Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 22.10.2019, Az.: 6 A 4556/17
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 22.10.2019
- Aktenzeichen
- 6 A 4556/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2019, 69535
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 60 Abs 5 AufenthG
Tenor:
Die Beklagte wird verpflichtet, in Bezug auf den Kläger festzustellen, dass hinsichtlich des Zielstaats Irak die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG vorliegen.
Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 4. Mai 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.
Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Tatbestand:
Der Kläger, ein irakischer Staatsangehöriger arabischer Volks- und schiitischer Glaubenszugehörigkeit, begehrt die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, hilfsweise u.a. die Feststellung von Abschiebungsverboten.
Er reiste eigenen Angaben zufolge im Januar 2016 aus dem Irak aus und im selben Monat auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Sodann reiste er zunächst nach Dänemark weiter, wurde von der dortigen Polizei aufgegriffen und zurück nach Deutschland überstellt. Hier stellte er in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge einen Asylantrag.
Zu seinen persönlichen Verhältnissen erklärte er im Rahmen seiner Anhörung beim Bundesamt, er stamme aus der Stadt Al Kufah (Kufa) in der Provinz Najaf. Sein Vater sei vor ca. zwei Jahren verstorben; seine Mutter sei unbekannten Aufenthalts. Er selbst sei taubstumm und habe nur kurz zur Schule gehen dürfen, seitdem habe er nur in absoluten Einzelfällen als Gelegenheitsarbeiter arbeiten können. Er spreche auch nicht die offizielle Zeichensprache für Taubstumme. Nach dem Tod seines Vaters sei die finanzielle Situation der Familie sehr schlecht gewesen; seine Mutter habe nicht gearbeitet. Sie hätten von dem wenigen Geld gelebt, das ihnen sein Vater hinterlassen habe. Eine seiner Schwestern lebe mittlerweile in Schweden.
Zu den Gründen seiner Ausreise erklärte er ausweislich der summarischen Feststellungen im Anhörungsprotokoll des Bundesamts, zwei Tage vor seiner Ausreise seien „Männer mit Bart“ zu ihnen nachhause gekommen. Seine Mutter habe vor Angst gezittert und habe ihm ein Zeichen gegeben, weshalb er weggelaufen sei und sich versteckt habe. Derartige „Bartleute“ hätten ihren Stützpunkt nicht direkt in der Stadt Kufa gehabt, sondern vor Bagdad. Sie hätten Menschen umgebracht oder ihnen die Hände abgeschlagen. Er sei durch die Straßen gelaufen. Nach einiger Zeit sei er zum Haus zurückgegangen; dieses habe leer gestanden. Die Männer hätten seine Mutter mitgenommen. Seine Nachbarn hätten ihm signalisiert, er müsse weggehen. Danach habe er überall nach seiner Mutter gefragt und Bekannte um Geld gebeten. Zudem habe er versucht, seine in Schweden lebende Schwester zu kontaktieren. Diese habe seine Ausreise aus dem Irak organisiert. Er habe unterwegs auch nach Arbeit gesucht, aber keine Hilfe erhalten und oft an Hunger gelitten; zudem habe er sich große Sorgen um seine Mutter gemacht. Im Falle einer Rückkehr in den Irak fürchte er, von den „Bartleuten“ umgebracht zu werden. Er könne auch nicht in einen anderen Teil des Landes gehen, da er auf sich alleine gestellt im Alltag nicht zurechtkomme. Ob seine Mutter überhaupt noch am Leben sei, wisse er nicht.
Mit Bescheid vom 4. Mai 2017, dem Kläger zugestellt am 15. Mai 2017, lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) sowie auf Anerkennung als Asylberechtigter ab (Nr. 2) und erkannte dem Kläger auch den subsidiären Schutzstatus nicht zu (Nr. 3). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nr. 4) und drohte die Abschiebung des Klägers in den Irak an (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 5).
Zur Begründung führte der mit dem Anhörenden nicht personenidentische Entscheider aus, es bestünden Zweifel an der Glaubhaftigkeit des klägerischen Vortrags, auch vor dem Hintergrund der zunächst geplanten, letztendlich aber gescheiterten Weiterreise nach Dänemark. Der Kläger habe sein Verfolgungsschicksal nicht detailliert, lebendig, spontan und umfassend geschildert und ebenfalls keine Gründe dafür genannt, weshalb die unbekannten Personen das Haus seiner Familie aufgesucht hätten.
Gegen diesen Bescheid hat der Kläger über seinen Prozessbevollmächtigten am 29. Mai 2017 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein bisheriges Vorbringen. Er habe niemals richtig eine Schule besuchen können, sei Analphabet und zudem der regulären arabischen Gebärdensprache nicht mächtig. Mit seiner mittlerweile in Schweden lebenden Schwester habe er eine Art eigene Gebärdensprache entwickelt, weshalb er sich mit ihr gut verständigen könne. Mit anderen Personen, die nur die offizielle Gebärdensprache sprächen, gebe es erhebliche Verständigungsschwierigkeiten. Dementsprechend habe er sich auch mit dem Dolmetscher beim Bundesamt nur mühsam verständigen können. Dies spiegele sich auch in der Anhörungsniederschrift nieder, der zufolge der Kläger beispielsweise von „Bartleuten“ spreche, da er das reguläre gebärdensprachliche Wort für die Anhänger des „Islamischen Staates“ (IS) nie gelernt habe. Der angefochtene Bescheid setze sich nicht in dem gebotenen Umfang mit seiner besonderen Situation auseinander. In einem derart schwierigen Fall der Verständigung wäre es geboten gewesen, sicherzustellen, dass Anhörender und Entscheider identisch seien. Es sei auch nicht angängig, ihm vorzuhalten, dass er keine Angaben zu den Motiven der Verfolger getroffen habe. Er sei gehörlos und habe deshalb schlichtweg nicht verstehen können, was die Männer von ihm bzw. seiner Mutter gewollt hätten. Mutmaßungen darüber habe er zu Recht nicht getroffen. In Dänemark sei er aufgegriffen worden, weil er versucht habe, nach Schweden weiterzureisen, da seine dort lebende Schwester seine einzige Bezugsperson sei, mit der er sich normal verständigen könne. Mittlerweile habe er erfahren, dass seine Mutter noch am Leben sei. Er habe keinen unmittelbaren Kontakt zu ihr, sondern erhalte lediglich alle drei Monate über seine in Schweden lebende Schwester Nachrichten von ihr.
Wie er zwischenzeitlich erfahren habe, seien an dem betreffenden Tag Anhänger des IS, der zur damaligen Zeit die Gebietshoheit über seine Heimatstadt beansprucht habe, nach Kufa gegangen, um junge Männer im kampfesfähigen Alter zu rekrutieren. Seine Mutter habe dies erkannt und ihm noch signalisieren können, er solle fliehen. Wie er erst jetzt erfahren habe, sei seine Mutter allerdings nicht vom IS verschleppt worden, sondern habe ebenfalls aus Kufa fliehen können, zunächst nach Bagdad, im Anschluss nach Falludscha. Dort wohne sie mit zwei seiner Schwestern in einem kleinen Zimmer. Sie hätten als Frauen erhebliche Schwierigkeiten, Zugang zum Arbeitsmarkt zu erhalten und ihren Lebensunterhalt zu sichern. Umso weniger könnten sie auch noch für seinen Lebensunterhalt aufkommen. Im Falle einer Rückkehr in den Irak, so der Kläger abschließend, sei er aufgrund seiner Behinderung besonders gefährdet. Er könne ohne familiären Rückhalt sein Existenzminimum nicht bestreiten, was sich auch in der Vergangenheit bereits gezeigt habe, da ihn Personen außerhalb seiner Kernfamilie immer wieder diskriminiert hätten.
Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 9. Oktober 2019 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen; dieser hat dem Kläger mit Beschluss vom selben Tag Prozesskostenhilfe bewilligt.
Der Kläger hat sich mit Schriftsatz vom 18. Oktober 2019 mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Auch im Falle einer teilweisen Klageabweisung, so der Prozessbevollmächtige des Klägers, sei dabei zu berücksichtigen, dass die Beklagte dem Kläger durch die Ausgestaltung des Anhörungs- und Entscheidungsverfahrens beim Bundesamt Anlass zur fristwahrenden, umfassenden Klage gegen den Bescheid vom 4. Mai 2017 gegeben habe.
Die Beklagte hat bereits mit Generalerklärung des Bundesamts vom 25. Februar und 24. März 2016 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 4. Mai 2017 zu verpflichten,
1. dem Kläger die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,
2. hilfsweise, ihm den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,
3. hilfsweise, festzustellen, dass in seiner Person Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter sowie im Einverständnis der Beteiligten (§ 101 Abs. 2 VwGO) ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat mit dem zweiten Hilfsantrag Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet.
Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung eines Abschie-bungsverbots gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG. Der Bescheid des Bundesamtes vom 4. Mai 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt den Kläger in seinen Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).
1.
Der Kläger hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG.
Bei der Beendigung des Aufenthalts erfolgloser Asylbewerber durch Erlass einer Ab-schiebungsandrohung (§ 59 AufenthG) ist das Bundesamt im Rahmen des § 60 Abs. 2 bis 7 AufenthG auf die Prüfung und Feststellung von (sonstigen) zielstaatsbezogenen Abschiebungsverboten beschränkt, d.h. solchen, die sich der Sache nach aus der Unzumutbarkeit des Aufenthalts im Zielland für diesen Ausländer herleiten und damit in Gefahren begründet liegen, die gerade im Zielstaat der Abschiebung drohen (BVerwG, Beschluss vom 04.07.2019 – 1 C 45/18, juris Rn. 21; Beschluss vom 10.10.2012 – 10 B 39/12, juris Rn. 4 m.w.N.).
Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer dabei nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies ist zu bejahen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat begründen dabei im Allgemeinen kein Abschiebungsverbot. Anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen. Dies kann der Fall sein, wenn der Betroffene bei einer Rückkehr aufgrund der humanitären Bedingungen nicht in der Lage wäre, ein Leben zumindest am Rande des Existenzminimums zu führen (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12, juris Rn. 23 ff. unter Hinweis auf EGMR, Urteile vom 27.05.2008 - 26565/05 (N. / Vereinigtes Königreich), vom 28.02.2008 - 37201/06 (Saadi / Italien) sowie vom 07.07.1989 – 14038/88 (Soering / Vereinigtes Königreich); VG Köln, Urteil vom 09.07.2019 – 17 K 2965/18.A, juris Rn. 101 f.). So liegt es im Falle des Klägers (siehe zur Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG an einen taubstummen Iraker bereits: VG Hannover, Beschluss vom 26. September 2019 – 6 A 5371/17, juris Rn. 24 ff.).
Im Irak waren und sind Menschen mit Behinderungen überproportional von bewaffneten Konflikten, Gewalt und anderen Notsituationen betroffen. Es gibt keine offiziellen staatlichen Statistiken; die am häufigsten zitierten Zahlen sind die der Weltgesundheitsorganisation (WHO), die im Jahr 2011 die Zahl der Menschen mit Behinderungen im Irak auf ca. 4 Millionen schätzte. Sowohl die irakische Regierung als auch die kurdische Regionalregierung haben Gesetze zur Versorgung von Personen mit Behinderungen verabschiedet. Diese enthalten unter anderem Integrationsmaßnahmen und Antidiskriminierungsbestimmungen. Es mangelt jedoch an der Umsetzung dieser Regelungen. Menschen mit Behinderungen erleben Diskriminierungen aufgrund von sozialem Stigma, sind häufig gesellschaftlich isoliert und werden innerhalb der Familie betreut. Es gibt in der irakischen Gesellschaft wenig Bewusstsein für Behinderungen. Familien von Personen mit Behinderungen werden vom Staat nur sehr begrenzt unterstützt (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, Gesamtaktualisierung am 20. November 2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 9. April 2019, S. 92 f. m.w.N.).
Das US Department of State (USDOS) machte in einem Bericht aus Juni 2015 ebenfalls darauf aufmerksam, dass Menschen mit Behinderungen im Irak sich weiterhin einem sozialen Stigma und fortlaufenden Diskriminierungen ausgesetzt sähen. Es gebe im Irak keine effektiven Gesetze zum Schutz von behinderten Personen gegen Diskriminierung beim Zugang zu Arbeit, Bildung, Transport oder zur Gesundheitsversorgung. Auch das Internal Displacement Monitoring Center (IDMC) beschrieb 2010, dass behinderte Menschen im Irak marginalisiert, d.h. sozial und wirtschaftlich ausgegrenzt würden. Sie erhielten kaum Zugang zur Gesellschaft und hätten eingeschränkte Entwicklungsmöglichkeiten. Aufgrund mangelnder Aufklärung sei die Interaktion zwischen der Gesellschaft und Behinderten limitiert; traditionellerweise dächten viele, dass behinderte Menschen etwas Schlechtes getan hätten (Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH), Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 22. Oktober 2015 zu KRG-Region: Diskriminierung von Menschen mit Behinderung, S. 1 f. m.w.N.).
Al-Sumaria News, ein unabhängiger irakischer Fernsehsender, berichtete im April 2017 überdies, dass in den vergangenen Jahren laut Nachforschungen einer Menschenrechtsorganisation Dutzende Taube und Stumme aufgrund ihrer extremen Armut in der Provinz Diyala nicht in der Lage gewesen seien, eine spezialisierte Institution in der Provinzhauptstadt Baquba zu besuchen, so dass sie auch nicht die Gebärdensprache hätten erlernen können. Einem Eintrag auf der Website des Generalsekretariats des irakischen Ministerrates aus Juni 2017 zufolge thematisierten zudem Verantwortliche der Gesellschaft für Taube und Stumme während eines Treffens mit dem Vorstand des Büros für nichtstaatliche Organisationen die Probleme und Hürden, mit denen taube und stumme Personen im Alltag zu kämpfen hätten (Accord, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von Gehörlosen [a-10385], 8. November 2017).
Die Nachrichtenwebsite Shafaqna berichtete darüber hinaus im Januar 2016, der Vertreter des höchsten schiitischen Religionsführers al-Sistani, Scheich Abdelmahdi, habe darauf hingewiesen, dass Taube im Irak vernachlässigt und somit Gefahr laufen würden, von terroristischen Organisationen ausgenutzt zu werden. Diese Organisationen würden mühelos hunderte Menschen mit Behinderung rekrutieren, um Selbstmordanschläge auf Sicherheitskräfte und Zivilisten zu verüben. Daher müsse man sich dieser Menschen annehmen (Accord, Anfragebeantwortung zum Irak: Lage von Gehörlosen [a-10385], 8. November 2017). Mit diesen Informationen korrespondierend hatte die Zeitschrift The Independent bereits im Februar 2015 darüber berichtet, dass der IS Kinder mit Behinderungen oftmals als Selbstmordattentäter einsetze (The Independent, Artikel vom 5. Februar 2015, „Isis militants are 'using mentally challenged children as suicide bombers and crucifying others', says UN body“).
Bei Berücksichtigung dieser Erkenntnismittel sowie unter Würdigung der glaubhaften Angaben des Klägers zu seiner vorherigen Situation im Irak erscheint es nach Auffassung des Einzelrichters ausgeschlossen, dass der Kläger im Falle einer Rückkehr in den Irak in der Lage wäre, als taubstummer Mensch, sei es in Kufa oder Falludscha, sein Leben am Rande des Existenzminimums und damit im Einklang mit den Vorgaben des § 60 Abs. 5 AufenthG bestreiten zu können. In Kufa wäre der Kläger mangels familiären Rückhalts als taubstummer Mensch auf sich allein gestellt und würde zeitnah verelenden. Des Weiteren ist fraglich, ob der Kläger überhaupt die Möglichkeit hätte, nach Falludscha zu seiner Restfamilie zu gelangen. So weist der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen in einer Auskunft aus April 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwärtigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gegeben seien (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16, S. 2). Selbst Personen mit erkennbaren gesundheitlichen Einschränkungen können an Kontrollpunkten von Sicherheitskräften zurückgewiesen werden (vgl. VG Hannover, Urteil vom 26. Oktober 2017 – 6 A 9126/17, n.v., S. 7). Selbst wenn man im Übrigen zuungunsten des Klägers unterstellt, dass er trotz seiner körperlichen Einschränkungen und geringen finanziellen Möglichkeiten nach Falludscha gelangen könnte, hat er bereits in der Anhörung beim Bundesamt glaubhaft dargelegt, dass die Situation seiner Familie bereits vor seiner Ausreise sehr schlecht gewesen sei. Im gerichtlichen Verfahren hat er diesen Vortrag glaubhaft dahingehend präzisiert, seine Mutter und seine beiden Schwestern seien infolge ihrer Flucht nach Falludscha in einer nochmals schlechteren finanziellen Lage. Dies deckt sich mit den Erkenntnissen des Gerichts zur wirtschaftlichen Lage alleinstehender Frauen bzw. weiblich geführter Haushalte im Irak (VG Hannover, Urteil vom 26.02.2018 – 6 A 5751/16, juris Rn. 38 ff.; Urteil vom 26.02.2018 – 6 A 6292/16, juris Rn. 34 ff.; Urteil vom 19.12.2018 – 6 A 4443/18 –, juris Rn. 31 ff., Urteil vom 07. Oktober 2019 – 6 A 5999/17 –, juris Rn. 25 ff.; jeweils m.w.N.).
2.
Demgegenüber hat der Kläger keinen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder des subsidiären Schutzstatus.
Auch wenn man den Sachvortrag des Klägers als zutreffend unterstellt, erachtet das Gericht es nach dem gegenwärtigen Sachstand als nicht beachtlich wahrscheinlich, dass Anhänger des IS weiterhin versuchen könnten, den Kläger in seinem Heimatort in der Provinz Najaf zwangsweise zu rekrutieren. Hierbei berücksichtigt das Gericht den Umstand, dass Terrorismus und Terrorismusbekämpfung im Süden des Irak einerseits nach wie vor eine Rolle spielt, insbesondere in Babil, andererseits aber im Allgemeinen in geringerem Maße als weiter im Norden (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, Gesamtaktualisierung am 20.11.2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 9.4.2019, S. 35 m.w.N.). Die Heimatstadt des Klägers, Kufa, befindet sich zudem mittlerweile unter der Kontrolle der irakischen Armee, wobei Einwohner von relativ geringen Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit und einer zumindest zufriedenstellenden Sicherheitssituation berichten (IOM, Labour Market Opportunities and Challenges, Kufa District, Najaf Governate, April 2019, S. 5, 7). Ebenso wenig bestehen nach dieser Erkenntnismittellage hinreichende Anhaltspunkte für gefahrerhöhende Umstände, welche sich zu Lasten des Klägers im Rahmen eines bewaffneten Konflikts auswirken könnten. Bezüglich des subsidiären Schutzstatus verweist das Gericht dabei ergänzend auf die zutreffenden Feststellungen auf Seite 6 f. des angefochtenen Bescheides und macht sich diese zu eigen (§ 77 Abs. 2 Var. 1 AsylG).
3.
Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Der Kläger hat einen Anspruch auf Zuerkennung von Abschiebungsverboten nach § 60 Abs. 5 AufenthG, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht.
Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 155 Abs. 1 S. 1 Var. 2 VwGO, soweit der Kläger mit der Klage auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbots Erfolg hatte; im Übrigen ergibt sie sich aus § 155 Abs. 4 VwGO. Hiernach können Kosten, die durch Verschulden eines Beteiligten entstanden sind, diesem auferlegt werden. Dies kommt insbesondere in Betracht, sofern die Behörde entgegen ihrer Amtsermittlungspflicht nach § 24 VwVfG den Sachverhalt nicht aufgeklärt und dadurch eine sonst entbehrliche Ermittlung durch das Gericht veranlasst hat (Neumann/Schaks, in: Sodan/Ziewow, Verwaltungsgerichtsordnung, 5. Auflage 2018, § 155 VwGO, Rn. 95 m.w.N.). So liegt es ausnahmsweise hier aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls, d.h. in Anbetracht der Tatsache, dass das Bundesamt ungeachtet der für alle Beteiligten ersichtlichen massiven Verständigungsschwierigkeiten bei der Anhörung des taubstummen, nicht der regulären Gebärdensprache mächtigen Klägers von einer ergänzenden Anhörung absah und auch nicht den anhörenden Entscheider mit der Entscheidung über das Asylgesuch des Klägers betraute. Zugunsten des Prozessbevollmächtigten des Klägers ist bei der Kostenentscheidung zu berücksichtigen, dass er bereits aus anwaltlicher Vorsorge gehalten war, innerhalb der zweiwöchigen Klagefrist des § 74 Abs. 1 S. 1 AsylG zunächst umfassend Klage gegen den angefochtenen Bescheid zu erheben. Zum einen konnte ihm aus dem Anhörungsprotokoll des Bundesamts und dem angefochtenen Bescheid nicht mit verlässlicher Wahrscheinlichkeit ersichtlich sein, was der konkrete Verfolgungsvortrag des Klägers war; zum anderen war eine effektive Kommunikation mit dem Kläger ohne Hinzuziehung eines der Gebärdensprache mächtigen Dolmetschers für die arabische Sprache innerhalb der Klagefrist effektiv nicht möglich.
Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.