer Krebserkrankung in Folge des Einatmens von ECH sowie körperliche Beeinträchtigungen geringeren Ausmaßes.

8

Der mittelbar Geschädigte hat in aller Regel keinen Schadensersatzanspruch. Er muss also seinen Schaden selbst tragen, weil andernfalls uferlose Ersatzansprüche bestünden. Ersatzberechtigt ist deshalb nur der Gläubiger der verletzten Pflicht (sog. "Tatbestandsprinzip" nach Esser/Schmidt, Schuldrecht, Allgemeiner Teil, 6. Aufl., § 34 vor I und I). Bei der Verletzung einer - hier nicht einschlägigen - vertraglichen Pflicht ist das der Vertragspartner bzw. ein in den Schutzbereich des Vertrages einbezogener Dritter. Ein deliktsrechtlicher Anspruch steht nur demjenigen zu, in dessen absolutes Recht unmittelbar eingegriffen worden ist (§ 823 Abs. 1 BGB) bzw. dessen Schutz die verletzte Norm dienen soll (§ 823 Abs. 2 BGB).

9

Die Entscheidung des Gesetzgebers, jedenfalls bei fahrlässig begangenen unerlaubten Handlungen die Ersatzpflicht nach § 823 Abs. 1 BGB von der Verletzung eines Rechtes oder Rechtsgutes oder nach § 823 Abs. 2 BGB von der Verletzung eines Schutzgesetzes abhängig zu machen, verfolgt vor allem das Ziel, den Kreis der Ersatzberechtigten auf die Inhaber des Rechtes oder Rechtsgutes und die unter dem Schutzzweck der verletzten Norm Stehenden zu beschränken. Die Gewährung von Schadensersatz an Dritte nach § 844 f. BGB ist daher als Ausnahme anzusehen. Dasselbe gilt für andere gesetzliche Vorschriften, die einen Drittschadensersatz anordnen, auch wenn ihnen ein vertragliches Schuldverhältnis zugrunde liegt, wie § 618 Abs. 3 BGB und § 62 Abs. 3 HGB. Aus § 249 BGB ergibt sich eine solche Einschränkung des Kreises der Ersatzberechtigten zwar nicht ausdrücklich; § 251 BGB zeigt aber mit dem Hinweis auf den "zu entschädigenden Gläubiger", dass im allgemeinen Schadensrecht jedenfalls eine strenge Bindung der Ersatzberechtigung an die Person des Gläubigers vorausgesetzt wird. Hierdurch wird das Risiko für den Handelnden überschaubarer (Staudinger/Schiemann [2005], BGB, Vorbem. zu den §§ 249 ff. Rdnr. 49).

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Zu den Ausnahmeregelungen der §§ 844 Abs. 2 und 245 BGB gibt es eine Reihe von Parallelvorschriften im Rahmen der Gefährdungshaftung (s. im Einzelnen a. a. O., Rdnr. 50). Ferner ist der Kreis der schadensrechtlich Geschützten dadurch erweitert worden, dass Geschädigte, die auf den ersten Blick nur als Dritte betroffen zu sein scheinen, im Wege der Erweiterung schadensrechtlicher Anspruchsgrundlagen als unmittelbare Gläubiger behandelt werden, z. B. der z. Zt. der Schädigung noch nicht Geborene (BGHZ 58, 48[BGH 11.01.1972 - VI ZR 46/71]) oder noch nicht einmal Gezeugte (BGHZ 8, 243), und die Opfer eines Schocks durch die Zeugenschaft bei einem Verkehrsunfall eines Angehörigen oder derjenige, der vom Tod oder der schweren Verletzung eines Angehörigen benachrichtigt wird (s. im Einzelnen Wagner in MünchKomm.-BGB, 4. Aufl., § 823 Rdnrn. 76 ff.; Staudinger/Hager [1999], § 823 Anm. B 35 f.). Auch Retter sind in den geschützten Personenkreis einbezogen. Dieser ist durch Zurechnungsüberlegungen einzugrenzen (BGH VersR 1989, 923).

11

Im Streitfall fehlt es an einem solchen haftungsrechtlichen Zurechnungszusammenhang/Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen dem Eisenbahnunglück, das nach dem Vorbringen des Klägers durch ein Bremsversagen in Folge unsorgfältig angekuppelter Luftdruckleitungen und / oder einen defekten Luftabsperrhahn verursacht worden ist, und dem Schaden des Klägers. Der haftungsrechtlichen Verknüpfung mit dem Unglück steht entgegen, dass der Schaden erst Stunden nach diesem und nach der Entwarnung erst aufgrund der psychischen Belastung durch die Eindrücke an der Unfallstelle entstanden sein soll. Erhebliche Verletzungen oder gar Tote hat es nicht gegeben (s. die chronologische Darstellung des Unglücks für den Zeitpunkt 00:30 Uhr). Mit der Hilfeleistung für den einen relativ geringfügig verletzten Lokomotivführer war der Kläger nicht befasst, sondern (lediglich und angeblich) mit der Ermittlung der Unfallursache. Den Einsatzort hat er bereits gegen 05:00 Uhr wieder verlassen. Von dem Austritt des ECH aus einem Kesselwagen wusste er seinerzeit nichts (S. 8 der Klage), und bei seinem Eintreffen am Unfallort war bereits Entwarnung gegeben worden (S. 5 des Schriftsatzes vom 7. April 2005), sodass lediglich die allgemeine Aufregung aufgrund des Unglücks den Schaden verursacht hat. Darin kann jedoch noch keine Körperverletzung bzw. Gesundheitsschädigung erblickt werden. Der Kläger musste sich darüber hinaus von Berufs wegen zu dem Unfallort begeben, wo er aber lediglich - wie gesagt - Zeuge einer bereits geschehenen Rechtsgutsverletzung war. So weit reicht aber der Schutzzweck etwa verletzter Normen nicht. Es hat sich vielmehr eine Gefahr verwirklicht, die dem Berufsrisiko des Klägers zuzuordnen ist. Dafür muss ggf. sein Dienstherr nach versorgungsrechtlichen Grundsätzen einstehen.

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Entsprechendes gilt für einen Schadensersatzanspruch aus § 1 HaftPflG:

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Der Kläger hat seinen Schaden nicht "bei dem Betrieb einer Schienenbahn" erlitten, weil dieser nicht infolge der besonderen mit dem Betrieb einer Bahn verbundenen Gefahren entstanden ist, sich also die gerade von dem Betrieb einer Eisenbahn ausgehenden Risiken nicht aktualisiert haben. Der Schaden ist deshalb nicht innerhalb des Schutzzwecks des § 1 Abs. 1 HaftpflG entstanden. Die besonderen, mit dem Betrieb einer Bahn verbundenen Gefahren verwirklichen sich in typischer Weise im verkehrlichen (bahntypischen) Teil des Bahnunternehmens, vornehmlich bei Beförderungen und den sie unmittelbar vorbereitenden und abschließenden Vorgängen, wozu insbesondere das Ein- und Aussteigen und das Rangieren gehören. Gerade hier begünstigen die Eigentümlichkeiten des Bahnverkehrs - Bindung an Schienen oder Seilen, die ein Ausweichen unmöglich machen; hohe Geschwindigkeit und Bewegung schwerer Massen, die ein rechtzeitiges Anhalten erschweren und bei Zusammenstößen eine starke Aufprallwucht bewirken; Massenbeförderungen (meistens) im Rahmen eines Fahrplans, die vor allem beim Ein, Aus- und Umsteigen mit Eile, Hast und Gedränge verbunden sind - erfahrungsgemäß das Entstehen von Unfällen. Rechtsprechung und Schrifttum haben deshalb aus der Entstehungsgeschichte und dem Zweck des RHG gefolgert, dass sich die besondere Bahnhaftung auf Unfälle beschränkt, die diesen Vorgängen zuzurechnen sind (Filthaut, HaftpflG, 6. Aufl., § 1 Rdnr. 67; BGH a. a. O. zu der vergleichbaren Haftung aus § 7 StVG).

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Für die relativ geringfügigen Körperverletzungen (Kopfschmerzen und Schwindel während einiger Tage) gilt nichts anderes. Auch diese sind psychisch vermittelt entstanden (s. die gutachtliche Stellungnahme des Arztes für Allgemeinmedizin Dr. Zinke vom 27. November 2002). Der Kläger ist im Übrigen nicht in der Lage zu beweisen, dass er überhaupt ECH ausgesetzt war. Er kann deshalb insoweit erneut nur eine bloß mittelbare Beeinträchtigung geltend machen, die entsprechend den vorstehenden Darlegungen nicht ersatzfähig ist (s. zur Rechtslage auch KG VersR 1991, 826; Wagner in MünchKomm.-BGB, 4. Aufl., § 823 Rdnr. 72 a. E.). Aus der chronologischen Darstellung des Unfalls (Bl. 221 ff. d. A.) ergibt sich, dass um 03:30 Uhr ein ECH-Prüfröhrchen an Ort und Stelle zur Verfügung stand und dass die Einsatzleitung dann sogleich "aufgrund der Messergebnisse" zu dem Ergebnis kam, "dass vom Kesselwagen keine weitere Gefahr ausgeht". Um 04:00 Uhr geschah die "Beendigung weiterer Messungen", "da alle bei der Verbrennung des Epichlorhydrins entstehenden Stoffe nicht mehr nachweisbar sind" (s. auch die Pressemitteilung der Deutschen Bahn AG vom 12. September 2002 [Anl. K 6]). Gegen 03:30 Uhr befand sich der Kläger aber noch nicht einmal an der Unfallstelle auf dem Güterbahnhof. Da er lediglich unspezifische körperliche Beschwerden geltend macht, kann auch ein Sachverständiger diese nicht auf eine Exposition gegenüber ECH zurückführen, zumal sie nach wenigen Tagen abgeklungen waren und deshalb eine fortwirkende physische Belastung durch vom Körper aufgenommene Giftstoffe ausscheidet. Aus diesem Grund stellt die nicht konkretisierbare - in der mündlichen Verhandlung vor dem Senat hat die Prozessbevollmächtigte des Klägers dargelegt, dass ein Verfahren zum Nachweis von ECH im Körper erst entwickelt werde - Angst vor Spätfolgen (Krebs) keinen ersatzfähigen immateriellen Schaden dar.

15

Die Kostenentscheidung beruht auf § 97 Abs. 1 ZPO und die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit auf den §§ 708 Nr. 10 und 711 ZPO.

16

Die Revision ist nicht zuzulassen, weil die Rechtssache keine grundsätzliche Bedeutung hat und auch die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts nicht erfordert (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO).