Oberverwaltungsgericht Niedersachsen
Beschl. v. 22.06.2017, Az.: 4 PA 128/17

Alter; Anfechtungsklage; Anspruch; Aufklärung; Ermessen; Ermessensreduzierung; erhebliche Erschwerung; Kind; Leistung; Mitwirkung; subjektives Recht; Sachverhalt; Schulpflicht; Tageseinrichtung; Tagespflege; Verpflichtungsklage; Versagung

Bibliographie

Gericht
OVG Niedersachsen
Datum
22.06.2017
Aktenzeichen
4 PA 128/17
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2017, 53922
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Verfahrensgang

vorgehend
VG - 13.03.2017 - AZ: 4 A 802/15

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Bei der Versagung einer Sozialleistung gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I wegen einer unterbliebenen Mitwirkung des Antragstellers an der Sachverhaltsaufklärung handelt es sich um eine Ermessensentscheidung. Eine Ermessensreduzierung auf Null kann sich daraus ergeben, dass dem Leistungsträger anderweitige Ermittlungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen.

2. § 24 Abs. 4 SGB VIII, wonach für Kinder im schulpflichtigen Alter ein bedarfsgerechtes Angebot in Tageseinrichtungen vorzuhalten ist (Satz 1) und ein Kind bei besonderem Bedarf oder ergänzend auch in Kindertagespflege gefördert werden kann (Satz 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 3), regelt eine rein objektiv-rechtliche Verpflichtung der Jugendhilfeträger zum Vorhalten eines entsprechenden Angebots. Subjektive Rechte können aus der Vorschrift nicht hergeleitet werden.

Tenor:

Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Verwaltungsgerichts Stade - 4. Kammer - vom 13. März 2017 geändert.

Der Klägerin wird für das Verfahren im ersten Rechtszug Prozesskostenhilfe unter Beiordnung von Rechtsanwalt X, Cuxhaven, bewilligt, soweit sie mit ihrer Klage den Bescheid des Beklagten vom 17. April 2015 angefochten hat.

Im Übrigen wird die Beschwerde zurückgewiesen.

Gerichtskosten werden nicht erhoben. Außergerichtliche Kosten des Beschwerdeverfahrens werden nicht erstattet.

Gründe

Die Beschwerde der Klägerin ist in dem tenorierten Umfang begründet. Das Verwaltungsgericht hat den Antrag auf Bewilligung von Prozesskostenhilfe für das Klageverfahren im ersten Rechtszug zu Unrecht insgesamt abgelehnt. Die Rechtsverfolgung der Klägerin hat zum maßgeblichen Zeitpunkt der Entscheidungsreife des Prozesskostenhilfegesuchs zumindest teilweise hinreichende Aussicht auf Erfolg geboten; ferner sind nach den insoweit maßgeblichen heutigen Verhältnissen die wirtschaftlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe gegeben (vgl. § 166 Abs. 1 Satz 1 VwGO i.V.m. §§ 114 Abs. 1 Satz 1, 115 ZPO).

Die Rechtsverfolgung der Klägerin hat mit dem gegen den Bescheid des Beklagten vom 17. April 2015 gerichteten Anfechtungsbegehren Aussicht auf Erfolg, so dass insoweit die sachlichen Voraussetzungen für die Bewilligung von Prozesskostenhilfe vorliegen. Entgegen der Ansicht des Verwaltungsgerichts erweist sich der angegriffene Bescheid nach summarischer Prüfung als rechtswidrig.

Der Senat teilt allerdings die Auffassung des Verwaltungsgerichts, dass es sich bei dem angefochtenen Verwaltungsakt um einen auf der Grundlage von § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I ergangenen Versagungsbescheid handelt, der an die fehlende Mitwirkung der Klägerin bei der Aufklärung des Sachverhalts angeknüpft hat. Der Begründung des Verwaltungsaktes ist mit hinreichender Klarheit zu entnehmen, dass der Beklagte mit diesem Bescheid noch nicht abschließend über den von der Klägerin für ihren Sohn June-Jasper gestellten Antrag auf Förderung in Kindertagespflege entscheiden wollte, sondern lediglich eine vorläufige Regelung treffen wollte, die nur Bestand haben sollte, bis die Klägerin Nachweise dafür erbringt, dass für ihren Sohn ein Platz in einem Schülerhort nicht zur Verfügung steht. Der Bescheid knüpft damit ersichtlich an das Schreiben vom 25. März 2015 an, in dem der Beklagte die Klägerin aufgefordert hatte, entsprechende Nachweise vorzulegen, und diese Aufforderung mit einer Fristsetzung und einem Hinweis im Sinne von § 66 Abs. 3 SGB I verbunden hatte.

Der angegriffene Bescheid ist jedoch nach summarischer Prüfung rechtswidrig, weil er mit der Ermächtigungsgrundlage in § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I nicht in Einklang steht.

Sehr zweifelhaft ist bereits, ob die Klägerin die Aufklärung des Sachverhalts erheblich erschwert hat, indem sie trotz entsprechender Aufforderung keine Nachweise dafür vorgelegt hat, dass sie sich für ihren Sohn um die Aufnahme in einen der in Frage kommenden Schülerhorte bemüht hat, dort ein freier Platz jedoch nicht zur Verfügung steht. Eine erhebliche Erschwerung der Sachverhaltsaufklärung im Sinne von § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I ist nur dann anzunehmen, wenn sie allenfalls durch beträchtlichen Verwaltungsaufwand überwindbar ist (vgl. Kampe/Voelzke, in: jurisPK-SGB I, Stand: 18.11.2016, § 66 Rn. 22; Seewald, in: Kasseler Kommentar Sozialversicherungsrecht, Stand: 93. EL 2017, § 66 SGB I Rn. 8 – jeweils m. w. Nachw.). Das dürfte hier nicht der Fall gewesen sein, da es den Beklagten wohl wenig Aufwand gekostet hätte, sich selbst bei den wenigen in Frage kommenden Schülerhorten zu erkundigen, ob der Sohn der Klägerin dort angemeldet worden ist und ob für ihn ein freier Platz vorhanden ist. Zu dieser Erhebung von Sozialdaten bei den Schülerhorten wäre der Beklagte auch befugt gewesen. Der niedersächsische Gesetzgeber hat in § 14 KiTaG eine Ermächtigungsgrundlage geschaffen, die es u. a. dem örtlichen Träger der Jugendhilfe erlaubt, zur Ermittlung und zur Erfüllung des Bedarfs an Plätzen in Tageseinrichtungen von den Trägern Auskunft über den Namen, die Anschrift und das Geburtsdatum der angemeldeten Kinder zu verlangen. Angemeldete Kinder im Sinne dieser Regelung sind nicht nur Kinder, die die Tageseinrichtung bereits besuchen, sondern auch solche, die lediglich auf der Warteliste geführt werden. Das ergibt sich aus der Entstehungsgeschichte der Vorschrift. Sie ist vom Landesgesetzgeber geschaffen worden, „weil der dort behandelte Fall der Datenübermittlung erforderlich ist, um Mehrfachanmeldungen zu verschiedenen Kindergärten zu erkennen, diese notwendige Übermittlung nach Auffassung des Landesbeauftragten für den Datenschutz sich derzeit aber nicht auf eine gesetzliche Regelung stützen kann“ (LT-Drs. 12/4483, S. 12; s. auch Klügel/Reckmann, Gesetz über Tageseinrichtungen für Kinder in Niedersachsen, 4. Aufl. 2004, § 14 Anm. 5).

Im Übrigen wäre der angefochtene Bescheid selbst dann rechtswidrig, wenn davon auszugehen wäre, dass die Tatbestandsvoraussetzungen des § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I gegeben sind. Denn die Begründung dieses Verwaltungsaktes enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass der Beklagte sich bewusst war, dass es sich bei der Versagung der Leistung gemäß § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I um eine Ermessensentscheidung handelt. Entsprechend liegt hier ein Ermessensfehler in Form des Ermessensnichtgebrauchs vor. Es spricht auch nichts dafür, dass das Ermessen hier auf Null reduziert war und der Beklagte daher verpflichtet war, die Sozialleistung zu versagen. Bei der Versagung von Leistungen wegen fehlender Mitwirkung kann sich eine Ermessensreduzierung zwar daraus ergeben, dass dem Sozialleistungsträger anderweitige Ermittlungsmöglichkeiten nicht zur Verfügung stehen (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 25.2.2016 - L 8 SO 52/14 -, EuG 2017, 26 m. w. Nachw.). Dieser Fall ist hier aber nicht gegeben, da der Beklagte – wie bereits ausgeführt – befugt gewesen wäre, bei den in Frage kommenden Kindertageseinrichtungen selbst in Erfahrung zu bringen, ob der Sohn der Klägerin dort angemeldet worden ist und ob für ihn ein freier Platz zur Verfügung steht.

Eine über das Anfechtungsbegehren hinausgehende Bewilligung von Prozesskostenhilfe kommt hingegen nicht in Betracht, da die Klage hinsichtlich des von der Klägerin beim Verwaltungsgericht anhängig gemachten Verpflichtungsbegehrens keine Aussicht auf Erfolg bietet.

Allerdings ist die Verpflichtungsklage entgegen der Auffassung des Verwaltungsgerichts zumindest statthaft. Zwar kann ein auf der Grundlage von § 66 Abs. 1 Satz 1 SGB I ergangener Versagungsbescheid grundsätzlich nur mit der Anfechtungsklage angegriffen werden. Eine Verpflichtungsklage ist jedoch ausnahmsweise dann zulässig, wenn die anderweitige Klärung der Leistungsvoraussetzungen zwischen den Beteiligten unstreitig ist oder vom Kläger behauptet wird (vgl. BVerwG, Urt. v. 17.1.1985
- 5 C 133.81 -, BVerwGE 71, 8; BSG, Urt. v. 17.2.2004 - B 1 KR 4/02 R -, NZS 2005, 53 = SGb 2004, 649 u. v. 1.7.2009 – B 4 AS 78/08 R -, BSGE 104, 26). So verhält es sich hier, denn die Klägerin macht geltend, dass ihr Sohn unabhängig vom Vorhandensein eines freien Hortplatzes in Kindertagespflege zu fördern sei, da ihm aufgrund einer ADHS-Diagnose die Unterbringung in einem Hort nicht zumutbar sei und deshalb die Voraussetzungen von § 24 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 3 SGB VIII gegeben seien.

Die Verpflichtungsklage hat aber deshalb keine Aussicht auf Erfolg, weil sie ersichtlich unbegründet ist. Ein Anspruch auf Förderung des zwölfjährigen schulpflichtigen Sohnes der Klägerin in Kindertagespflege ist nicht gegeben.

Gemäß § 24 Abs. 4 SGB VIII in der seit dem 1. August 2013 geltenden Fassung ist für Kinder im schulpflichtigen Alter ein bedarfsgerechtes Angebot in Tageseinrichtungen vorzubehalten (Satz 1). Nach Satz 2 der Vorschrift gilt u. a. Abs. 3 Satz 3 entsprechend, wonach das Kind bei besonderem Bedarf oder ergänzend auch in Kindertagespflege gefördert werden kann. Die Vorschrift regelt eine rein objektiv-rechtliche Verpflichtung der Jugendhilfeträger zum Vorhalten eines entsprechenden Angebots für Kinder im schulpflichtigen Alter (vgl. Struck, in: Wiesner, SGB VIII, 5. Aufl. 2015, § 24 Rn. 65; Rixen, in: jurisPK-SGB VIIII, Stand: 1.6.2014, § 24 Rn. 8; Kaiser, in: LPK-SGB VIII, 5. Aufl. 2014, § 24 Rn. 38; Tillmanns, in: MüKo-BGB, Bd. 9, 7. Aufl. 2017, § 24 SGB VIII Rn. 1). Subjektiv-öffentliche Rechte können aus ihr somit nicht hergeleitet werden. Für § 24 Abs. 4 Satz 1 SGB VIII ergibt sich das bereits unzweideutig aus dem Wortlaut, gerade auch in Gegenüberstellung mit den in Abs. 2 Satz 1 und Abs. 3 Satz 1 der Norm für andere Altersgruppen von Kindern ausdrücklich geregelten Ansprüchen. Der objektiv-rechtliche Charakter der Regelung ist zudem - und zwar auch für die hier in Rede stehende Förderung in Kindertagespflege gemäß § 24 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 3 SGB VIII - entstehungsgeschichtlich belegt. § 24 Abs. 2 SGB VIII in der bis zum 31. Juli 2013 geltenden Fassung sah noch vor, dass für Kinder im Alter unter drei Jahren und im schulpflichtigen Alter ein bedarfsgerechtes Angebot an Plätzen in Tageseinrichtungen und in Kindertagespflege vorzuhalten ist. Nach damaligem Rechtsstand zeigte somit schon die Gesetzesformulierung, dass für Kinder im schulpflichtigen Alter auch die Förderung in Kindertagespflege rein objektiv-rechtlich geregelt war. Dies wird zudem durch die zugrunde liegende Gesetzesbegründung bestätigt (vgl. BT-Drs. 15/3676, S. 33). Mit der Neufassung des § 24 SGB VIII durch Art. 1 Nr. 7 des Kinderförderungsgesetzes vom 10. Dezember 2008 (BGBl. I, 2403), durch die Abs. 3 Satz 3 und Abs. 4 Satz 2 der Norm in ihrer seit dem 1. August 2013 geltenden heutigen Fassung geschaffen worden sind, ist insoweit auch nicht eine Rechtsänderung eingetreten. Schon in seinem unmittelbaren Anwendungsbereich auf Kinder ab Vollendung des dritten Lebensjahres bis zum Schuleintritt normiert § 24 Abs. 3 Satz 3 SGB VIII als Kann-Vorschrift keinen gebundenen Anspruch, sondern nur eine Ermessensentscheidung. Es spricht zwar viel dafür, dass die Regelung in ihrem unmittelbaren Anwendungsbereich auch den Interessen der betroffenen Kinder dient und für diese daher bei Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen ein Anspruch auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Förderung in Kindertagespflege besteht (vgl. Rixen, a.a.O., § 24 Rn. 8). Diese Wertung ist auf Kinder im schulpflichtigen Alter jedoch nicht zu übertragen. Bereits der Wortlaut von § 24 Abs. 4 Satz 2 SGB VIII ordnet lediglich eine entsprechende Geltung von Abs. 3 Satz 3 an und spricht daher nicht zwingend dafür, dass auch für diese Altersgruppe ein Recht auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung geschaffen werden sollte. Zudem belegt die dem Kinderförderungsgesetz zugrunde liegende Gesetzesbegründung, dass der Gesetzgeber hinsichtlich der Einräumung subjektiver Rechte für Kinder im schulpflichtigen Alter nicht über den alten Rechtsstand hinausgehen wollte und es somit bei einer rein objektiv-rechtlichen Verpflichtung bleiben sollte. Denn danach regelt § 24 Abs. 4 SGB VIII „für die Altersgruppe der Grundschulkinder die Verpflichtung, ein bedarfsgerechtes Angebot an Plätzen in Tageseinrichtungen und bei besonderem Bedarf oder ergänzend in Kindertagespflege vorzuhalten“ (BT-Drs. 16/9299, S. 15). Aus § 24 Abs. 4 Satz 2 i.V.m. Abs. 3 Satz 3 SGB VIII kann somit weder ein Anspruch auf Förderung des Sohnes der Klägerin in Kindertagespflege noch ein Recht auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung hergeleitet werden.

In Ermangelung einer gesetzlichen Anspruchsnorm könnte sich somit ein anderes Ergebnis lediglich noch aufgrund einer aus dem allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) folgenden Selbstbindung des Beklagten ergeben, wenn es seiner ständigen Verwaltungspraxis entsprechen würde, ein schulpflichtiges Kind im Alter und in der Situation des Sohnes der Klägerin unabhängig vom Vorhandensein eines freien Platzes in einer Tageseinrichtung in Kindertagespflege zu fördern. Dies ist jedoch weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Im Hinblick darauf, dass die Klägerin im Verwaltungsverfahren ihre Behauptung, dass der Besuch eines Schülerhorts für ihren Sohn eine unzumutbare psychische Belastung darstellen würde, lediglich mit zwei von Allgemeinmedizinern ausgestellten und wenig aussagekräftig formulierten ärztlichen Attesten untermauert hat und weitere diagnostische Abklärungen durch den Beklagten zur Ermittlung des konkreten Hilfebedarfs abgelehnt hat, sieht der Senat es als fernliegend an, dass ein Jugendhilfeträger wie der Beklagte ein schulpflichtiges Kind auf dieser schmalen Tatsachengrundlage ohne Weiteres in Tagespflege fördert.