Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 23.11.2015, Az.: 4 LA 223/14

gewöhnlicher Aufenthalt; Kostenerstattungsanspruch; Personensorge; örtliche Zuständigkeit

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
23.11.2015
Aktenzeichen
4 LA 223/14
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2015, 45148
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 24.07.2014 - AZ: 3 A 5247/11

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

§ 86 Abs. 5 Satz 2 2 Alt. SGB VIII in der bis zum 31. Dezember 2013 geltenden Fassung findet in allen Fallgestaltungen Anwendung, in denen keinem Elternteil das Sorgerecht zusteht und die Elternteile nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besitzen (Anschluss an BVerwG, Urt. v. 14.11.2013 - 5 C 34.12 -).

Tenor:

Der Antrag des Klägers auf Zulassung der Berufung gegen das Urteil des Verwaltungsgerichts Hannover - Einzelrichter der 3. Kammer - vom 24. Juli 2014 wird abgelehnt.

Der Kläger trägt die Kosten des Berufungszulassungsverfahrens.

Der Streitwert des Berufungszulassungsverfahrens wird auf 26.542,93 EUR festgesetzt.

Gründe

Der Antrag des Klägers, die Berufung gegen das erstinstanzliche Urteil zuzulassen, hat keinen Erfolg. Der von ihm geltend gemachte Zulassungsgrund des § 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO liegt nicht vor.

Es bestehen keine ernstlichen Zweifel an der Richtigkeit des erstinstanzlichen Urteils (§ 124 Abs. 2 Nr. 1 VwGO). Das Verwaltungsgericht hat im Ergebnis zu Recht entschieden, dass der Kläger gegen den Beklagten gemäß § 89a Abs. 3 und Abs. 1 Satz 1 SGB VIII keinen Anspruch auf Erstattung der Kosten hat, die er für die Gewährung von Leistungen der Jugendhilfe zugunsten von A. B. C. in dem Zeitraum vom 6. Februar 2009 bis 30. Juni 2011 aufgewendet hat. Nach § 89a Abs. 3 SGB VIII wird der örtliche Träger kostenerstattungspflichtig, der ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII örtlich zuständig geworden wäre, wenn sich während der Gewährung der Leistung nach § 89a Abs. 1 SGB VIII der für die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII maßgebliche gewöhnliche Aufenthalt ändert. Diese Voraussetzungen liegen nicht vor, da der Beklagte für die Gewährung von Jugendhilfeleistungen zu Gunsten von A. B. C. in dem Zeitraum vom 6. Februar 2009 bis 30. Juni 2011 ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII nicht örtlich zuständig geworden wäre.

Nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts, der sich der Senat im Interesse einer einheitlichen Rechtsanwendung anschließt, findet § 86 Abs. 5 Satz 2 2 Alt. SGB VIII in der bis zum 31. Dezember 2013 geltenden Fassung in allen Fallgestaltungen Anwendung, in denen keinem Elternteil das Sorgerecht zusteht und die Elternteile nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besitzen (BVerwG, Urt. v. 14.11.2013 - 5 C 34.12 -, BVerwGE 148, 242 Rn. 22 ff.; ferner Urt. v. 30.9.2009 - B 5 C 18.08 -, BVerwGE 135, 58 Rn. 22 ff., v. 9.12.2010 - 5 C 17.09 -, Buchholz 436.511 § 86 SGB VIII/KJHG Nr. 12 Rn. 21, v. 12.5.2011 -  5 C 4.10 -, BVerwGE 139, 378 Rn. 17 und v. 19.10.2011 - 5 C 25.10 - BVerwGE 141, 77 Rn. 35 ff.). Solange die Personensorge keinem Elternteil zusteht, bleibt danach die bisherige Zuständigkeit bestehen, d. h. die Zuständigkeit, die vor dem Zeitpunkt, zu dem eine Prüfung und gegebenenfalls Neubestimmung der örtlichen Zuständigkeit veranlasst ist, zuletzt bestanden hat (BVerwG, Urt. v. 30.9.2009, a.a.O. Rn 22 ff.; ferner Urt. v. 9.12.2010, a.a.O. Rn 21). Die Anwendbarkeit des § 86 Abs. 5 Abs. 5 Satz 2 2. Alt. SGB VIII endet in diesen Fällen erst mit der Einstellung der Leistung bzw. der Gewährung einer (zuständigkeitsrechtlich) neuen Leistung, der (erneuten) Begründung eines gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne von § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII oder der Übertragung der Personensorge auf ein Elternteil (BVerwG, Urt. v. 30.9.2009, a.a.O. Rn. 24, Urt. 9.12.2010, a.a.O. Rn. 22, BVerwG, Urt. v. 12.5.2011, a.a.O. Rn. 25). Dass § 86 Abs. 5 Satz 2 SGB VIII durch Art. 1 Nr. 5 des Gesetzes zur Verwaltungsvereinfachung in der Kinder- und Jugendhilfe (Kinder- und Jugendhilfevereinfachungsgesetz - KJVVG) vom 29. August 2013 (BGBl I S. 3464) geändert worden ist, steht der vorgenannten Auslegung von § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alt. SGB VIII in der bis zum 31. Dezember 2013 geltenden Fassung nach Auffassung des Bundesverwaltungsgerichts nicht entgegen, da die Änderung erst mit Wirkung ab dem 1. Januar 2014 Geltung beansprucht (BVerwG, Urt. v. 14.11.2013, a.a.O. Rn. 15).

Nach den vorgenannten Maßstäben hat sich während der Gewährung der Leistung nach § 89a Abs. 1 SGB VIII durch den Kläger, d. h. der Leistungsgewährung aufgrund seiner Zuständigkeit nach § 86 Abs. 6 SGB VIII, der für die örtliche Zuständigkeit nach § 86 Abs. 1 bis 5 SGB VIII maßgebliche gewöhnliche Aufenthalt nicht dahingehend geändert, dass der Beklagte ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 SGB VIII in dem streitgegenständlichen Zeitraum vom 6. Februar 2009 bis 30. Juni 2011 zuständiger Leistungsträger geworden wäre. Dies ergibt sich aus Folgendem:

Die Stadt Lüneburg hat für das Kind A. B. C. beginnend ab dem 16. Mai 1997 Jugendhilfeleistungen in Form der Unterbringung in einer Pflegefamilie im Zuständigkeitsbereich des Klägers gewährt. Die örtliche Zuständigkeit der Stadt Lüneburg für die Gewährung der Jugendhilfeleistung folgte zu diesem Zeitpunkt aus § 86 Abs. 3 SGB VIII  i. V. m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII entsprechend. Gemäß § 86 Abs. 3 SGB VIII gilt § 86 Absatz 2 Satz 2 und 4 SGB VIII entsprechend, wenn die Elternteile verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben und die Personensorge keinem Elternteil zusteht. § 86 Abs. 3 SGB VIII erfasst (nur) die Fälle, in denen die Eltern vor bzw. bei Leistungsbeginn verschiedene gewöhnliche Aufenthalte haben und schon in diesem Zeitpunkt keinem Elternteil die Personensorge zusteht (BVerwG, Urt. v. 9.12.2010, a.a.O. Rn 22). Dies ist hier der Fall gewesen. Vor Beginn der Leistung am 16. Mai 1997 hatte keinem Elternteil die Personensorge für das Kind A. B. C. zugestanden, da der zuvor allein sorgeberechtigten Kindesmutter bereits durch Beschluss des Amtsgerichts Lüneburg vom 8. April 1997 zunächst vorläufig und mit weiterem Beschluss vom 2. Dezember 1997 auf Dauer das Sorgerecht für ihr Kind entzogen und dem Jugendamt der Stadt Lüneburg als Amtsvormund übertragen worden war. Darüber hinaus haben die Elternteile zu diesem Zeitpunkt auch verschiedene gewöhnliche Aufenthalte gehabt. Nach den Feststellungen des Verwaltungsgerichts ist der Aufenthalt der Kindesmutter zu diesem Zeitpunkt zwar „nicht mit letzter Sicherheit geklärt; wahrscheinlich hielt sie sich in Lüneburg auf“ und „der Kindesvater lebte zu dem Zeitpunkt in Göttingen“ (Urteilsabdruck, Seite 2). Für den Senat bestehen jedoch keine Zweifel, dass die Kindesmutter zu diesem Zeitpunkt ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Lüneburg gehabt hat. Denn die Kindesmutter hatte zu diesem Zeitpunkt die stationäre Therapieeinrichtung in D. im Kreis Schleswig-Flensburg bereits verlassen, war (weiterhin) in Lüneburg (E. -straße 25) gemeldet und die Stadt Lüneburg hat mit Schreiben vom 7. März 2001 an den Kläger auch ausdrücklich erklärt, dass das Kind vor Beginn der Leistung seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei der Kindesmutter in Lüneburg gehabt hat. Konkrete Anhaltspunkte dafür, dass die Kindesmutter bereits zum Zeitpunkt des Beginns der Leistung keinen gewöhnlichen Aufenthalt mehr in Lüneburg gehabt hat, sind nicht ersichtlich.

Dass die Kindesmutter nach dem Abbruch der stationären Drogentherapie in D. im Kreis Schleswig-Flensburg ihren Sohn dort zurückgelassen hat,  das Kind folglich unmittelbar vor Leistungsbeginn im Mai 1997 nicht bei seiner Kindesmutter in Lüneburg gelebt hat, steht der örtlichen Zuständigkeit der Stadt Lüneburg vor bzw. bei Beginn der Leistung gemäß § 86 Abs. 3 SGB VIII  i. V. m. § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII entsprechend nicht entgegen. Denn für die Bestimmung der Zuständigkeit nach § 86 Abs. 2 Satz 2 SGB VIII (entsprechend) nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Elternteils, bei dem das Kind oder der Jugendliche vor Beginn der Leistung zuletzt seinen gewöhnlichen Aufenthalt hatte, ist es ausreichend, dass irgendwann vor Beginn der Leistung das Kind bzw. der Jugendliche seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei dem Elternteil gehabt hat (vgl. BVerwG, Urt. v. 29.9.2010 - 5 C 21.09 -, BVerwGE 138, 48 Rn. 19). Der gewöhnliche Aufenthalt des Kindes oder Jugendlichen bei dem Elternteil muss allerdings während der letzten sechs Monate vor Beginn der Leistung (zu irgendeinem Zeitpunkt) vorgelegen haben, da sich anderenfalls die örtliche Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 2 Satz 4 SGB VIII (entsprechend) nach dem tatsächlichen Aufenthalt des Kindes oder des Jugendlichen vor Beginn der Leistung richtet (vgl.  Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl., § 86 Rn. 20). Innerhalb der letzten sechs Monate vor Leistungsbeginn hatte das Kind indessen seinen gewöhnlichen Aufenthalt bei seiner Mutter, da das Kind bei ihr zunächst in Lüneburg und ab Oktober 1996 mit dieser zusammen in einer Therapieeinrichtung in D. gelebt hat.

Die ursprünglich gegebene örtliche Zuständigkeit des Jugendamtes der Stadt Lüneburg für die Gewährung von Jugendhilfeleistungen ist ab dem 16. Mai 1999 auf den Kläger gemäß § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB III übergegangen, weil das Kind A. B. C. zwei Jahre bei einer Pflegeperson mit gewöhnlichem Aufenthalt im Bereich des Klägers gelebt hat und sein Verbleib bei dieser Pflegeperson auf Dauer zu erwarten gewesen ist. Die ursprünglich gegebene örtliche Zuständigkeit der Stadt Lüneburg wäre ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII in der Folgezeit jedoch nicht - wie es ein gegen den Beklagten gerichteter Erstattungsanspruch nach § 89a Abs. 3 SGB VIII  voraussetzt - auf diesen übergegangen. Denn in allen Fällen, in denen - wie hier - keinem Elternteil das Sorgerecht zusteht und die Elternteile nach Beginn der Leistung verschiedene gewöhnliche Aufenthalte besitzen, besteht - wie bereits dargelegt - nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts die bisherige Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alt. SGB VIII in der bis zum 31. Dezember 2013 geltenden Fassung fort. Die bisherige Zuständigkeit der Stadt Lüneburg endete ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII demnach erst mit der Einstellung der Leistung bzw. der Gewährung einer (zuständigkeitsrechtlich) neuen Leistung, der (erneuten) Begründung eines gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalts im Sinne von § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII oder der Übertragung der Personensorge auf ein Elternteil. Die Voraussetzungen für eine derartige Beendigung der statischen Zuständigkeit nach § 85 Abs. 5 Satz 2 2. Alt. SGB VIII und für einen Wechsel der Zuständigkeit auf den Beklagten haben ersichtlich nicht vorgelegen. Eine (zuständigkeitsrechtlich) neue Leistung ist nicht gewährt worden, auch ist der Mutter des Kindes A. B. C. nach Beginn der Leistung das Sorgerecht nicht zurückübertragen worden. Schließlich haben auch die Aufenthalte der Mutter in Hannover (vom 23.10.2000 bis zum 8.12.2004, vom 10.8.2005 bis zum 1.9.2006 und vom 28.7.2008 bis zum 30.6.2011) nicht zu einer örtlichen Zuständigkeit des Beklagten geführt, da die Aufenthalte dort keinen gemeinsamen gewöhnlichen Aufenthalt der Eltern im Sinne von § 86 Abs. 1 Satz 1 SGB VIII begründet haben. Der Vater des Kindes A. B. C. hat nämlich seit 1999 seinen gewöhnlichen Aufenthalt in Hamburg gehabt. Folglich wäre, da § 86 Abs. 5 Satz 2 2. Alt. SGB VIII in der bis zum 31. Dezember 2013 geltenden Fassung eine umfassende Regelung für verschiedene Aufenthalte der Eltern nach Leistungsbeginn darstellt, eine Zuständigkeit des Beklagten ohne Anwendung des § 86 Abs. 6 Satz 1 SGB VIII nicht begründet worden. Für den von dem Kläger geltend gemachten Erstattungsanspruch gemäß § 89a Abs. 3 SGB VIII gegen den Beklagten ist es nach dem Vorgenannten schließlich ohne Belang, ob - wie der Kläger mit seinem Zulassungsantrag geltend gemacht hat - die Mutter des Kindes entgegen der Annahme des Verwaltungsgerichts in der Zeit vom 28. Dezember 2004 bis 15. Juli 2005 in Hamburg keinen gewöhnlichen Aufenthalt, sondern nur einen tatsächlichen Aufenthalt begründet und ihren gewöhnlichen Aufenthalt in Hannover beibehalten hat.

Die Kostenentscheidung beruht auf § 154 Abs. 2 VwGO. Die Festsetzung des Streitwerts folgt aus §§ 47 Abs. 1 und 3, 52 Abs. 3 Satz 1 GKG.

Dieser Beschluss ist unanfechtbar (§§ 152 Abs. 1 VwGO, 68 Abs. 1 Satz 5, 66 Abs. 3 Satz 3 GKG).