Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 26.10.2019, Az.: 6 A 1342/17

Abschiebungsverbot; alleinstehende Frau; Depression; Existenzminimum; Folgeantrag; Gesundheitssystem; Irak; posttraumatische Belastungsstörung; Wiederaufgreifen des Verfahrens

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
26.10.2019
Aktenzeichen
6 A 1342/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69836
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz


Zur statthaften Klageart und zum (gerichtlichen) Prüfungsmaßstab bei einer ablehnenden Entscheidung des Bundesamts nach § 31 Abs. 3 S. 1 i.V.m. § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG
Zur Behandlungsmöglichkeit psychischer Erkrankungen im Irak
Zur wirtschaftlichen und sozialen Lage alleinstehender Frauen im Irak, insbesondere in Bagdad

Tenor:

Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Klägerin die Klage zurückgenommen hat.

Im Übrigen wird die Beklagte verpflichtet, in Bezug auf die Klägerin festzustellen, dass hinsichtlich des Zielstaats Irak die Voraussetzungen eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen.

Der Bescheid des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge vom 27. Januar 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Die Klägerin trägt 2/3, die Beklagte trägt 1/3 der Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der jeweilige Vollstreckungsschuldner darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrags abwenden, wenn nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.

Tatbestand:

Die im Jahr 1990 geborene Klägerin, eine irakische Staatsangehörige arabischer Volks- und schiitischer Religionszugehörigkeit, begehrt die Feststellung von Abschiebungsverboten.

Nachdem sie im Jahr 2012 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland einreiste, stellte sie einen Asylantrag, den das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) mit Bescheid vom 22. Mai 2014 bestandskräftig ablehnte. Im Juli 2014 stellte sie in einer Außenstelle des Bundesamts einen Folgeantrag.

Im Rahmen ihrer Anhörung beim Bundesamt im Juli 2016 gab sie an, sie stamme ursprünglich aus Bagdad. Ihr Vater, der weiterhin dort lebe, sei Angehöriger des Militärs unter Saddam Hussein gewesen. Im Jahr 1992 oder 1993 hätten Anhänger Saddam Husseins das Haus ihrer Familie gestürmt, sie vertrieben und das Haus selbst in Besitz genommen. Den Grund dafür wisse sie nicht. Sie seien dann in einen anderen Stadtteil Bagdads gezogen, wo sie die folgenden Jahre gelebt hätten. Im Jahr 2002 seien dann sie, ihre Mutter und ihre Geschwister wegen des gegen den Irak bestehenden Embargos nach Syrien gegangen. Zu ihrem persönlichen Werdegang erklärte die Klägerin, sie habe die Mittelschule in Damaskus bis zur neunten Klasse besucht. Seit 2012 habe sie in Damaskus als Krankenschwester gearbeitet. Zu den Gründen ihrer Ausreise aus Syrien gab die Klägerin an, sie sei zweimal beinahe durch eine Bombenexplosion ums Leben gekommen. Das erste Mal sei sie, als sie gerade in einem Mini-Bus gefahren sei, durch Glassplitter im Gesicht verletzt worden, als in einem ca. 5m entfernten Laden eine Bombe explodiert sei. Dieser Vorfall habe sich im Jahr 2012 zugetragen, ca. zwei oder drei Monate vor ihrer Ausreise nach Deutschland. Das zweite Mal, geschehen ca. eine Woche nach dem ersten Vorfall, sei auf einer Straße in Damaskus ca. 5m von ihr entfernt eine Bombe explodiert, die in einem Mülleimer versteckt gewesen sei. Außerdem sei sie beinahe Opfer einer Entführung geworden, als sie ihre Mutter nach einer Operation mit Medikamenten aus einer Apotheke versorgt habe. Sie habe gesehen, wie Jugendliche und ein Auto sie verfolgten, woraufhin sie schnell Zuflucht in einem Laden gesucht habe. Außerdem sei ihr Stadtteil in Damaskus im Juli 2012 über drei Tage hinweg bombardiert worden. Während dieser Zeit hätte ihre Familie weder Wasser noch Lebensmittel zur Verfügung gehabt. Sie hätten ebenso wie die übrigen Bewohner ihren Stadtteil verlassen und seien sodann nach Aleppo gefahren, von dort aus weiter in die Türkei. Bei ihrer Erstbefragung beim Bundesamt habe sie teilweise unzutreffende Angaben gemacht. Einige befreundete Syrer hätten ihr erzählt, sie würde in den Irak abgeschoben, wenn sie ihre wahren Ausreisegründe vortrage. Davor habe sie große Angst gehabt, da sie seit den Vorfällen in Syrien psychische Probleme habe. Auf Anraten ihrer Freunde habe sie dann u.a. wahrheitswidrig vorgegeben, Christin zu sein. Sie bereue dies sehr. Seit vier Jahren lebe sie in Deutschland und müsse immer wieder die Unterkünfte wechseln. Sie könne nicht zur Schule gehen und sich keine Wohnung nehmen. Psychisch ginge es ihr sehr schlecht. Ihre übrigen Familienangehörigen hätten mittlerweile Aufenthaltstitel und würden dauerhaft in Deutschland leben. Im Irak habe sie keine Perspektive, dort müsste sie auf der Straße leben.

Mit Bescheid vom 27. Januar 2017 lehnte das Bundesamt den Asylantrag als unzulässig ab (Nr. 1). Den Antrag auf Abänderung des Bescheids vom 22. Mai 2014 bezüglich der Feststellung zu § 60 Abs. 5, Abs. 7 AufenthG lehnte es ebenfalls ab (Nr. 2) und drohte die Abschiebung der Klägerin in den Irak an (Nr. 3). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 4).

Zur Begründung führte es aus, es fehle an einem Grund für das Wiederaufgreifen des Verfahrens nach § 51 VwVfG. Insbesondere liege keine geänderte Sachlage nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG vor, wenn ein Asylbewerber zunächst die Unwahrheit sage. Es bestünden auch keine Anhaltspunkte für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens, und sei es im weiteren Sinne bzw. im Ermessenswege, soweit die Feststellung von Abschiebungsverboten betroffen sei.

Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am 10. Februar 2017 Klage erhoben. Zur Begründung führt sie aus, es sei wenigstens ein Abschiebungsverbot aufgrund ihrer psychischen Erkrankung festzustellen. Sie habe überdies keinerlei familiären Rückhalt in ihrem Heimatland, da sie zu ihrem Vater seit ca. 11 Jahren keinerlei Kontakt mehr habe.

In diesem Zusammenhang überreichte die Klägerin zunächst das Attest eines Facharztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom 24. November 2017. Dieser diagnostizierte aufgrund mehrerer dolmetschergestützter Gespräche eine Depression und eine posttraumatische Belastungsstörung, welche dringend behandlungsbedürftig seien. Zugleich leide die Klägerin an negativen Selbstwertgefühlen, d.h. an Gefühlen von Schuld und Wertlosigkeit. Mit der Erkrankung einhergehend bestünden Funktionseinschränkungen in Bezug auf die Durchhaltefähigkeit, Flexibilität und Umstellungsfähigkeit sowie die Fähigkeit zur Selbstversorgung. Eine parallel verordnete medikamentöse Behandlung sei aller Voraussicht nach nicht ausreichend, um die Folgen der bestehenden Behinderung ausreichend zu lindern; zugleich müsse eine kultursensible psychotherapeutische Behandlung erfolgen.

Des Weiteren übersandte die Klägerin eine psychotherapeutische Stellungnahme des Netzwerks für traumatisierte Flüchtlinge vom 2. November 2018, wo sie sich seit April 2018 in kontinuierlicher Behandlung befand, u.a. in sieben dolmetschergestützten Beratungsgesprächen sowie im Rahmen eines Diagnostiktermins, jeweils mit einer Allgemeinmedizinerin, einer Psychologin und einer Psychotherapeutin. Die behandelnde psychologische Psychotherapeutin diagnostizierte eine depressive Episode (F32.1G), die aktuell u.a. durch die Tagesstruktur, das familiäre Umfeld und die antidepressive Medikation stabilisiert werde. Ein Verlust dieser Unterstützung und Heilbehandlung würde mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu einer Verschlechterung der depressiven Symptomatik führen, insbesondere einer Zunahme von Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit.

Mit Schreiben vom 7. Oktober 2019 wandte sich die Klägerin direkt an das Bundesamt, schilderte eingehend ihren psychischen Gesundheitszustand und bat um Überprüfung der Entscheidung. In diesem Zusammenhang überreichte sie zunächst eine Stellungnahme eines weiteren Arztes für Psychiatrie und Psychotherapie vom 22. März 2019, der zufolge sie sich seit Januar 2019 bei ihm wegen einer posttraumatischen Belastungsstörung und einer schweren rezidivierenden Depression in ambulanter Behandlung befinde. Diese umfasse zum einen eine antidepressive medikamentöse Behandlung, zum anderen stützende psychologische Gespräche. Eine weitere Therapie sei dringend erforderlich. Überdies übersandte die Klägerin eine fachärztliche Stellungnahme einer Klinik für Allgemeinpsychiatrie und Psychotherapie vom 7. März 2019, der zufolge sich die Klägerin in Februar/März 2019 wegen zeitweise latenter bis akuter Suizidalität in mehrwöchiger stationärer Behandlung befand. Die Klägerin ertrage den unsicheren Status nicht mehr, zumal alle ihre übrigen Familienmitglieder einen Aufenthaltstitel besäßen. Wegen der hiermit einhergehenden Probleme und zunehmenden Streitigkeiten mit ihrer Mutter und Schwester habe sie mehrere Male im Frauenhaus oder auf der Straße schlafen müssen. Sie fühle sich zunehmend eingeengt, ängstlich und depressiv. Nachdem das Sozialamt die Bewilligung eines Umzugs abgelehnt habe, habe sie einen Suizidversuch mit Tabletten unternommen. Die drei Unterzeichner, d.h. ein Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie als zuständiger Oberarzt, eine Psychologin und eine Assistenzärztin, teilten abschließend mit, die Klägerin sei bis auf weiteres transport- und reiseunfähig. Sie benötige eine kontinuierliche, stützend-stabilisierende psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung. Im Falle einer Rückführung in ihr Heimatland bestünden aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht keine Mittel zur Verhinderung einer akuten Suizidalität. Schließlich überreichte die Klägerin eine Bescheinigung eines Universitätsklinikums vom 19. Februar 2019, wo sie sich wegen einer schweren depressiven Episode sowie einer Quetiapin-Intoxikation in suizidaler Absicht in zweitägiger stationärer Behandlung befand. Sie habe sich nicht eindeutig von suizidalen Gedanken distanzieren können und sei deshalb in das vorgenannte psychiatrische Krankenhaus verlegt worden.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 11. Oktober 2019 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen.

Mit Schriftsatz vom 24. Oktober 2019 hat sich die Klägerin mit einer Entscheidung ohne mündliche Verhandlung einverstanden erklärt. Sie hat ebenso erklärt, die Klage zurückzunehmen, soweit sie ursprünglich auch das Wiederaufgreifen des Verfahrens sowie, hieran anknüpfend, die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft und des subsidiären Schutzstatus begehrt habe.

Die Beklagte hat bereits mit Generalerklärung des Bundesamts vom 25. Februar und 24. März 2016 auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Die Klägerin beantragt,

festzustellen, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen und den Bescheid vom 27. Januar 2017 in den Punkten 2 bis 4 aufzuheben.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Die Klägerin habe bereits bei ihrer Anhörung im Juli 2016 angegeben, dass sie an psychischen Problemen leide, ohne dass es offenbar zu einer wesentlichen oder lebensbedrohlichen Gesundheitsverschlechterung gekommen sei. Zudem seien im Falle einer Rückkehr keine konkreten Gefahren für Leib und Leben der Klägerin ersichtlich.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Das Verfahren ist nach § 92 Abs. 3 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nach der teilweisen Klagerücknahme mit der Kostenfolge des § 155 Abs. 2 VwGO einzustellen.

Die im Übrigen aufrechterhaltene Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter sowie im Einverständnis der Beteiligten gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheidet, hat Erfolg.

1. Die Klage ist zulässig, insbesondere als Verpflichtungsklage (§ 42 Abs. 1 Var. 2 VwGO) statthaft.

Während die Ablehnung des Folgeantrags nach § 71 AsylG, welcher lediglich den Asylantrag umfasst (Anerkennung als Asylberechtigter nach Art. 16a GG und Zuerkennung internationalen Schutzes nach §§ 3 ff AsylG, vgl. § 13 Abs. 2 S. 1 AsylG), seit dem Inkrafttreten des Artikel 6 des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I, S. 1939) als reine Unzulässigkeitsentscheidung im Sinne des § 29 Abs. 1 Nr. 5 AsylG mit der Anfechtungsklage anzugreifen ist, ist hinsichtlich der zeitgleich ergehenden Entscheidung des Bundesamts nach § 31 Abs. 3 S. 1 AsylG, nationale Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG abzulehnen, in der Hauptsache weiterhin eine (ggf. hilfsweise zur Anfechtungsklage zu erhebende) Verpflichtungsklage statthaft (BVerwG, Urteil vom 14.12.2016 – 1 C 4.16, juris Rn. 20 a.E.; VG München, Beschluss vom 08.05.2017 – M 2 E 17.37375 –, juris Rn. 17; siehe beispielsweise: VG Saarland, Urteil vom 12.03.2019 – 6 K 766/18, juris Rn. 8-10). Stellt das Bundesamt also fest, dass keine nationalen Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und 7 AufenthG vorliegen, dann kann der betroffene Ausländer zusätzlich zu der gegen die Ablehnung des Folgeantrags als unzulässig gerichteten Anfechtungsklage (hilfsweise) eine Verpflichtungsklage auf Feststellung nationaler Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5 und Abs. 7 S. 1 AufenthG erheben (VG München, Beschluss vom 08.05.2017 – M 2 E 17.37375 –, juris Rn. 17; VG Münster, Beschluss vom 24.11.2017 – 3 L 1944/17.A, juris Rn. 23-25).

2. Die Verpflichtungsklage ist auch begründet.

Die Klägerin hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung von Abschiebungsverboten gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG. Der Bescheid des Bundesamtes vom 27. Januar 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt die Klägerin in ihren Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Lehnt das Bundesamt auf einen Folgeantrag hin die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens mit der Begründung ab, die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG lägen insofern nicht vor, ist es gleichwohl nach § 31 Abs. 3 S. 1 AsylG für die Prüfung von nationalen Abschiebeverboten zuständig. In diesem Zusammenhang kann offenbleiben, ob diese Verpflichtung seit dem Inkrafttreten des Artikel 6 des Integrationsgesetzes vom 31. Juli 2016 (BGBl. I, S. 1939) unabhängig von den Voraussetzungen des § 51 VwVfG besteht (so: OVG Saarlouis, Urteil vom 10.01.2017 – 2 A 330/16, BeckRS 2017, 100523, LS 2, Rn. 30; VG München, Beschluss vom 08.05.2017 – M 2 E 17.37375, juris Rn. 17; VG Oldenburg, Beschluss vom 16.03.2017 – 3 B 1322/17, BeckRS 110705, Rn. 11; Heusch, in: BeckOK Ausländerrecht, hrsg. v. Kluth/Heusch, Stand: August 2019, § 31 AsylG, Rn. 14, 21; kritisch: Dickten, in: a.a.O., § 71 AsylG, Rn. 28 m.w.N.) oder ob im Zuge einer einschränkenden, die Bestandskraft der vorangegangenen Entscheidung schützenden Auslegung des § 31 Abs. 3 S. 1 AsylG nur dann, wenn auch insofern die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens vorliegen (VG Gießen, Urteil vom 15.05.2019 – 2 K 3083/17.GI.A, juris LS 2, Rn. 30; VG Sigmaringen, Urteil vom 10.03.2017 – A 3 K 3493/15, juris Rn. 40; offengelassen durch: OVG NRW, Urteil vom 18.06.2019 – 13 A 3930/18.A, BeckRS 2019, 15605, Rn. 22 m.w.N.), d.h. im engeren Sinne nach § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG oder im weiteren Sinne nach § 51 Abs. 5 i.V.m. § 48 f. VwVfG. Diese Frage kann im vorliegenden Fall dahinstehen, weil auch die letztgenannten, strenger gefassten Voraussetzungen für eine positive Sachentscheidung nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG gegeben sind, die Klägerin also bezüglich der Feststellung von Abschiebungsverboten einen (hypothetischen) Anspruch auf Wiederaufgreifen des Verfahrens hat.

Nach § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG hat die Behörde auf Antrag des Betroffenen über die Aufhebung oder Änderung eines unanfechtbaren Verwaltungsakts zu entscheiden, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrundeliegende Sach- oder Rechtslage nachträglich, d.h. nach Erlass des Verwaltungsakts zugunsten des Betroffenen geändert hat (Wiederaufgreifen im engeren Sinne). Die Änderung der Sach- oder Rechtslage ist zugunsten des Betroffenen erfolgt, wenn sie die für den fraglichen Verwaltungsakt entscheidungserheblichen Voraussetzungen betrifft, wobei die Änderung eine dem Betroffenen günstigere Entscheidung erfordert oder doch ermöglicht (Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Auflage 2018, § 51 VwVfG, Rn. 92, 94; bzgl. § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG: BayVGH, Beschluss vom 21.04.2015 – 10 CE 15.810 u. 10 C.813, ZAR 2015, S. 279, LS 1). Der Antrag muss binnen drei Monaten gestellt werden, nachdem der Betroffene von dem Grund für das Wiederaufgreifen Kenntnis erhalten hat (§ 51 Abs. 3 VwVfG) und ist nur zulässig, wenn er ohne grobes Verschulden außerstande war, den Grund für das Wiederaufgreifen in dem früheren Verfahren geltend zu machen, insbesondere durch Rechtsbehelf (§ 51 Abs. 2 VwVfG).

Auch wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 Verwaltungsverfahrensgesetz (VwVfG) nicht vorliegen, hat das Bundesamt im Übrigen gemäß § 51 Abs. 5 VwVfG in Verbindung mit §§ 48, 49 VwVfG zumindest nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden, ob es die bestandskräftige frühere Entscheidung zum Nichtbestehen von Abschiebungsverboten nach 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG zurücknimmt oder widerruft. Insofern besteht ein Anspruch eines Ausländers auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über seinen Abänderungsantrag. Unter besonderen Umständen kann sich dieser Anspruch von Verfassung wegen verdichten zu einem Rechtsanspruch auf Feststellung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5 oder Abs. 7 S. 1 AufenthG, welcher eine abschließende gerichtliche Entscheidung zu Gunsten des Ausländers ermöglicht: Bei einer Entscheidung über das Wiederaufgreifen des Verfahrens zur Feststellung der tatbestandlichen Voraussetzungen eines Abschiebungshindernisses nach § 51 Abs. 5, in Verbindung mit §§ 48, 49 VwVfG ist das Ermessen des Bundesamtes zu Gunsten des Ausländers nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts regelmäßig auf null reduziert, wenn ein Festhalten an der bestandskräftigen negativen Entscheidung zum Abschiebungsverbot zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde (so zur bisherigen Rechtslage: BVerwG, Urteil vom 20.10.2004 – 1 C 15.03 -, juris, LS 1, Rn. 13 ff.; zum diesbezüglich unterschiedlichen Prüfungsmaßstab bei § 60 Abs. 7 S. 1 und § 60 Abs. 5 AufenthG: OVG Saarlouis, Beschluss vom 22.01.2019 – 2 A 318/18, juris Rn. 10 f.; VG Saarland, Urteil vom 26.09.2018 – 6 K 810/17, juris Rn. 19; vgl. auch: BVerwG, Beschluss vom 08.08.2018 – 1 B 25/18, juris LS 2, Rn. 13).

Diese jeweiligen rechtlichen Maßstäbe zugrunde gelegt, liegen die Voraussetzungen für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens im engeren Sinne im streitgegenständlichen Fall vor, soweit die Klägerin die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG begehrt. Die Sachlage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG hat sich seit dem bestandskräftigen Abschluss des ersten Asylverfahrens wesentlich verändert, weil sich der gesundheitliche Zustand der Klägerin, wie in den zahlreichen und aussagekräftigen psychiatrischen und psychologischen Attesten dokumentiert, seit diesem Zeitpunkt massiv verschlechtert hat. Die Klägerin hat mit ihrem im Juli 2016 gestellten Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens sowohl die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG gewahrt als auch der Obliegenheit nach § 51 Abs. 2 VwVfG Genüge getan, weil sie zwar bereits zum Zeitpunkt des bestandskräftigen Abschlusses des Erstantrages im Juni 2014 psychisch beeinträchtigt war, sich dieser Krankheitszustand jedoch erst in den Jahren ab 2017, insbesondere im Jahr 2019, derart massiv verschlechterte, dass nunmehr eine neue Sachlage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG vorliegt.

Daneben ist die Beklagte auch zum Wiederaufgreifen des Verfahrens im weiteren Sinne verpflichtet (§ 51 Abs. 5 in Verbindung mit 48 f. VwVfG), soweit die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 5 AufenthG in Rede steht. Ihr diesbezügliches Ermessen ist auf null reduziert, weil das Festhalten an der ursprünglichen, negativen Entscheidung zum Vorliegen von Abschiebungsverboten aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls zu einem schlechthin unerträglichen Ergebnis führen würde. Hierbei berücksichtigt das Gericht sowohl die Lage alleinstehender, nicht durch einen Familienverband geschützter Frauen im Irak als auch die weitgehende Entwurzelung der Klägerin von ihrem Heimatland, in dem diese zuletzt im Jahr 2002 lebte, ferner ihre massive gesundheitliche Beeinträchtigung, welche sie im Falle einer Rückkehr in ihr Heimatland nochmals im gesteigerten Maße den dort bestehenden Gefahrensituationen im Sinne des Art. 3 EMRK aussetzen würde.

1. Die Klägerin hat nach dieser Maßgabe zunächst einen Anspruch auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbots gemäß § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG. Hiernach soll von der Abschiebung eines Ausländers in einen anderen Staat abgesehen werden, wenn dort für diesen Ausländer eine erhebliche konkrete Gefahr für Leib, Leben oder Freiheit besteht (§ 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG). Eine erhebliche konkrete Gefahr aus gesundheitlichen Gründen besteht dabei nur bei lebensbedrohlichen oder schwerwiegenden Erkrankungen, die sich durch die Abschiebung wesentlich verschlechtern würden (§ 60 Abs. 7 S. 3 AufenthG). Ein diesbezügliches Attest muss die Anforderungen des § 60a Abs. 2c S. 2, S. 3 AufenthG in entsprechender Anwendung wahren (§ 60 Abs. 7 S. 2 AufenthG). Dies setzt die Glaubhaftmachung der Erkrankung durch eine qualifizierte ärztliche Bescheinigung voraus, welche insbesondere die tatsächlichen Umstände enthalten soll, auf deren Grundlage eine fachliche Beurteilung erfolgt ist, ferner die Methode der Tatsachenerhebung, die fachlich-medizinische Beurteilung des Krankheitsbildes (Diagnose), den Schweregrad der Erkrankung, den lateinischen Namen oder die Klassifizierung der Erkrankung nach ICD 10 sowie die Folgen, die sich nach ärztlicher Beurteilung aus der krankheitsbedingten Situation voraussichtlich ergeben. Es ist dabei nicht erforderlich, dass die medizinische Versorgung im Zielstaat mit der Versorgung in der Bundesrepublik Deutschland gleichwertig ist (§ 60 Abs. 7 S. 4 AufenthG). Eine ausreichende medizinische Versorgung liegt in der Regel auch vor, wenn diese nur in einem Teil des Zielstaats gewährleistet ist (§ 60 Abs. 7 S. 5 AufenthG).

Erforderlich für das Vorliegen einer Gefahr im Sinne des § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG ist dabei zunächst, dass sich die vorhandene Erkrankung des Ausländers in einer Weise verschlechtert, die zu einer erheblichen (konkreten) Gefahr für Leib oder Leben führt, d.h. dass eine wesentliche Verschlimmerung der Erkrankung (alsbald) nach der Rückkehr droht (vgl. BVerwG, Urteil vom 22.03.2012 – 1 C 3/11, juris Rn. 34; Beschluss vom 17.08.2011 – 10 B 13/11 u. a., juris Rn. 2). Eine wesentliche Verschlechterung des Gesundheitszustands ist dabei nicht schon bei jeder befürchteten ungünstigen Entwicklung anzunehmen, sondern nur bei außergewöhnlich schweren körperlichen oder psychischen Schäden (OVG NRW, Beschluss vom 30.12.2004 – 13 A 1250/04.A, juris Rn. 56).

Darüber hinaus muss die Gefahr nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG konkret sein, d.h. die drohende Rechtsgutsverletzung darf nicht nur im Bereich des Möglichen liegen, sondern muss mit überwiegender Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein. Dieses setzt voraus, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustandes „alsbald“ nach der Rückkehr des Betroffenen in sein Heimatland eintreten wird, weil er auf die dortigen unzureichenden Möglichkeiten zur Behandlung seines Leidens angewiesen wäre und auch anderswo wirksame Hilfe nicht in Anspruch nehmen könnte (BVerwG, Urteil vom 22.03.2012 - 1 C 3/11, juris Rn. 34). Hierbei wird in zeitlicher Hinsicht regelmäßig ein Prognosezeitraum von etwa einem Jahr nach der Einreise in den Zielstaat als angemessen angesehen, wobei sich aus den besonderen Umständen des Einzelfalls ein abweichender Entscheidungszeitraum ergeben kann, insbesondere aus der Natur der Erkrankung (Nds. OVG, Beschluss vom 22.3.2006 – 10 LA 287/05, n.v., S. 6; VG Oldenburg, Beschluss vom 27.01.2016 - 7 B 283/16, juris Rn. 11).

Unter Berücksichtigung dieses rechtlichen Maßstabs liegen die Voraussetzungen für die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG hinsichtlich der Klägerin vor.

In der Zusammenschau der qualifizierten und substantiierten, in jeglicher Hinsicht die Anforderungen des § 60a Abs. 2c S. 2, S. 3 AufenthG wahrenden fachärztlichen Atteste leidet die Klägerin an einer schweren depressiven Episode sowie einer posttraumatischen Belastungsstörung, welche eine kontinuierliche, stützend-stabilisierende psychiatrisch-psychotherapeutische Behandlung erfordert. Im Falle einer Rückführung in ihr Heimatland drohen ihr – in Anbetracht der diagnostizierten Reiseunfähigkeit – auch unmittelbar nach Ankunft außergewöhnlich schwere körperliche und psychische Schäden, denn aus psychiatrisch-psychotherapeutischer Sicht besteht gegenwärtig kein Mittel zur Verhinderung einer akuten Suizidalität.

Im Übrigen, und die Zuerkennung eines Abschiebungsverbots nach § 60 Abs. 7 S. 1 AufenthG selbstständig tragend, könnte die Klägerin ausweislich der dem Einzelrichter vorliegenden Erkenntnismittel die zwingend erforderliche medikamentöse, psychiatrische und psychotherapeutische Hilfe durch spezialisiertes medizinisches Fachpersonal im Irak nicht erlangen.

Die medizinische Versorgungssituation im Irak bleibt angespannt; Korruption ist weitverbreitet. Die für die Grundversorgung der Bevölkerung besonders wichtigen örtlichen Gesundheitszentren (ca. 2.000 im gesamten Land) sind entweder geschlossen oder wegen baulicher, personeller oder Mängel der Ausrüstung nicht in der Lage, die medizinische Grundversorgung sicherzustellen. Die große Zahl von Flüchtlingen belastet das Gesundheitssystem zusätzlich, zumal infolge der fortdauernden Kampfhandlungen im Land nicht nur eine Grundversorgung sichergestellt werden muss, sondern auch die Behandlung schwieriger Schusswunden und Kriegsverletzungen (Auswärtiges Amt, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak, Stand: Dezember 2018, S. 25).

Ein staatliches Krankenversicherungssystem existiert nicht. Alle irakischen Staatsbürger, die sich als solche ausweisen können, haben (formalen) Zugang zum Gesundheitssystem. Das Gesundheitswesen besteht dabei aus zum einen aus einem öffentlichen Sektor, zum anderen aus einem privaten, dessen Leistungen besser sind, zugleich aber auch teurer. Fast alle Iraker leben etwa eine Stunde vom nächstliegenden Krankenhaus bzw. Gesundheitszentrum entfernt. In ländlichen Gegenden wohnt jedoch ein bedeutender Teil der Bevölkerung weiter entfernt von solchen Einrichtungen; zudem kann die Versorgungslage bei gravierenden Krankheitsbildern problematisch werden. Die Erstversorgung ist hier grundsätzlich gegeben, allerdings gestaltet sich die medizinische Versorgung umso schwieriger, je kleiner und abgeschiedener das jeweilige Dorf ist. Staatliche wie private Krankenhäuser sind fast ausschließlich in den irakischen Städten zu finden (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, Gesamtaktualisierung am 20. November 2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 9. April 2019, S. 110). Bei der Inanspruchnahme privatärztlicher Leistungen muss der Patient zunächst eine Art Praxisgebühr bezahlen (in der Regel zwischen 15.000 und 20.000 irakische Dinare). Für Untersuchungen und Laboranalysen sind danach noch zusätzliche Kosten zu veranschlagen. Medikamente, die der Patient direkt vom Arzt bekommt, sind gleich vor Ort zu bezahlen. In den staatlichen Zentren zur Erstversorgung entfällt zwar in der Regel die Praxisgebühr, jedoch verbleiben die Kosten für eventuelle Zusatzleistungen (BFA, a.a.O., S. 110 f.).

Effektive Behandlungsmöglichkeiten für schwerwiegende psychische Erkrankungen existieren in Anbetracht der dargestellten Lage des irakischen Gesundheitssystems in aller Regel nicht (siehe hierzu ausführlich: SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 9. Februar 2017 zu Irak: Behandlung von PTBS in der KRG-Region; ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Behandlungsmöglichkeiten bei psychischen Erkrankungen etc. [a-10861], 12. Februar 2019).

Nach einem Bericht der Schweizerischen Flüchtlingshilfe aus Februar 2017 haben die Kriege, Gewalt und Vertreibungen der letzten Jahrzehnte die psychische Gesundheit der irakischen Bevölkerung massiv beeinflusst. Experten seien bereits 2003 davon ausgegangen, dass bis zu 50 Prozent der irakischen Bevölkerung von verschiedenen Formen posttraumatischer Belastungsstörungen (PTSD) betroffen seien (SFH, Schnellrecherche der SFH-Länderanalyse vom 9. Februar 2017 zu Irak: Behandlung von PTBS in der KRG-Region, S. 1 f. m.w.N.). Ein großer Teil der vom Jahr 2014 an geflüchteten und vertriebenen Personen sei im Irak traumatisiert von Krieg, Folter, sexueller Gewalt sowie der Trennung von ihren Familien. Diese Personen bräuchten neben medizinischer Behandlung auch dringend psychologische Betreuung. Depressionen und Angststörungen mit Posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) seien die häufigsten psychologischen Probleme. Die real existierende Nachfrage an medizinischer Infrastruktur und Behandlungsmöglichkeiten von psychischen Krankheiten könne das Gesundheitswesen nicht annähernd abdecken (SFH, a.a.O., S. 1).

Das Integrated Regional Information Network (IRIN) berichtete hiermit korrespondierend im Januar 2017, dass es im Irak bereits vor dem Aufkommen der Gruppe des „Islamischen Staates“ (IS) einen Mangel an Psychiatern und Psychologen gegeben habe. Nun, nach Jahren der IS-Herrschaft, würden die Auswirkungen dieser Defizite schmerzhaft deutlich. Es gebe schlicht nicht genug ausgebildete klinische Psychologen im Irak, um sich um die Bedürfnisse der Betroffenen zu kümmern. Im Zentralirak werde keine Ausbildung für klinische Psychologie angeboten, lediglich die Regierung der Autonomen Region Kurdistan biete diese Kurse an. Neben den Teams von Ärzte ohne Grenzen und jenen Teams, die mit anderen Hilfsorganisationen in Verbindungen stehen, würden nach offiziellen Angaben nur rund 80 klinische Psychologen im Irak und der Autonomen Region Kurdistan arbeiten. 2010 seien es nur 47 gewesen. Die Anzahl der Psychiater sei höher. Einige davon hätten Techniken wie beispielsweise die Kognitive Verhaltenstherapie erlernt, aber auch sie seien überlastet. Ein Sprecher des irakischen Gesundheitsministeriums habe bestätigt, dass die psychische Gesundheitsversorgung heutzutage sehr wichtig sei, allerdings nicht die oberste Priorität der Regierung. Diese konzentriere sich vorrangig darauf, Menschenleben zu retten, ferner auf Operationen und Erste-Hilfe-Behandlungen in den Bereichen, in denen Sicherheitskräfte gegen den IS kämpften (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Behandlungsmöglichkeiten bei psychischen Erkrankungen etc. [a-10861], 12. Februar 2019 m.w.N.).

Eine Anfragebeantwortung der Internationalen Organisation für Migration (IOM) aus Januar 2018 gegenüber der Zentralstelle für Informationsvermittlung zur Rückkehrförderung (ZIRF) des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge befasst sich schließlich unter anderem mit der medizinischen Versorgung bei psychischen Erkrankungen in Bagdad. Auf die Frage nach Behandlungsmöglichkeiten einer posttraumatischen Belastungsstörung nebst Krankenversicherung und Kostenübernahme antwortete die IOM, es gebe in Bagdad lediglich ein einziges staatliches Krankenhaus, welches diese Erkrankung behandele, daneben noch einige private Kliniken. Es existierten allerdings keine Krankenkassen, welche die Behandlungskosten trügen; die Patienten müssten selbst für die Behandlung aufkommen (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Behandlungsmöglichkeiten bei psychischen Erkrankungen etc. [a-10861], 12. Februar 2019 m.w.N.).

Unter Würdigung der glaubhaften Angaben der Klägerin gegenüber dem Bundesamt in ihrer Anhörung zum Zweitantrag, insbesondere zu ihrem bisherigen Werdegang nebst dem Verhältnis zu ihrer Familie in Deutschland und im Irak, zu ihrer gegenwärtig eingeschränkten Erwerbsfähigkeit sowie in Anbetracht der qualifizierten Diagnosen der sie behandelnden Psychiater und Psychologen scheint es für den Einzelrichter bei dieser Erkenntnismittellage ausgeschlossen, dass die Klägerin im Falle einer Rückkehr in der Lage wäre, eine adäquate psychiatrische oder psychologische Behandlung ihrer komplexen psychischen Erkrankung zu erlangen. Im Falle der Nichtbehandlung drohen zudem nach Einschätzung der für die Klägerin zuständigen Fachärzte zeitnah gravierende gesundheitliche Folgen, welche von der Chronifizierung der psychischen Erkrankungen bis hin zum Suizid reichen.

2. Die Klägerin hat gegen die Beklagte überdies einen Anspruch auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG.

Gemäß § 60 Abs. 5 AufenthG darf ein Ausländer nicht abgeschoben werden, soweit sich aus der Anwendung der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ergibt, dass die Abschiebung unzulässig ist. Dies ist zu bejahen, wenn es ernsthafte und stichhaltige Gründe dafür gibt, dass der Betroffene im Falle seiner Abschiebung tatsächlich Gefahr läuft, im Aufnahmeland einer Art. 3 EMRK widersprechenden Behandlung ausgesetzt zu werden. Schlechte humanitäre Bedingungen im Abschiebezielstaat begründen dabei im Allgemeinen kein Abschiebungsverbot. Anderes kann nur in besonderen Ausnahmefällen gelten, in denen humanitäre Gründe zwingend gegen die Aufenthaltsbeendigung sprechen. Dies kann der Fall sein, wenn der Betroffene bei einer Rückkehr aufgrund der humanitären Bedingungen nicht in der Lage wäre, ein Leben zumindest am Rande des Existenzminimums zu führen (BVerwG, Urteil vom 31.01.2013 – 10 C 15.12, juris Rn. 23 ff. unter Hinweis auf EGMR, Urteile vom 27.05.2008 - 26565/05 (N. / Vereinigtes Königreich), vom 28.02.2008 - 37201/06 (Saadi / Italien) sowie vom 07.07.1989 – 14038/88 (Soering / Vereinigtes Königreich); VG Köln, Urteil vom 09.07.2019 – 17 K 2965/18.A, juris Rn. 101 f.). So liegt es im Falle der Klägerin.

Ausweislich der dem Einzelrichter vorliegenden Erkenntnismittel (siehe VG Hannover, Urteil vom 07.10.2019 – 6 A 5999/17, juris Rn. 23 ff.; Urteil vom 26.02.2018 – 6 A 5751/16, juris Rn. 38 ff.; Urteil vom 26.02.2018 – 6 A 6292/16, juris Rn. 34 ff.; Urteil vom 19.12.2018 – 6 A 4443/18 –, juris Rn. 31 ff., jeweils m.w.N.) bilden alleinstehende oder alleinerziehende Frauen, welche nicht auf den Schutz eines Familienverbandes zurückgreifen können, eine Personengruppe, deren Angehörige aufgrund einer weitverbreiteten Diskriminierung durch die Behörden und Gesellschaft des Iraks einem besonders hohen Risiko unterliegen, ein Leben unterhalb des Existenzminimums führen zu müssen (siehe zum Nachfolgenden: ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Autonome Region Kurdistan: Lage alleinstehender Frauen; Sicherheitslage [a-11064], 12. August 2019, m.w.N. auf die angeführten Erkenntnismittel).

Nach einem Bericht des Europäischen Unterstützungsbüros für Asylfragen (European Asylum Support Office – EASO) aus Juni 2019 ist es allgemein nicht üblich, dass eine Frau im Irak allein lebt, da dies als Fehlverhalten gilt. Alleinlebende Frauen seien, auch auf dem Bericht der kurdischen Autonomieregion, oft mit negativen bzw. diskriminierenden Einstellungen der Behörden und Gesellschaft konfrontiert und einem besonders hohen Risiko von Gewalt ausgesetzt. Weibliche Haushaltsvorstände, geschiedene Frauen und Witwen seien in einer verletzlichen Position in Bezug auf ihre wirtschaftliche Lage und würden Gefahr laufen, Opfer von Belästigung zu werden. Sie hätten Schwierigkeiten bei der Arbeitssuche, insbesondere, wenn ihnen der Schutz eines männlichen Verwandten und die notwendigen Beziehungen zum Finden einer Anstellung fehlen würden. Die wirtschaftliche Diskriminierung erstrecke sich nicht nur auf den Zugang zum Arbeitsmarkt, sondern auch auf Kredit und Lohngleichheit. In der Autonomen Region Kurdistan sei es alleinstehenden Frauen aus kulturellen Gründen nicht möglich, selbst Eigentum zu mieten; in den meisten Hotels sei ihnen der Aufenthalt zudem nicht erlaubt. Korrespondierende Feststellungen finden sich in einem Länderbericht des australische Außen- und Handelsministerium (Department of Foreign Affairs and Trade – DFAT) aus Oktober 2018.

In seinen im Mai 2019 veröffentlichten Richtlinien zur Feststellung des internationalen Schutzbedarfs von Asylsuchenden aus dem Irak führt das Flüchtlingshochkommissariat (UN High Commissioner for Refugees – UNHCR) des Weiteren aus, alleinstehende Mütter und ihre Kinder seien Berichten zufolge mit gesellschaftlicher Ausgrenzung und Stigmatisierung konfrontiert. Frauen ohne männliche Unterstützung durch ihre Familie oder Stammesgruppen, d.h. insbesondere Witwen, Geschiedene und vor häuslicher Gewalt, Ehrverbrechen oder Zwangs- beziehungsweise Kinderheirat geflohene Frauen, seien besonders gefährdet, Opfer weiterer Misshandlung, Ausbeutung und Menschenhandel zu werden. Auch in der Kurdischen Autonomieregion sei die geschlechtsspezifische Gewalt hoch, denn neu eingeführte, rechtliche und institutionelle Reformen würden durch die Behörden lediglich mangelhaft umgesetzt, insbesondere aufgrund der vorwiegend patriarchalischen Geschlechternormen. Dieser Befund deckt sich mit Erkenntnissen eines im März 2019 veröffentlichten Menschenrechtsberichts des US Departments of State (USDOS, Berichtszeitraum: 2018). Dem EASO-Bericht aus Juni 2019 zufolge ist es für geschiedene Frauen im Irak zudem üblich, in die Obhut ihrer Familien zurückzukehren. Witwen könnten entweder von ihren eigenen Familien oder der Familie des verstorbenen Ehemannes beherbergt werden. Unter diesen Umständen würden männliche Verwandte jeweils als Aufsichtspersonen agieren. Von ihren Familien verstoßene Frauen ohne soziales Netzwerk zur Unterstützung seien demgegenüber erheblich schlechter gestellt.

Gemäß einem Bericht des österreichischen Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl aus Juli 2019 ist der Irak schließlich eines der Länder mit dem weltweit niedrigsten Anteil der Erwerbstätigen an der Gesamtbevölkerung (48,7 Prozent), wobei nur 26 Prozent der Jugendlichen und lediglich zwölf Prozent der Frauen erwerbstätig sind (BFA, Iraq. Socio-economic dynamics: Baghdad, 31. Juli 2019, S. 7). Der Anteil erwerbstätiger Frauen stelle sich in Bagdad gegenüber dem landesweiten Durchschnitt nochmals als deutlich niedriger dar (BFA, a.a.O., S. 12). Die Armutsrate sei überdies in Bagdad im Einklang mit einem landesweit bestehenden Trend seit dem Jahr 2012 angestiegen, wobei ein deutlich spürbarer Mangel an stabiler Lebensmittel- und Trinkwasserversorgung sowie an Wohnraum bestehe; weiblich geführte Haushalte seien zudem besonders oft von Armut betroffen (BFA, a.a.O., S. 13).

Nach Maßgabe dieser Erkenntnismittellage ist es nach Auffassung des Einzelrichters ausgeschlossen, dass die (gesundheitlich stark beeinträchtigte) Klägerin im Falle einer Rückkehr nach Bagdad in der Lage wäre, ihr Leben am Rande des Existenzminimums und damit im Einklang mit den Vorgaben des § 60 Abs. 5 AufenthG bestreiten zu können. Wie sie bereits bei ihrer Anhörung beim Bundesamt glaubhaft angegeben und im gerichtlichen Verfahren weiter substantiiert hat, wäre sie im Irak ohne belastbaren familiären Rückhalt, d.h. auf sich allein gestellt. Hierfür spricht auch, dass ihr Vater seit 2002 von seiner restlichen Familie dauerhaft getrennt lebt, d.h. auch von ihren übrigen, in Deutschland lebenden weiblichen Familienangehörigen. Sie würde sich nach den dargetanen Erkenntnismitteln zeitnah in einer aussichtslosen Lage befinden und verelenden.

3. Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsan-drohung ist hinsichtlich der Bezeichnung des Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Die Klägerin hat einen Anspruch auf Zuerkennung eines Abschiebungsverbotes nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht.

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 Auf-enthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Ver-bindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.