Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 12.05.2005, Az.: 2 A 84/04
Überleitung eines Anspruchs auf besondere schulische Förderung
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 12.05.2005
- Aktenzeichen
- 2 A 84/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 36944
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGGOETT:2005:0512.2A84.04.0A
Rechtsgrundlagen
- § 91 SGB VIII
- § 95 Abs. 1 SGB VIII
- § 95 Abs. 2 SGB VIII
Tatbestand
Der Kläger wendet sich gegen die Überleitung eines vermeintlichen Anspruchs auf schulische Förderung durch den Beklagten.
Der Beklagte leistete dem 1992 geborenen J. K. seit dem 20. Februar 2002 Jugendhilfe nach § 35a SGB VIII. Mit Bescheid vom 30. Mai 2002 bewilligte er zunächst für 40 Stunden 31,00 Euro pro Stunde für eine Legasthenie-Einzelbehandlung. Mit Bescheiden vom 1. April 2003 und 6. Januar 2004 bewilligte er je weitere 20 Stunden Förderung.
Bei J. K. war auf Veranlassung der von ihm in der 3. Klasse besuchten Grundschule L. im Dezember 2001 eine umschriebene Lese-Rechtschreibschwäche (Legasthenie ICD 10 F 81.0) festgestellt worden. Eine besondere schulische Förderung im Rahmen von Förderkursen/unterricht wurde ihm zu dieser Zeit nicht -mehr - zuteil. Lediglich am Anfang der 1. Klasse erhielt er nach in den Akten befindlicher Stellungnahme der Schule Förderunterricht. Zur Begründung für das Fehlen von Förderunterricht gab die Schule an, seit Einführung der verlässlichen Grundschule zum Schuljahr 2001/2002 keine Förderstunden mehr zu erteilen.
Mit Bescheid vom 4. August 2003 leitete der Beklagte "den Anspruch der Eltern auf Förderung ihres Kindes gegenüber der Schulverwaltung" gemäß § 95 SGB VIII bis zur Höhe seiner Aufwendungen auf sich über. Zur Begründung gab er an, für die Behebung der Legasthenie bei J. K. sei primär die Zuständigkeit der Schule gegeben. Jugendhilfe sei gemäߧ 10 SGB VIII nachrangig. Sie komme nur in Betracht, wenn die Leistungen Dritter, insbesondere der Schule, ausgeschöpft worden seien. Sofern eine Förderung im Klassenverband nicht ausreiche, sei spezieller Förderunterricht in Kleingruppen vorzuhalten. Hieraufhätten die Eltern gemäß § 54 Abs. 1 Nds. Schulgesetz
-NSchG- einen Anspruch. Selbst wenn hieraus ein Anspruch nicht abzuleiten wäre, bestünde ein solcher aus Art. 3 Abs. 1 GG in Verbindung mit dem Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung. Der Kläger habe sich insoweit durch seinen Erlass vom 26. Juni 1979 zur Förderung von Schülern mit besonderen Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens und des Rechtschreibens gebunden. Die hierin vorgesehene Förderung werde J. K. an der Grundschule L. nicht zuteil.
Den hiergegen im Wesentlichen mit der Begründung eingelegten Widerspruch, es bestehe kein Rechtsanspruch auf schulische Förderung, so dass ein solcher auch nicht übergeleitet werden könne, wies der Beklagte mit Widerspruchsbescheid vom 6. Februar 2004 als unbegründet zurück.
Hiergegen hat der Kläger am 9. März 2004 Klage erhoben.
Zu deren Begründung trägt er vor, die Überleitungsanzeige leide an einem Begründungsmangel und§ 95 SGB VIII komme nicht zum Tragen, weil es sich bei der Legasthenietherapie um eine ambulante Maßnahme handele, die von§ 91 SGB VIII nicht erfasst werde. Schulische Maßnahmen könnten eine Legasthenietherapie nicht ersetzen. Ferner bestehe kein individuell einklagbarer Anspruch auf Förderunterricht. § 54 Abs. 1 NSchG enthalte lediglich einen entsprechenden Programmsatz, was aus der Formulierung deutlich werde, dass Unterschiede in den Bildungschancen nach Möglichkeit durch besondere Förderung der benachteiligten Schülerinnen und Schüler auszugleichen seien. Die Behauptung des Beklagten, es liege ein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG vor, der nicht belegt sei, vermöge den Nachweis nicht zu ersetzen, dass eine Norm subjektive Rechte einräume. Es könnten auch nicht an allen Schulen die gleichen Lernbedingungen herrschen. Eine Förderung des Schülers J. K. erfolge zudem ab dem 3. Schuljahr in Form der Binnendifferenzierung im Klassenverband. Ein sonderpädagogischer Förderbedarf sei bei ihm nicht festgestellt worden, da es sich bei der Legasthenie lediglich um eine Teilleistungsschwäche handele.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 4. August 2003 und dessen Widerspruchsbescheid vom 6. Februar 2004 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er meint, nur wenn der von ihm übergeleitete Anspruch offensichtlich nicht bestehe, seien die angefochtenen Bescheide rechtswidrig. Dies sei jedoch nicht der Fall. Bei dem Schüler J. K. sei durch mehrere Gutachten der Kinder- und Jugendpsychiatrie der Georg-August-Universität ein sonderpädagogischer Bedarf festgestellt worden. Die Schulverwaltung komme ihrer hieraus resultierenden Förderpflicht indes nicht nach. Anders sei dies z.B. an den Grundschulen in M. und N., an denen eine Legasthenieförderung stattfinde. Er gedenke, die Förderungspflicht durchzusetzen und wolle im Falle der Nichterfüllung Amtshaftungsklage erheben. Er gehe davon aus, dass die Leistungen der Jugendhilfe geringer ausfielen, wenn Förderunterricht erteilt werde.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf die zwischen den Beteiligten gewechselten Schriftsätze sowie die Verwaltungsvorgänge des Beklagten Bezug genommen. Diese Unterlagen sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Der Bescheid des Beklagten vom 4. August 2003 und dessen Widerspruchsbescheid vom 6. Februar 2004 sind rechtswidrig und verletzen den Kläger in seinen Rechten (§ 113 Abs. 1 Satzl VwGO).
Die gesetzlichen Voraussetzungen für eine Überleitung des streitbefangenen Anspruchs auf schulische Förderung, in Betracht kommt allein § 95 SGB VIII, liegen nicht vor.
Gemäß § 95 Abs. 1 SGB VIII kann der Träger der öffentlichen Jugendhilfe durch schriftliche Anzeige an denjenigen, gegen den eine der in § 91 SGB VIII genannten Personen für die Zeit, für die Jugendhilfe gewährt wird, einen Anspruch hat und der kein Leistungsträger im Sinne des§ 12 SGB I ist, bewirken, dass dieser Anspruch bis zur Höhe seiner Aufwendungen auf ihn übergeht. Gemäߧ 95 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII darf ein Anspruchsübergang nur insoweit bewirkt werden, als bei rechtzeitiger Leistung des anderen, hier also der Schulverwaltung, entweder Jugendhilfe nicht gewährt worden oder ein Kostenbeitrag zu leisten wäre.
Zwar gehören das schulpflichtige Kind J. K. und/oder seine Eltern zu dem in § 91 SGB VIII genannten Personenkreis und es ist nicht Voraussetzung für eine Überleitung nach § 95 Abs. 1 SGB VIII, dass auch die übrigen Tatbestandsvoraussetzungen des § 91 SGB VIII vorliegen. Auch hat der Beklagte die von § 95 SGB VIII verlangte Form der Überleitung eingehalten.
Die Überleitung des geltend gemachten Anspruchs scheitert jedoch einerseits daran, dass ein Anspruch auf schulische Förderung als Sachleistungsanspruch nicht überleitungsfähig ist (1.) und andererseits daran, dass die Voraussetzungen des § 91 Abs. 2 SGB VIII nicht erfüllt sind (2.).
1.
Der Überleitung steht entgegen, dass es sich bei dem Anspruch auf angemessene Beschulung um ein höchstpersönliches Recht des Schülers bzw. seiner Erziehungsberechtigten handelt, das vom Träger der Jugendhilfe offenkundig nicht wahrgenommen und deshalb nicht übergeleitet werden kann.
Dies ergibt sich schon aus dem Wortlaut der Bestimmung. Nach § 95 Abs. 1 SGB VIII geht der Anspruch bis zur Höhe der Aufwendungen des Trägers der Sozial- bzw. Jugendhilfe über. Durch diese Begrenzung der Überleitung der Höhe nach kommt zum Ausdruck, dass nur Ansprüche übergeleitet werden können, die auf eine Geldleistung gerichtet sind. Das ist bei dem Anspruch auf eine bestimmte Art der Beschulung jedoch nicht der Fall; ihn ist nicht einmal ein wirtschaftlicher, in Geld ausdrückbarer Wert beizumessen.
Auch die gesetzliche Folge der Überleitung schließt die Überleitung eines Anspruchs auf eine bestimmte Form der Beschulung auf den Träger der Jugendhilfe aus.
Durch die Überleitung nach § 95 SGB VIII rückt der Träger der Jugendhilfe wie bei einer Abtretung in die Stellung des Anspruchsberechtigten, ohne dass sich dadurch der Anspruch seinem Wesen oder seinem Inhalt nach ändert; es kommt mithin zu einer Gläubigerauswechslung (vgl. Schellhorn, SGB VIII, § 95 Rdnr. 20; Münder in: LPK-BSHG zu der inhaltsgleichen Vorschrift des § 90 BSHG Rdnr. 50). Wäre die Überleitung eines vermeintlichen schulrechtlichen Anspruchs zulässig, so könnte daher der Träger der Jugendhilfe von der Schulverwaltung allenfalls seine eigene Beschulung verlangen. Das ist offensichtlich sinnwidriges Ergebnis. Die Absicht des Beklagten, nach Überleitung des Anspruchs die besondere Förderung des Schülers J. K. von dem Kläger zu verlangen, geht von der irrigen Rechtsansicht aus, dass die Überleitung nicht zu einem Gläubigerwechsel führt, sondern die Wahrnehmung der Rechte Dritter, hier des Schülers, quasi im Wege einer Prozessstandschaft rechtfertigt. Dies ist indes nicht die Rechtsfolge der Überleitung eines Anspruchs nach§ 95 SGB VIII.
Eine Überleitung von Ansprüchen auf Naturalleistungen, wie die Beschulung, kommt daher allenfalls dann in Betracht, wenn ein solcher Anspruch in einen Geldanspruch umgewandelt ist (OLG Braunschweig, Beschluss vom 11.9.1995-2 W 118/95-, Nds.Rpfl. 1996, 93; Münder, a.a.O. Rdnr. 12). Dies ist hier ebenfalls nicht der Fall.
Dass die Überleitung des streitigen Anspruchs durch den Beklagten auf eine Geldleistung zielen soll, zeigt seine Klageerwiderung. Etwas missverständlich formuliert er, es habe ein Amtshaftungsanspruch des Hilfeempfängers bzw. seiner Eltern auf ihn, den Beklagten, übergeleitet werden sollen. Der Beklagte geht also offenbar davon aus, dass ihm ein solcher Anspruch zuwächst, wenn die für J. K. für angemessen gehaltene Beschulung vom Kläger nicht erbracht worden ist. Ein solcher Anspruch wäre indes kein umgewandelter Anspruch aus einem etwaigen Anspruch auf angemessene Bildung, sondern ein Anspruch sui generis, der vom Beklagten wiederum nicht übergeleitet worden ist.
2.
Die streitgegenständliche Überleitung ist zudem deshalb rechtswidrig, weil sie unter Verstoß gegen § 95 Abs. 2 Satz 1 SGB VIII erfolgt ist. Danach darf der Übergang nur insoweit bewirkt werden, als bei rechtzeitiger Leistung des anderen entweder Jugendhilfe nicht gewährt worden oder ein Kostenbeitrag zu leisten wäre.
Diese Formulierung ist nicht nur ein weiteres Indiz dafür, dass nur Geldleistungen übergeleitet werden können, sondern schließt auch für sich genommen, d.h. wenn man die Vorschrift auch auf Sachleistungen anwenden würde, eine Überleitung aus. Denn es lässt sich die von ihr vorausgesetzte kausale Verknüpfung zwischen einer angemessenen Beschulung von J. K. und der Leistung von wirtschaftlicher Jugendhilfe für die bei ihm durchgeführte Legasthenietherapie, für die der Beklagte materiell beweispflichtig ist, nicht herstellen. Es ist keineswegs sicher, dass der Beklagte von der Leistung wirtschaftlicher Jugendhilfe befreit wäre, wäre die Schulverwaltung einer angenommenen schulischen Förderungspflicht nachgekommen. In Anbetracht der zu erwartenden geringen Förderstundenzahl im Falle einer schulischen Förderung und der unterschiedlichen Ausrichtung der schulischen Förderung einerseits und der Legasthenietherapie andererseits hält es die Kammer vielmehr für unwahrscheinlich, dass die vom Beklagten erbrachten Jugendhilfeleistungen auch nur zu einem geringen Teil nicht angefallen wären, wenn der Kläger seiner angenommenen schulischen Förderungspflicht nachgekommen wäre. Auch der Beklagte äußert insofern nur eine nicht belegte Vermutung. Gegen sie spricht eindeutig der Umstand, dass der Beklagte in nicht unerheblichem Umfang auch solchen Schülern Leistungen der Legasthenietherapie gewährt, die nach seinem eigenen Vortrag Schulen besuchen, die eine besondere Förderung für Schüler mit Lese- Rechtschreibschwächen anbieten.
Die Kammer folgt aus den dargelegten Gründen deshalb nicht der in der Literatur gelegentlich vertretenen Auffassung, dass der Jugendhilfeträger schulrechtliche Förderungsansprüche auf sich überleiten könne, wenn die Schulverwaltung ihrer gemäߧ 10 Abs. 1 SGB VIII vorrangigen Förderungspflicht nicht nachkomme (vgl. Kunkel, Jugendhilfe bei Legasthenie?, ZfJ 1997, 315; Meysen, Die Kinder- und Jugendhilfe als Ausfallbürge bei schwerer Legasthenie und/oder Dyskalkulie, Jamt 2003, 53; Gutachten des Deutschen Vereins vom 21. Juni 2004 - G 13/04, NDV 2004, 323; nicht die Entscheidung tragend auch VGH Baden-Württemberg, Beschluss vom 14.1.2003 -9 S 2268/02-, NVwZ-RR 2003, 435).
Ohne dass es für die Entscheidung danach darauf ankommt, merkt die Kammer an, dass der vom Beklagten übergeleitete Anspruch auf Förderunterricht auch nach den einschlägigen schulrechtlichen Vorschriften offenkundig nicht bestehen dürfte (vgl. Galas/ Habermalz/Schmidt, NSchG, 3. Aufl. 1998, § 54 Anm. 1; Sederhelm/Nagel/ Brockmann, NSchG, § 54 Anm. 3.2; Wolff/Bachof/Stober, VerwR II, 5. Aufl. 1987, § 101 Rn. 51; aus der Rechtsprechung vgl. OVG Lüneburg, Beschluss vom 18.5.2000-13 L 549/00- FEVS 52, 140; OVG Koblenz, Beschluss vom 5.9.2000 -12 B 11355/02-, FEVS 54, 137; Urteil vom 16.7.2004 -12 A 10701/04-, JAmt 2004, 432; VGH Kassel, Beschluss vom 10.11.2004 -7 TG 1413/04-, FEVS 56, 152; OVG Berlin, Beschluss vom 30.9.2002 -8 S 88/02-, NVwZ-RR 2003, 35). Soweit sich der Beklagte neben der Regelung des § 54 Abs. 1 NSchG auf die einschlägige niedersächsische Erlasslage beruft, steht auch insoweit ein Förderungsanspruch unterdem Vorbehalt vorhandener, insbesondere personeller Ressourcen.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 Satz 2 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit stützt sich auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.