Verwaltungsgericht Göttingen
Urt. v. 12.05.2005, Az.: 2 A 320/04
angemessen; Aufenthalt; Barbetrag; Eingliederung; Eingliederungshilfe; Einkommen; Einkommenseinsatz; Einsatz; Freilassung; Heimaufenthalt; Heimpflege; Hilfe; Lebenslage; Mittel; Notlage; Pflegekasse; Rente; Sozialhilfe; Versicherter; Zahlung; Zuzahlung
Bibliographie
- Gericht
- VG Göttingen
- Datum
- 12.05.2005
- Aktenzeichen
- 2 A 320/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 50687
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 21 Abs 3 BSHG
- § 79 BSHG
- § 84 Abs 1 BSHG
- § 85 Abs 1 Nr 3 S 2 BSHG
- § 61 SGB 5
- § 62 SGB 5
- § 154 Abs 1 VwGO
- § 188 VwGO
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
Ein für längere Zeit in einem Heim untergebrachter Sozialhilfeempfänger kann nicht verlangen, dass der Zuzahlungsbetrag für Medikamente von seinem eingesetzten Einkommen freigelassen wird.
Tatbestand:
Der Kläger begehrt von dem Beklagten die Freilassung eines Betrages von 35,52 Euro aus seinem Renteneinkommen.
Der am ... geborene Kläger ist seelisch schwer behindert und erhält eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Seit August 2001 ist er im M. in N. stationär untergebracht. Er ist bei der AOK Niedersachsen krankenversichert. Der Beklagte gewährt ihm Eingliederungshilfe einschließlich eines erhöhten persönlichen Barbetrages und verlangt auf der anderen Seite den Einsatz seines gesamten Einkommens mit Ausnahme der Kosten für einen Selbstverteidigungskurs (Bescheid vom 01.04.2004) sowie der von dem Kläger zu erbringenden Haftpflichtversicherungsbeiträge (Bescheid vom 22.04.2004).
Am 14.05.2004 beantragte der Betreuer des Klägers bei dem Beklagten, weitere 35,52 Euro für das Jahr 2004 aus dem Renteneinkommen des Klägers freizulassen; es handelt sich dabei um die Zuzahlungen, die der Kläger gem. §§ 61, 62 SGB V in der seit dem 01.01.2004 geltenden Fassung für Medikamente zu erbringen hat und zu diesem Zeitpunkt bereits erbracht hatte. Der Beklagte lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 18.05.2004 mit der Begründung ab, alle Belastungen, die den Versicherten durch das Gesetz zur Modernisierung der gesetzlichen Krankenversicherung vom 14.11.2003 (BGBl. I S. 2190) auferlegt worden seien, seien keine besonderen Belastungen im Einzelfall, denn die gesamte Bevölkerung müsse sie tragen.
Den Widerspruch des Klägers vom 08.06.2004 wies das Niedersächsische Landesamt für Zentrale Soziale Aufgaben mit Widerspruchsbescheid vom 27.08.2004 als unbegründet zurück. Der Widerspruchsbescheid wird wie folgt begründet: § 38 BSHG in der ab 01.01.2004 geltenden Fassung sehe nicht mehr vor, dass vom Sozialhilfeträger Eigenanteile der Krankenversicherten zu übernehmen seien; diese seien gem. § 1 Abs. 1 der Regelsatzverordnung nunmehr Bestandteil der Regelsätze der Hilfe zum Lebensunterhalt; Hilfeempfänger, die in Einrichtungen untergebracht seien, würden allerdings nicht den vollen Regelsatz, sondern nur einen persönlichen Barbetrag (i. H. v. 30 % des Regelsatzes) erhalten, der für die Deckung der persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens zu verwenden sei; zu diesen Bedürfnissen gehöre auch der Zuzahlungsbetrag zu Krankenkosten; eine Berücksichtigung dieses Zuzahlungsbetrages als besondere Belastung bei der Anwendung der §§ 84, 85 BSHG würde dem Willen des Gesetzgebers zuwider laufen; im Übrigen würde der Kläger durch die Aufbringung dieser Mittel nicht in eine Notlage geraten.
Der Kläger hat am 17.09.2004 Klage erhoben, zu deren Begründung er vorträgt: Im Gegensatz zur Auffassung der Widerspruchsbehörde sei § 85 Abs. 1 Nr. 3 S. 2 BSHG die hier allein maßgebliche Rechtsnorm; der Kläger begehre nicht eine Leistung, sondern die Freilassung eines Betrages; als Heimbewohner könne er nicht frei wirtschaften, sondern sei auf die Angebote des Heimes und dessen Preisgestaltung angewiesen; der Barbetrag von 30 % des Regelsatzes sei ein gesetzlicher Mindestbetrag, der ggf. im Ermessenswege zu erhöhen sei; dieses Ermessen habe der Beklagte nicht ausgeübt.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Bescheid des Beklagten vom 18.05.2004 und den Widerspruchsbescheid des Niedersächsischen Landesamtes für Zentrale Soziale Aufgaben vom 27.08.2004 aufzuheben und den Beklagten zu verpflichten, dem Kläger entsprechend seinem Antrag vom 14.05.2004 aus der monatlichen Rente einen Betrag in Höhe der Zuzahlung nach § 61 SGB V von 35,52 Euro für das Jahr 2004 frei zu lassen.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er wiederholt und vertieft die Gründe der ablehnenden Bescheide und trägt ergänzend vor, der Kläger sei nach Bekanntwerden des Urteils des Bundesverwaltungsgerichts vom 08.07.2004 - 5 C 42.03 - (NJW 2005, S. 167) gebeten worden mitzuteilen, ob bei ihm eine außergewöhnliche, vom Regelfall abweichende, nicht nur einmalige besondere Bedarfslage bestanden habe, damit über seinen Widerspruch entschieden werden könne.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten wird auf die zwischen ihnen gewechselten Schriftsätze und auf den Verwaltungsvorgang des Beklagten Bezug genommen. Die Unterlagen waren Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist zulässig, aber unbegründet. Dem Kläger steht der geltend gemachte Anspruch nicht zu.
Empfänger von Sozialhilfe in besonderen Lebenslagen (wozu die dem Kläger gewährte Eingliederungshilfe gehört), haben gem. §§ 84, 85 BSHG - in der bis zum 31.12.2004 gültigen, hier maßgeblichen Fassung - ihr Einkommen einzusetzen. Im Einzelnen bestimmt § 84 Abs. 1 BSHG, dass die Aufbringung der Mittel in angemessenen Umfang zuzumuten ist, soweit das zu berücksichtigende Einkommen die maßgebende Einkommensgrenze übersteigt, und dass bei dieser Prüfung vor allem die Art des Bedarfs, die Dauer und die Höhe der erforderlichen Aufwendungen sowie besondere Belastungen des Hilfesuchenden und seiner unterhaltsberechtigten Angehörigen zu berücksichtigen sind. § 85 Abs. 1 Nr. 3 BSHG regelt ergänzend, die Aufbringung der Mittel könne, auch soweit das Einkommen unter der Einkommensgrenze liegt, verlangt werden, soweit (unter anderem) bei der Hilfe in einem Heim Aufwendungen für den häuslichen Lebensunterhalt erspart werden; darüber hinaus soll in angemessenen Umfang die Aufbringung der Mittel verlangt werden von Personen, die auf voraussichtlich längere Zeit Pflege in einer Anstalt, einem Heim oder einer gleichartigen Einrichtung bedürfen, solange sie nicht einen anderen überwiegend unterhalten.
Die Regelung in § 85 Abs. 1 Nr. 3 S. 2 BSHG lässt bei alleinstehenden Hilfeempfängern, die sich - wie der Kläger - für längere Zeit in einer Einrichtung aufhalten, den Zugriff auf das gesamte Einkommen des Hilfeempfängers zu. Durch diese Ausnahme vom Schutzgedanken des § 79 des Gesetzes soll vermieden werden, dass der Hilfeempfänger durch den Heimaufenthalt den Lebensunterhalt abgedeckt erhält, den er zu Hause selbst bestreiten müsste; der Sinn der in den Sätzen 1 und 2 behandelten Regelungen liegt in der Beachtung der tatsächlichen Belastungen, die auf dem Bedürftigen bzw. seiner Einkommensgemeinschaft liegen: So müssten z. B. zur Leistungserbringung vollstationär untergebrachte Kranke oder Pflegebedürftige die Kosten weiter bestreiten, die während ihrer Abwesenheit im fortgeführten Haushalt entstehen. Für Alleinstehende, die (nach längerem Heimaufenthalt) einen solchen Haushalt nicht mehr unterhalten, gilt dies hingegen nicht. Andererseits muss gesichert sein, dass der Hilfeempfänger einen Barbetrag (Taschengeld) zur freien Verfügung erhält (vgl. dazu Krahmer in LPK- BSHG, 6. Auflage, § 85, Rn. 8 und 17). Das Bundesverwaltungsgericht hat zu diesem Themenkomplex mit Urteil vom 06.04.1995 - 5 C 9.93 - ( NJW 1995, S. 3135) rechtsgrundsätzlich Folgendes ausgeführt:
„Das Bundessozialhilfegesetz verwendet den Begriff des angemessenen Umfangs nicht nur in § 85 Nr. 3 S. 2, sondern auch in § 84 Abs. 1 S. 1, um die Höhe der Eigenbeteiligung des Hilfesuchenden näher zu bestimmen. Zu der letztgenannten Vorschrift hat der erkennende Senat in seinem Urteil vom 26.10.1989 (Buchholz 436.0 § 84 BSHG Nr. 1 S. 2 f; NVwZ 1990, 370 f) bereits entschieden, dass das Tatbestandsmerkmal „in angemessenem Umfang“ ein unbestimmter Rechtsbegriff ist, der der Behörde keinen Beurteilungsspielraum einräumt, vielmehr der uneingeschränkten verwaltungsgerichtlichen Überprüfung unterliegt. Für das wortgleiche Tatbestandsmerkmal in § 85 Nr. 3 S. 2 BSHG kann nichts anderes gelten (vgl. auch Senatsbeschluss vom 07.04.1995 - BVerwG 5 B 36.94 -).
Wie der Senat ebenfalls schon entschieden hat, sind für die Auslegung und Anwendung von § 85 Nr. 3 S. 2 BSHG auch die in § 84 Abs. 1 S. 2 BSHG beispielhaft genannten Angemessenheitskriterien heranzuziehen (...): Bei der Prüfung, in welchem Umfang die Aufbringung der Mittel angemessen ist, sind vor allem die Art des Bedarfs, die Dauer und Höhe der erforderlichen Aufwendungen sowie besondere Belastungen des Hilfesuchenden und seiner unterhaltsberechtigten (vom Hilfesuchenden nicht überwiegend unterhaltenen, vgl. § 85 Nr. 3 S. 2 BSHG) Angehörigen zu berücksichtigten. Dabei sind die besonderen Verhältnisse des Einzelfalles in den Blick zu nehmen (vgl. § 3 Abs. 1 BSHG). Bei Auslegung und Anwendung von § 85 Nr. 3 S. 2 BSHG ist ferner zu beachten, dass der Gesetzgeber den Einsatz von Einkommen unterhalb der Einkommensgrenze zwar im Grundsatz nur unter den in § 85 Nr. 1, 2 und 3 S. 1 BSHG näher bestimmten, eng umgrenzten Voraussetzungen für zulässig erklärt hat, die Einsatzpflicht in Fällen einer voraussichtlich längeren Anstalts- oder Heimpflege jedoch deutlich erweitern wollte. Die Sollvorschrift in § 85 Nr. 3 S. 2 BSHG will nämlich vermeiden, dass dem Hilfesuchenden (Hilfeempfänger) daraus ein wirtschaftlicher Vorteil erwächst, dass er auf Kosten der Allgemeinheit in einer seinen Lebensunterhalt und seine umfassende Betreuung sicherstellenden Weise untergebracht ist (vgl. Bundesverwaltungsgericht, Buchholz 436.0 § 85 BSHG Nr. 7 S. 4 f.). Deshalb kann bei einer dauerhaften, umfassenden Heimbetreuung, wie sie der Kläger seit Juli 1990 in einem Altenpflegeheim erhielt, die volle Heranziehung des Einkommens angemessen sein, wenn der nach § 21 Abs. 3 BSHG zu gewährende Barbetrag ausreicht, um die persönlichen Bedürfnisse des täglichen Lebens zu befriedigen, und der Hilfesuchende (Hilfeempfänger) keine besondere finanziellen Belastungen zu tragen hat, die eine (teilweise) Freilassung seines Einkommens erforderlich machen oder doch zumindest rechtfertigen.“
Das Gericht folgt dieser Rechtsprechung. Damit ist zunächst klargestellt, dass das Gericht nicht - wie der Kläger aber wohl meint - eine Ermessenentscheidung des Beklagten zu überprüfen, sondern selbst in der Sache zu beurteilen hat, ob die vom Kläger begehrte Freilassung des Zuzahlungsbetrages gem. §§ 61, 62 SGB V in Höhe von 35,52 € angemessen ist. Auf Begründungsmängel in dem Widerspruchsbescheid - auf die der Kläger aufmerksam gemacht hat - kommt es deshalb nicht an. In der Sache pflichtet die Kammer dem Beklagten darin bei, dass es angemessen ist, das Renteneinkommen des Klägers - unter Erhöhung des Barbetrages gem. § 21 Abs. 3 S. 4 BSHG, die hier vorgenommen wurde - in voller Höhe heranzuziehen und dass der Kläger die begehrte Freilassung deshalb nicht verlangen kann, weil die seit dem 01.01.2004 geltende Zuzahlungspflicht nicht nur ihn, sondern alle Krankenversicherten trifft und deshalb für den Kläger keine besondere Belastung darstellt. Auch die - von dem Kläger sinngemäß geäußerte - Idee, es könne sich bei dem Zuzahlungsbetrag seinerseits um einen Sozialhilfebedarf handeln, ändert daran nichts, denn es ist streng zwischen Bedarfs- und Einkommensseite zu unterscheiden, was aus der Systematik des Gesetzes folgt (vgl. BVerwG, Urteil vom 14.11.2002 - 5 C 27.01 - DÖV 2003, S. 505).
Denkbar erscheint allenfalls, dass der Kläger eine Erhöhung des ihm gem. § 21 Abs. 3 BSHG gewährten Barbetrages um monatlich 1/12 von 35,52 € = 2,96 € verlangen kann. Diese Frage ist jedoch nicht Gegenstand des vorliegenden Rechtsstreits (obwohl das Klagevorbringen sich auch damit beschäftigt); vielmehr ist oder war diesbezüglich wohl ein weiteres Verfahren anhängig - worauf der Vortrag des Beklagten hindeutet -, bei dem auch das von dem Beklagten angeführte Urteil des BVerwG vom 08.07.2004 Berücksichtigung zu finden hätte.
Die Kostenentscheidung folgt aus §§ 154 Abs. 1, 188 S. 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.