Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 21.12.2010, Az.: 12 K 414/08
Voraussetzungen für einen Anspruch eines Grenzgängers/Wandererwerbstätigen auf Kindergeld in der Bundesrepublik; Beschäftigung des Kindesvaters und Ehemannes als Arbeitnehmer in den Niederlanden nach den dortigen Bestimmungen ein vierteljährlicher "Kinderbijslag"; Anspruch auf Familienleistungen nach dem Recht des Beschäftigungslandes; Prioritätsregeln für den Fall der Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 21.12.2010
- Aktenzeichen
- 12 K 414/08
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2010, 36558
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2010:1221.12K414.08.0A
Verfahrensgang
- nachfolgend
- BFH - 30.01.2014 - AZ: V R 38/11
Rechtsgrundlagen
- Art. 13 Abs. 1 VO 1408/71/EWG
- Art. 13 Abs. 2 Buchst. a)VO 1408/71/EWG
- Art. 73 VO 1408/71/EWG
- § 65 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 EStG
- § 65 Abs. 2 EStG
- BFH - AZ: III R 3/11
Fundstellen
- EFG 2011, 1004-1007
- Jurion-Abstract 2010, 228903 (Zusammenfassung)
Kindergeld ab April 2005
Der Zahlung von Differenz-Kindergeld zum niederländischen "Kinderbijslag" für ein minderjähriges Kind steht § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG nicht entgegen.
Tatbestand
Streitig sind die Rechtmäßigkeit der Aufhebung einer Kindergeldfestsetzung ab April 2005 sowie die hierauf gestützte Rückforderung von Kindergeld für den Zeitraum April 2005 bis Juni 2007.
Die Klägerin, die die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt und mit ihrer Familie in der Bundesrepublik Deutschland wohnhaft ist, meldete ab Oktober 2002 in der Bundesrepublik eine selbstständig ausgeübte Tätigkeit im Rahmen eines von ihr betriebenen ... an und bezog hier in der Folgezeit zunächst fortlaufend Kindergeld - zum Teil als Unterschiedsbetrag zum Kindergeld nach niederländischem Recht - für ihre Kinder F. (geboren im November 1983), D. (geboren im Oktober 1986) sowie L. (geboren im Juni 1989). Der Kindesvater und Ehemann der Klägerin, der ebenfalls die niederländische Staatsangehörigkeit besitzt, geht in den Niederlanden einer nichtselbstständigen Tätigkeit nach.
Nachdem die Klägerin auf einem Fragebogen zur Prüfung des Anspruchs auf Kindergeld im November 2006 keine Angaben zu der dortigen Nachfrage zu einer unselbstständig ausgeübten Tätigkeit gemacht, sondern lediglich ihre selbstständige Tätigkeit als ... unter der Anschrift in der Bundesrepublik angegeben hatte, erklärte sie sowohl im April als auch im Juni 2008 auf entsprechenden Fragebögen, in den Niederlanden einer unselbstständigen Tätigkeit mit einem wöchentlichen Umfang von drei Stunden von Januar - Dezember nachzugehen. Eine selbstständig ausgeübte Tätigkeit gab sie daneben nur in dem im April 2008 ausgefüllten Fragebogen an. In dem Fragebogen aus Juni 2008 blieben die entsprechenden Felder zur selbstständigen Tätigkeit unausgefüllt (Blatt 49, 56 und 58 der KindergeldA).
Im Zusammenhang mit ihrer in den Niederlanden ausgeübten unselbstständigen Tätigkeit legte die Klägerin einen in niederländischer Sprache abgefassten Arbeitsvertrag vom 31. März 2005 vor. Hiernach wurde die Klägerin zunächst auf ein Jahr befristet ab dem 31. März 2005 als Arbeitnehmerin mit einer wöchentlichen Arbeitszeit von mindestens zwei und höchstens zehn Stunden in der Woche in einem niederländischen ... angestellt. Ab dem 31. März 2006 wurde der zunächst befristet abgeschlossene Arbeitsvertrag auf unbestimmte Zeit zu ansonsten unveränderten Bedingungen verlängert (vgl. Bl. 48 ff. der Gerichtsakte).
Mit Bescheid vom 1. September 2008 hob die beklagte Agentur für Arbeit ... -Familienkasse - u.a. die gegenüber der Klägerin ergangene Kindergeldfestsetzung für L. ab April 2005 auf und forderte zugleich das für den Zeitraum April 2005 bis Juni 2007 insoweit ausgezahlte (Differenz-)Kindergeld in einem Umfang von 1.593 EUR (27 Monate x 59 EUR) zurück.
Während des hiergegen von der Klägerin geführten Einspruchsverfahrens erließ die beklagte Familienkasse aus anderen Gründen unter dem 24. September 2008 einen Teilabhilfebescheid.
Mit Einspruchsbescheid vom 26. September 2008 wurde der Einspruch als unbegründet zurückgewiesen. Ob ein Anspruch auf Kindergeld nach den für die Bundesrepublik Deutschland maßgebenden Vorschriften bestehe, bestimme sich im Verhältnis zu anderen Staaten der Europäischen Union (EU) bzw. des Europäischen Wirtschaftsraumes (EWR) nach den Regelungen der Verordnung (EWG) 1408/71 [VO] bzw. der hierzu ergangenen Durchführungsverordnung (EWG) 574/72 [VO]. Diese Verordnungen gingen als überstaatliche Vorschriften der deutschen Rechtsordnung vor und seien in Deutschland unmittelbar geltendes Recht (vgl. Art. 249 Abs. 2 des Vertrages über die Gründung der Europäischen Gemeinschaft). Der persönliche Geltungsbereich der VO umfasse insbesondere Arbeitnehmer und Selbstständige sowie deren Familienangehörige und Hinterbliebene, wenn sie etwa Staatsangehörige eines EU-Staates seien und wenn für sie die Rechtsvorschriften eines oder mehrerer Mitgliedsstaaten gelten oder galten (Art. 2 VO). Zum sachlichen Geltungsbereich der VO gehörten auch Familienleistungen wie das deutsche Kindergeld (Art. 4 Abs. 1 Buchstabe h VO). Der Zweck der VO bestehe darin, Kumulierungen und Überschneidungen der nationalen Rechtsvorschriften zu verhindern. Weise ein Antragsteller, der dem Geltungsbereich der VO unterfalle, Anknüpfungspunkte und Beziehungen zu mehreren EU-Mitgliedsstaaten auf, regele es sich nach den Kollisionsnormen des II. Titels der VO, welches nationale Recht Anwendung finde. Die Kollisionsnormen der Art. 13 - 17 a VO bestimmten unter Verdrängung aller Kollisionsnormen nationalen Ursprungs, dass nur das Sozialrecht eines einzigen Staates auf den Betroffenen anwendbar sei (so die Grundregel des Art. 13 Abs. 1 VO).
Eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedsstaates im Lohn- oder Gehaltsverhältnis beschäftigt werde, unterliege gem. Art. 13 Abs. 2 Buchstabe a VO den Rechtsvorschriften des Beschäftigungsstaates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedsstaates wohne oder ihr Arbeitgeber oder das Unternehmen, das sie beschäftige, seinen Wohnsitz oder Betriebssitz im Gebiet eines anderen Mitgliedsstaates habe.
Nach den vorliegenden Unterlagen übe die Klägerin seit dem 31. März 2005 eine Beschäftigung in den Niederlanden als Arbeitnehmerin aus. Da die Klägerin zwar in der Bundesrepublik eine selbstständige Tätigkeit, in den Niederlanden aber eine abhängige Tätigkeit ausübe, unterliege sie hinsichtlich des Kindergeldes allein den Regelungen des Beschäftigungslandes, nicht aber den deutschen Rechtsvorschriften.
Ihr Einwand, sie wäre von keiner Stelle bei der Beantragung des Kindergeldes darauf aufmerksam gemacht worden, dass bei der Aufnahme einer sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit in den Niederlanden das deutsche Kindergeld entfalle, überzeuge nicht. In den im Zusammenhang mit der Beantragung des Kindergeldes vorliegenden Anträgen und Fragebögen sei jeweils im letzten Absatz auf die Mitwirkungspflichten der Klägerin bei jeder anspruchserheblichen Änderung gem. § 68 Abs. 1 EStG hingewiesen worden. Dementsprechend hätte sie die Aufnahme der abhängigen Beschäftigung bereits im März 2005 und nicht erst im Juni 2008 mitteilen müssen. Dies habe sie jedoch unterlassen.
Rechtsgrundlage für die Entscheidung über die Aufhebung des Kindergeldes sei § 70 Abs. 2 EStG. Ein Ermessensspielraum stehe der Familienkasse insoweit nicht zu. Die Erstattungspflicht der Klägerin ergebe sich aus § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO). Die Höhe des Erstattungsanspruches umfasse das an die Klägerin für den streitbefangenen Zeitraum nach den Vorschriften der Bundesrepublik zur Auszahlung gelangte Kindergeld.
Die Klägerin hat mit Schreiben vom 30. Oktober 2008 Klage erhoben. Sie ist der Auffassung, dass sowohl die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung als auch die Rückforderung des an sie ausgezahlten Kindergeldes rechtswidrig seien. Dies ergebe sich schon daraus, dass sie, die nur geringfügig deutsch spreche, anlässlich der Beantragung von Kindergeld ein Merkblatt der beklagten Familienkasse erhalten habe. Aus der dortigen Belehrung sei für die Klägerin nicht ersichtlich gewesen, dass sie bei Aufnahme einer Beschäftigung in den Niederlanden bereits ab einer Stunde Erwerbstätigkeit den niederländischen Sozialversicherungsvorschriften unterfalle und somit das in Deutschland gezahlte Kindergeld entfalle.
Zwar übe sie - die Klägerin - seit dem 31. März 2005 eine geringfügige Tätigkeit in den Niederlanden aus. Diese gestalte sich so, dass sie in einem niederländischen ... eine Filiale ihres deutschen Gewerbebetriebes unterhalte... Die Geschäftsführung des niederländischen Arbeitgebers sei seinerzeit der Auffassung gewesen, dass die zuvor beschriebene Tätigkeit der Klägerin ... zu einer abhängigen Beschäftigung in den Niederlanden führe. Der Direktor des holländischen Arbeitgebers habe deshalb die Klägerin den Arbeitsvertrag mit einer Arbeitszeit von wenigstens zwei und maximal zehn Stunden pro Woche unterzeichnen lassen. Auf diese Weise habe die Klägerin einen Bruttolohn im gesamten Jahr 2007 von lediglich 1.825 EUR - dies entspreche monatlich durchschnittlich 152,08 EUR - erzielt. In ihrer niederländischen Filiale ... habe sie dagegen einen Jahresumsatz von 14.753,50 EUR erwirtschaftet.
Mit ihren Tätigkeiten in den Niederlanden unterfalle die Klägerin nicht den niederländischen Sozialversicherungsvorschriften mit der Folge, dass ihr auch weiterhin in der Bundesrepublik Deutschland Kindergeld zu gewähren sei. Der niederländische Arbeitgeber sei vielmehr fälschlicherweise von einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung ausgegangen. Tatsächlich habe es sich aber auch bei den Arbeiten ... nicht um eine abhängige Tätigkeit, sondern um eine solche gehandelt, die der selbstständig ausgeübten Tätigkeit der Klägerin hätte zugeordnet werden müssen. Weil die Einnahmen aus der selbstständigen Tätigkeit die der anderweitigen Tätigkeit überstiegen, müsse die gesamte Tätigkeit der Klägerin in ... einheitlich beurteilt werden.
Schließlich komme eine Rückforderung des Kindergeldes - selbst wenn man die Tätigkeit der Klägerin in den Niederlanden als sozialversicherungspflichtig einstufe - nicht in Betracht, da die in dem angesprochenen Merkblatt erfolgte Belehrung durch die beklagte Familienkasse keine Pflicht der Klägerin begründet habe, die Aufnahme ihrer Tätigkeit in den Niederlanden bei der Familienkasse anzuzeigen.
Während des Klageverfahrens hat die beklagte Familienkasse mit Datum vom 30. November 2010 einen geänderten Bescheid erlassen, mit dem nunmehr die Aufhebung der Kindergeldfestsetzung und Rückforderung ausgezahlten Kindergeldes für L. auf den Zeitraum April 2005 - Juni 2007 und einen Betrag von 1.593 EUR beschränkt worden ist. Dieser Bescheid ist gem. § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens geworden.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
den Bescheid vom 1. September 2008 und den Einspruchsbescheid vom 26. September 2008 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 30. November 2010 soweit hierdurch die Kindergeldfestsetzung von April 2005 - Juni 2007 für ihr Kind L. aufgehoben und ausgezahltes Kindergeld für diesen Zeitraum in Höhe von 1.593 EUR zurückgefordert worden sind, ersatzlos aufzuheben.
Die beklagte Agentur für Arbeit ... - Familienkasse - beantragt unter Hinweis auf ihre Ausführungen im Einspruchsbescheid,
die Klage abzuweisen.
Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.
Entscheidungsgründe
Die Klage, über die der Senat im Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 FGO) entscheidet, ist begründet.
Der mit dieser Klage angefochtene Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 1. September 2008 und der insoweit ergangene Einspruchsbescheid vom 26. September 2008 - in der Fassung des Änderungsbescheides vom 30. November 2010 - sind in dem noch verbliebenen Umfang rechtswidrig und daher aufzuheben. Denn der Klägerin stand für den nunmehr noch streitbefangenen Zeitraum April 2005 bis Juni 2007 (auch) für ... L. (Differenz-)Kindergeld zu.
I.
1.)
Die in den Niederlanden (auch) als Arbeitnehmerin tätige Klägerin, die mit ihrer Familie in der Bundesrepublik Deutschland wohnt, erfüllte in dem streitbefangenen Zeitraum April 2005 bis Juni 2007 für ihr minderjähriges Kind L. gemäß §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 in Verbindung mit §§ 32 Abs. 1 und 3, 64 EStG grundsätzlich die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld in der Bundesrepublik Deutschland.
Da hierüber zwischen den Beteiligten kein Streit herrscht, nimmt der Senat insoweit von weitergehenden Ausführungen Abstand.
2.)
Der Kindergeldanspruch der Klägerin für L. erfuhr auch nicht dadurch eine Einschränkung, dass für dieses Kind aufgrund einer Beschäftigung des Kindesvaters und Ehemannes der Klägerin als Arbeitnehmer in den Niederlanden nach den dortigen Bestimmungen ein vierteljährlicher "Kinderbijslag" von 285,01 EUR und damit monatlich 95 EUR ausgezahlt wurde.
§ 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2, Abs. 2 EStG, wonach (Differenz-)Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt wird, für das dem deutschen Kindergeld vergleichbare Leistungen im Ausland gewährt werden, steht dem nicht entgegen. Denn für Grenzgänger/Wandererwerbstätige in EU-Staaten, d.h. Personen, die in einem Staat wohnen und in einem anderen ihre Berufstätigkeit ausüben, kommt durch den Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem einfachen Recht der Mitgliedstaaten die Ausschluss- und Teilkindergeldregelung des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG i.V.m. § 65 Abs. 2 EStG nicht zur Anwendung (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, BGBl. I 2004, 2570). Soweit das BVerfG in diesem Zusammenhang weiter ausführt, dass innerhalb der Europäischen Union das Beschäftigungslandprinzip in Bezug auf das Kindergeld für die Grenzgänger selbst uneingeschränkt gilt, folgt das erkennende Gericht dieser Auffassung nicht, denn - wie noch auszuführen sein wird - ist dieser Grundsatz durch die Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Gemeinschaften (EuGH) vom 20. Mai 2008 C - 352/06 "Bosmann", Slg. 2008, I-03827 sowie vom 14. Oktober 2010 C-16/09 "Schwemmer", Fundstelle unter [...] überholt.
3.)
a)
Für Personen, die in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) wohnen und in einem anderen Mitgliedstaat arbeiten, wird durch Gemeinschaftsrecht (VO Nr. 1408/71 und VO Nr. 574/72; ab 1. Mai 2010: VO Nr. 883/04 sowie VO Nr. 987/09) geregelt, nach welchem Recht sich die Ansprüche dieser Personen auf Leistungen richten, die auf Rechtsvorschriften über Zweige der sozialen Sicherheit beruhen.
Nach Art. 13 Abs. 1, Abs. 2 Buchstabe a in Verbindung mit Art. 73 VO 1408/71 hat ein Arbeitnehmer, der in einem Mitgliedstaat der EU wohnt, aber in einem anderen Mitgliedstaat arbeitet (so genannter Grenzgänger/Wandererwerbstätiger), Anspruch auf Familienleistungen nach dem Recht des Beschäftigungslandes. Sowohl das Kindergeld nach Maßgabe der §§ 62 ff EStG als auch der nach niederländischem Recht gezahlte Kinderbijslag gehören zu den Familienleistungen in diesem Sinne (vgl. Beschluss des BVerfG vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00, a.a.O.; BFH-Urteil vom 17. April 2008 III R 36/05, BStBl II 2009, 921).
b)
Auf die Klägerin findet grundsätzlich das Recht des Beschäftigungsmitgliedstaates, nämlich das der Niederlande, Anwendung, da sie dort während des maßgeblichen Zeitraums von April 2005 bis Juni 2007 einer nichtselbstständig ausgeübten Tätigkeit als Arbeitnehmerin nachgegangen ist.
aa)
Die Bestimmungen des Titels II der VO Nr. 1408/71, die festlegen, welche Rechtsvorschriften auf Arbeitnehmer anzuwenden sind, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern, bezwecken, dass die Betroffenen dem System der sozialen Sicherheit nur eines Mitgliedstaats unterliegen, um die Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, zu vermeiden. Dieser Grundsatz kommt in Art. 13 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 zum Ausdruck, wonach eine Person, für die diese Verordnung gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaates unterliegt.
bb)
Nach Art. 13 Abs. 2 Buchstabe a der VO Nr. 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, den Rechtsvorschriften dieses Staates, und zwar auch dann, wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates wohnt. Dass diese Bestimmung auf die Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaates als die auf einen Arbeitnehmer anwendbaren Vorschriften verweist, hat zur Folge, dass nur die Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaates auf ihn anwendbar sind.
Im besonderen Zusammenhang der Familienleistungen sieht Art. 73 VO Nr. 1408/71 vor, dass ein Arbeitnehmer, der den Rechtsvorschriften eines Mitgliedstaats unterliegt, für seine Familienangehörigen, die im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des ersten Staates hat, als ob diese Familienangehörigen im Gebiet dieses Staates wohnten (vgl. Urteil des EuGH vom 20. Mai 2008 C - 352/06 "Bosmann", a.a.O.).
cc)
Die Klägerin ist in den Niederlanden unstreitig (auch) als Arbeitnehmerin tätig und dort auf Veranlassung ihres Arbeitgebers als sozialversicherungspflichtig behandelt worden. Darauf, ob sie - wie die Klägerin nunmehr meint - den niederländischen Sozialversicherungsvorschriften gar nicht unterfalle, kommt es nicht entscheidend an. Für die Frage, ob die Klägerin als "abhängig beschäftigt" im Sinne des Art. 13 Abs. 2 Buchstabe a der VO 1408/71 anzusehen ist, ist allein entscheidend, dass ihre Tätigkeit in den Niederlanden nach ihren eigenen Angaben in tatsächlicher Hinsicht der Sozialversicherungspflicht unterworfen worden ist.
Die in den Niederlanden abhängig ausgeübte Tätigkeit der Klägerin wird auch nicht durch ihre im Rahmen eines ... in der Bundesrepublik Deutschland nebst entsprechender Filiale in ... erfolgte weitere selbstständige gewerbliche Betätigung verdrängt bzw. überlagert. Denn gemäß den Bestimmungen des Art. 14 c Buchstabe a der VO 1408/71 unterliegt eine Person, die - wie die Klägerin - im Gebiet verschiedener Mitgliedstaaten gleichzeitig eine abhängige Beschäftigung und eine selbstständige Tätigkeit ausübt, den Rechtsvorschriften des Mitgliedstaates, in dessen Gebiet sie eine abhängige Beschäftigung ausübt. Auf den Umfang der jeweiligen Tätigkeiten wird in diesem Zusammenhang nicht abgestellt mit der Folge, dass - da die Voraussetzungen des Buchstaben b in Art. 14 c der VO 1408/71 nicht gegeben sind - das Recht der Niederlande als Beschäftigungsstaat Vorrang genießt.
dd)
Dies bedeutete grundsätzlich, dass der Klägerin wegen des gemeinschaftsrechtlichen Anwendungsvorrangs - konkret des Art. 13 Abs. 1 der VO 1408/71 - und damit des Rechts der Niederlande als Beschäftigungsstaat für L. kein Kindergeld, auch nicht das an die Klägerin ausgezahlte Differenzkindergeld von monatlich 59 EUR, das Gegenstand des mit dieser Klage angefochtenen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides vom 1. September 2008 ist, nach den Vorschriften der Bundesrepublik Deutschland zu zahlen wäre.
Denn die Vorschriften der VO Nr. 1408/71, nach denen sich die auf innerhalb der Union zu- und abwandernde Erwerbstätige anzuwendenden Rechtsvorschriften bestimmen, bezwecken u.a., dass die Betroffenen grundsätzlich dem System der sozialen Sicherheit nur eines einzigen Mitgliedstaats unterliegen, so dass die Kumulierung anwendbarer nationaler Rechtsvorschriften und die Schwierigkeiten, die sich daraus ergeben können, vermieden werden. Dieser Grundsatz kommt insbesondere in Art. 13 Abs. 1 der VO Nr. 1408/71 zum Ausdruck (vgl. Urteile des EuGH vom 20. Mai 2008 C-352/06 "Bosmann", a.a.O.; vom 14. Oktober 2010 C-16/09 "Schwemmer", a.a.O.)
4.)
Gleichwohl ist deswegen die Anwendung der Bestimmungen einer anderen Rechtsordnung nicht stets ausgeschlossen (vgl. Urteil des EuGH vom 20. Mai 2008 C - 352/06 "Bosmann", a.a.O.). Dementsprechend soll ein nach den Art. 13 ff der VO Nr. 1408/71 nicht zuständiger Mitgliedsstaat - hier: Bundesrepublik Deutschland - dann die Befugnis haben, einem Wandererwerbstätigen Familienleistungen nach seinem nationalen Recht zu gewähren, wenn dieser ansonsten einen Rechtsnachteil dadurch erlitte, dass er von seinem Recht auf Freizügigkeit innerhalb der EU Gebrauch macht.
Denn die Bestimmungen der VO Nr. 1408/71 sind im Licht des Art. 42 EG auszulegen, der die Freizügigkeit der Arbeitnehmer erleichtern soll und u.a. impliziert, dass Wanderarbeitnehmer nicht deshalb Ansprüche auf Leistungen der sozialen Sicherheit verlieren oder geringere Leistungen erhalten dürfen, weil sie das ihnen vom EG-Vertrag verliehene Recht auf Freizügigkeit ausgeübt haben. Der EuGH verweist in seiner Entscheidung "Bosmann" in diesem Zusammenhang auf den ersten Erwägungsgrund der Verordnung Nr. 1408/71, in dem ausgeführt wird, dass die in der Verordnung enthaltenen Vorschriften zur Koordinierung der innerstaatlichen Rechtsvorschriften über soziale Sicherheit zur Freizügigkeit von Personen gehören und zur Verbesserung von deren Lebensstandard und Arbeitsbedingungen beitragen sollen. Vor diesem Hintergrund könne dem Wohnsitzmitgliedstaat nicht die Befugnis abgesprochen werden kann, den in seinem Gebiet wohnhaften Personen Familienbeihilfen zu gewähren. Nach Art. 13 Abs. 2 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 unterliegt eine Person, die im Gebiet eines Mitgliedstaats abhängig beschäftigt ist, zwar den Rechtsvorschriften dieses Staates, auch wenn sie im Gebiet eines anderen Mitgliedstaats wohnt, doch soll der Wohnstaat mit dieser Verordnung nicht daran gehindert werden, dieser Person nach seinem Recht Familienbeihilfen zu gewähren.
5.)
So liegt der Fall hier.
a)
Im Streitfall bestehen Ansprüche auf gleichartige Familienleistungen (vgl. Art. 4 Abs. 1 Buchstabe h der VO 1408/71) für L. nach den Bestimmungen verschiedener Mitgliedstaaten nämlich Beschäftigungsland (Niederlande) sowie Wohnsitzstaat (Bundesrepublik Deutschland) als Kinderbijslag nach niederländischem Recht einerseits sowie Kindergeld gemäß den Vorschriften des deutschen Einkommensteuergesetzes andererseits.
b)
Anhand der "Antikumulierungs"-Vorschriften der Art. 76 VO 1408/71 und Art. 10 VO 574/72 ist nunmehr zu beurteilen, ob und gegebenenfalls in welchem Umfang der Anwendungsvorrang des Beschäftigungsstaats nach Art. 13 VO 1408/71 eingeschränkt oder gar umgekehrt wird.
aa)
Dem Zusammentreffen von Ansprüchen der Klägerin für ihren Sohn L. kann nicht mit Erfolg entgegengehalten werden, dass ihr Anspruch auf deutsches Kindergeld gemäß § 62 EStG durch § 65 Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 EStG ausgeschlossen ist.
Denn in welchem Umfang Leistungen eines Mitgliedstaates der EU, in dem der Anspruchsberechtigte und seine Familie wohnen, für dasselbe Kind auf das deutsche Kindergeld anzurechnen sind, richtet sich ausschließlich nach den Kollisionsregeln des Gemeinschaftsrechts in der VO Nr. 1408/71 und der VO Nr. 574/72. § 65 Abs. 2 EStG, der die Anrechnung von im Ausland gewährten, dem Kindergeld vergleichbaren Leistungen regelt, wird insoweit durch das Gemeinschaftsrecht verdrängt (vgl. Beschluss des BVerfG vom 8. Juni 2004 2 BvL 5/00 sowie BFH-Urteil vom 17. April 2008 III R 36/05, jeweils a.a.O.; Urteil des FG Münster vom 30. April 2009 11 K 998/06 Kg, EFG 2009, 1658). Das "Wiederaufleben" des § 65 EStG würde - jedenfalls bei Fallgestaltungen der vorliegenden Art - dem Anwendungsvorrang des Gemeinschaftsrechts zuwider laufen und dort insbesondere die Bestimmungen des Art. 76 der VO 1408/71 bzw. des Art. 10 der VO 574/72 im Ergebnis leer laufen lassen (vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Mazak vom 15. April 2010 in dem EuGH-Verfahren C - 16/09 "Schwemmer", Nachweis unter [...]).
bb)
Da der Anwendungsbereich des Art. 76 der VO 1408/71 vorliegend nicht eröffnet ist, ist allein Art. 10 der VO 574/72 dahingehend zu prüfen, ob und gegebenenfalls auf welche Weise er das Zusammentreffen der klägerischen Ansprüche löst.
(1.)
Art. 76 der VO Nr. 1408/71 enthält, wie es in seiner Überschrift heißt, "Prioritätsregeln für den Fall der Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen gemäß den Rechtsvorschriften des zuständigen Staates und den Rechtsvorschriften des Staates, in dem die Familienangehörigen wohnen". Nach ihrem Wortlaut soll diese Vorschrift den Fall der Kumulierung von Ansprüchen auf Familienleistungen regeln, die zum einen insbesondere nach Art. 73 dieser Verordnung und zum anderen nach den innerstaatlichen Rechtsvorschriften des Wohnstaats der Familienangehörigen, die den Anspruch auf Familienleistungen wegen Ausübung einer Erwerbstätigkeit begründen, geschuldet werden (Urteil des EuGH vom 7. Juni 2005 C - 543/03, "Dodl und Oberhollenzer", Slg. 2005 I - 05049).
Da nach den deutschen Rechtsvorschriften (§ 62 Abs. 1 EStG) ein Anspruch auf Familienleistungen nur bei einem Wohnsitz oder bei gewöhnlichem Aufenthalt in Deutschland besteht, und nicht, wie nach Art. 76 der VO Nr. 1408/71 für dessen Anwendung erforderlich, "aufgrund der Ausübung einer Erwerbstätigkeit", findet Art. 76 im Streitfall keine Anwendung.
(2.)
Art. 10 Abs. 1 Buchstabe a der VO Nr. 574/72 soll dagegen Fälle des Zusammentreffens von Ansprüchen auf Familienleistungen regeln, die auftreten, wenn diese Leistungen unabhängig von Versicherungs- oder Beschäftigungsvoraussetzungen im Wohnmitgliedstaat des Kindes und zugleich im Beschäftigungsmitgliedstaat eines Elternteils geschuldet werden, ohne dass es entscheidend darauf ankäme, bei welchem von mehreren Kindergeldberechtigten die jeweiligen Anspruchsvoraussetzungen gegeben sind (vgl. Urteil des EuGH vom 7. Juni 2005 C - 543/03, "Dodl und Oberhollenzer", a.a.O.).
(a)
Besteht ein Anspruch auf Familienleistungen im Wohnmitgliedsstaat, der nicht von einer Versicherung, Beschäftigung oder selbstständigen Tätigkeit abhängt, und ein Anspruch auf Familienleistungen im Beschäftigungsland, so ruht nach Art. 10 Abs. 1 Buchstabe a VO Nr. 574/72 der Anspruch im Wohnland bis zur Höhe der im Beschäftigungsland geschuldeten Leistungen.
Dies entspricht exakt der Konstellation im vorliegenden Rechtsstreit, in dem für den streitbefangenen Zeitraum von April 2005 bis Juni 2007 für L. Familienleistungen nach niederländischem Recht "Kinderbijslag" in Höhe von umgerechnet monatlich 95 EUR gewährt worden sind. In diesem Umfang ruhte der Anspruch der Klägerin auf Kindergeld für L. in der Bundesrepublik mit der Folge, dass - wie auch tatsächlich geschehen - lediglich monatlich 59 EUR als so genanntes Differenz-Kindergeld auszuzahlen waren.
(b)
Ob im Streitfall wegen der weiteren - allerdings selbstständig - ausgeübten Tätigkeiten der Klägerin im Rahmen ihres in der Bundesrepublik betriebenen ... sogar die Voraussetzungen einer "Prioritätenumkehr" nach Maßgabe des Art. 10 Abs. 1 Buchstabe b der VO 574/72 mit der Folge vorgelegen haben, dass allein die Vorschriften des Wohnsitzstaates maßgeblich wären, kann unentschieden bleiben. Denn Gegenstand des anhängigen Klageverfahrens ist lediglich die Rechtmäßigkeit des von der beklagten Agentur für Arbeit ... - Familienkasse - erlassenen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheides hinsichtlich des an die Klägerin für L. ausgezahlten Differenz-Kindergeldes und nicht die Frage, ob an die Klägerin für L. Kindergeld in voller Höhe allein nach den Vorschriften der Bundesrepublik (§§ 62 ff EStG) zu gewähren ist.
6.)
Zusammenfassend lässt sich danach festhalten, dass - würde man in Fällen der vorliegenden Art dem nach den nationalen Vorschriften (hier: §§ 62 ff EStG) kindergeldberechtigten Elternteil einen Anspruch auf die Gewährung von (Differenz-) Kindergeld verwehren - dies im Ergebnis bedeutete, dass er seines Anspruchs allein deshalb verlustig ginge, weil er nicht im Wohnsitzstaat, sondern als Grenzgänger/Wanderarbeitnehmer in einem anderen Mitgliedsstaat der EU einer Beschäftigung nachgeht. Dies führte im Ergebnis zu einer nach Ansicht des Senats nicht hinnehmbaren gemeinschaftswidrigen Beschränkung des Rechts der Klägerin auf Freizügigkeit allein wegen der Wahl des Ortes ihrer Tätigkeit als Arbeitnehmerin in dem in den Niederlanden belegenen ... .
Der Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 1. September 2008 erweist sich nach alledem in dem noch nach Ergehen des Teil-Abhilfebescheides vom 30. November 2010 verbliebenen Umfang als rechtswidrig und war daher aufzuheben.
II.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO, die über die Notwendigkeit der Hinzuziehung eines Bevollmächtigten für das Vorverfahren aus § 139 Abs. 3 Satz 3 FGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus den §§ 151 Abs. 1 und Abs. 3, 155 FGO in Verbindung mit §§ 708 Nr. 10, 711 der Zivilprozessordnung (ZPO).
Die Zulassung der Revision beruht auf § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO.