Verwaltungsgericht Oldenburg
Urt. v. 02.03.2012, Az.: 6 A 2242/10

Altersteilzeit; Rückwirkung; Schwerbehinderung

Bibliographie

Gericht
VG Oldenburg
Datum
02.03.2012
Aktenzeichen
6 A 2242/10
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2012, 44422
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Zur Frage, ob bei der Gewährung von Alterteilzeit die rückwirkende Anerkennung der Schwerbehinderteneigenschaft zu berücksichtigen ist.

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung des Bescheides vom 16. Juli 2010 verpflichtet, den Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Altersteilzeit zum 1. August 2009 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.

Tatbestand:

Die Klägerin begehrt die Bewilligung von Altersteilzeit ab 1. August 2009.

Die am 18. März 19... geborene Klägerin ist als beamtete Lehrkraft im niedersächsischen Landesdienst tätig. Mit Schreiben vom 30. Januar 2009 stellte sie bei der Beklagten einen Antrag auf die Bewilligung von Altersteilzeit für Lehrkräfte im Beamtenverhältnis.

Mit Schreiben vom 6. April 2009 erklärte die Beklagte: Da die Klägerin das 59. Lebensjahr erst am 18. März 2012 vollenden werde, gehöre sie nicht zu den Lehrkräften, denen grundsätzlich zum 1. August 2009 Altersteilzeit bewilligt werden könne. Lehrkräften, die das 55. Lebensjahr vollendet hätten, könne Altersteilzeit gewährt werden, wenn sie schwerbehindert mit mindestens einem Grad der Behinderung von 50 oder begrenzt dienstfähig seien. Aus den vorliegenden Unterlagen gehe jedoch nicht hervor, dass die Klägerin zu diesem Personenkreis gehöre.

Mit Schreiben vom 24. Mai 2009 machte die Klägerin geltend, dass das Verfahren bezüglich der Einstufung ihrer Schwerbehinderung noch nicht abgeschlossen sei. Bedingt durch ihren Widerspruch stünden noch weitere Untersuchungen an, so dass diese Entscheidung erst noch abgewartet werden müsse. Ihren Antrag auf die Bewilligung von Altersteilzeit aus Gründen der Schwerbehinderung wolle sie bis zur endgültigen Entscheidung über den Grad ihrer Schwerbehinderung aufrecht erhalten. Diesem Schreiben legte die Klägerin eine Bescheinigung des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie vom 20. April 2009 bei. Daraus geht hervor, dass der Grad ihrer Behinderung ab 1. Februar 2009 40 beträgt.

Mit Bescheid vom 16. Juli 2010 lehnte die Beklagte den Antrag der Klägerin auf Bewilligung von Altersteilzeit zum 1. August 2009 ab. Sie - die Klägerin - erfülle die Voraussetzungen von § 9 Abs. 1 ArbZVO-Lehr nicht. Da sie das 59. Lebensjahr erst am 18. März 2012 vollenden werde, gehöre sie nicht zu den Lehrkräften, denen grundsätzlich zum 1. August 2009 letztmalig Altersteilzeit bewilligt werden könne. Auch sei sie nicht mit mindestens einem Grad der Behinderung von 50 schwerbehindert oder begrenzt dienstfähig.

Mit Schreiben vom 16. August 2010 teilte die Klägerin der Beklagten mit, es sei nicht vorhersehbar gewesen, dass der Zeitaufwand durch das Landesamt für Soziales und das Sozialgericht Oldenburg die vorgegebenen Termine nicht habe wahren lassen. Zurzeit sei die Einstufung in den Grad der Behinderung noch nicht endgültig entschieden. Sie habe mittlerweile einen Grad der Behinderung von 50. Unklar sei noch der Tag der Gültigkeit.

Die Klägerin hat am 2. September 2010 Klage erhoben, mit der sie ihr Begehren weiterverfolgt.

Im gerichtlichen Verfahren legte die Klägerin ein Schreiben des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie an das Sozialgericht Oldenburg zum dortigen Verfahren mit dem Aktenzeichen S 1 SB 393/09 vom 27. September 2010 vor. In diesem Schreiben teilte es dem Sozialgericht Oldenburg mit, dass für die Klägerin der Grad der Behinderung ab März 2008 insgesamt mit 50 festgestellt werde.

Die Klägerin beantragt,

die Beklagte unter Aufhebung des Bescheides vom 16. Juli 2010 zu verpflichten, ihren Antrag auf Bewilligung von Altersteilzeit zum 1. August 2009 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu bescheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Sie macht geltend, die Klägerin habe am 1. August 2009 die Bewilligungsvoraussetzungen nicht erfüllt. Insbesondere habe sie nicht durch die Vorlage eines entsprechenden Bescheides nachgewiesen, dass sie zu diesem Zeitpunkt einen Grad der Behinderung von 50 gehabt habe. Einen entsprechenden Bescheid habe sie erst nachträglich vorgelegt. Dieser könne jedoch im vorliegenden Verfahren keine Berücksichtigung mehr finden. Der Anspruch auf die Bewilligung von Altersteilzeit sei auf die Zukunft gerichtet und nicht auf eine rückwirkende Gewährung. Daher müsse sie bei ihrer Entscheidung auf den letztmöglichen Bewilligungszeitpunkt der Altersteilzeit abstellen. Dieses sei der 1. August 2009 gewesen. Darüber hinaus müsse für den Dienstherrn hinsichtlich der Anzahl der Altersteilzeitfälle Planungssicherheit bestehen. Diese könne ebenfalls nur in die Zukunft ausgerichtet sein. Im Bescheid vom 16. Juli 2010 sei daher richtigerweise darauf hingewiesen worden, dass kein Bescheid, der einen Grad der Behinderung von 50 ausweise, vorgelegen habe. Zudem sei eine rückwirkende Umsetzung der Altersteilzeit aus organisatorischen Gründen nicht möglich. Schließlich hätte eine Bewilligung von Altersteilzeit zum jetzigen Zeitpunkt zur Folge, dass die Klägerin eine hohe Anzahl von Unterrichtsstunden zuviel geleistet hätte. Ein Einstieg in das Teilzeitmodell sei darum auch durch Zeitablauf nicht mehr möglich.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge ergänzend Bezug genommen. Sie sind Gegenstand der mündlichen Verhandlung gewesen.

Entscheidungsgründe

Die Klage hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Der Ablehnungsbescheid der Beklagten vom 16. Juli 2010 ist rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten. Sie hat Anspruch auf Aufhebung dieses Bescheides und auf die Neubescheidung ihres Antrages auf Bewilligung von Altersteilzeit zum 1. August 2009 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts (§ 113 Abs. 5 Satz 2 VwGO).

Für die Prüfung der Frage, ob der Klägerin der Anspruch auf Bewilligung von Altersteilzeit zusteht, ist auf die Sach- und Rechtslage abzustellen, die zum Zeitpunkt des Beginns der begehrten Altersteilzeit bestanden hat (BVerwG, Urteil vom 29. April 2004 - 2 C 21.03 - sowie OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Juli 2010 - 5 LA 435/08 -, jeweils zitiert nach juris). Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass sich der Antrag der Klägerin vom 30. Januar 2009 auf die Bewilligung von Altersteilzeit zum 1. August 2009 richtete. Somit ist die Sach- und Rechtslage zu diesem Zeitpunkt maßgeblich.

Nach § 63 Abs. 1 NBG in der Fassung, die am 1. August 2009 galt, kann Beamtinnen und Beamten mit Dienstbezügen auf Antrag, der sich auf die Zeit bis zum Beginn des Ruhestandes erstrecken muss, eine altersabhängige Teilzeitbeschäftigung (Altersteilzeit) bewilligt werden, bei teilzeitbeschäftigten und begrenzt dienstfähigen Beamtinnen und Beamten (§ 27 BeamtStG) mit der Hälfte der zuletzt festgesetzten Arbeitszeit, sonst mit der Hälfte der regelmäßigen Arbeitszeit, höchstens jedoch mit der Hälfte der durchschnittlichen Arbeitszeit der letzten drei Jahre, wenn

1. sie das 55. Lebensjahr vollendet haben,

2. die Altersteilzeit vor dem 1. Januar 2010 beginnt,

3. die Altersteilzeit zum Abbau eines Personalüberhangs beiträgt und

4. dringende dienstliche Belange nicht entgegenstehen.

Lehrkräften an öffentlichen Schulen darf Altersteilzeit abweichend von Satz 1 Nrn. 1 und 3 nach Vollendung des 59. Lebensjahres bewilligt werden.

Durch § 63 Abs. 3 NBG wird die Landesregierung ermächtigt, durch Verordnung für Lehrkräfte an öffentlichen Schulen von den Absätzen 1 und 2 abweichende Vorschriften zu erlassen, die

1. den Umfang, den Beginn und die Dauer der Altersteilzeit unter Berücksichtigung der organisatorischen Besonderheiten der Unterrichtserteilung und des Schuljahres festlegen und

2. die Bewilligung der Altersteilzeit in Form des Teilzeit- oder Blockmodells regeln.

Von dieser Verordnungsermächtigung machte die Landesregierung mit der Verordnung über die Arbeitszeit der Lehrkräfte an öffentlichen Schulen (ArbZVO-Lehr in der Fassung, die am 1. August 2009 galt) Gebrauch.

Nach § 9 Abs. 1 Satz 1 ArbZVO-Lehr kann Altersteilzeit nach § 63 NBG Lehrkräften zu folgenden Anfangszeitpunkten bewilligt werden:

1. nach Vollendung des 56. Lebensjahres zum 1. Februar 2004,

2. nach Vollendung des 59. Lebensjahres zum 1. August 2004 und zum 1. Februar oder 1. August der folgenden Jahre, spätestens zum 1. August 2009.

Nach § 9 Abs. 1 Satz 2 ArbZVO-Lehr kann schwerbehinderten Lehrkräften mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 50 und Lehrkräften mit begrenzter Dienstfähigkeit Altersteilzeit zu allen in Satz 1 genannten Anfangszeitpunkten bereits nach Vollendung des 55. Lebensjahres bewilligt werden.

Zutreffend stellte die Beklagte im angefochtenen Bescheid vom 16. Juli 2010 fest, dass die Klägerin nicht Anspruch auf die Bewilligung von Altersteilzeit zum 1. August 2009 auf der Grundlage von § 9 Abs. 1 Satz 1 ArbZVO-Lehr hat. Denn die am 18. März 1953 geborene Klägerin hatte zu diesem Zeitpunkt das 59. Lebensjahr noch nicht vollendet.

Allerdings zählte die Klägerin zu diesem Zeitpunkt zum Personenkreis der schwerbehinderten Lehrkräfte mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 50. Das Vorliegen dieser Anspruchsvoraussetzung wies die Klägerin durch die Vorlage eines Schreibens des Niedersächsischen Landesamtes für Soziales, Jugend und Familie vom 27. September 2010 an das Sozialgericht Oldenburg zum dortigen Verfahren mit dem Aktenzeichen S 1 SB 393/09 nach. In diesem Schreiben teilte das genannte Landesamt dem Sozialgericht Oldenburg mit, dass die Klägerin über einen Grad der Behinderung von insgesamt 50 ab März 2008 verfüge.

Der Umstand, dass diese Feststellung erst nach dem 1. August 2009 getroffen wurde und ein entsprechender Feststellungsbescheid an diesem Tag noch nicht vorlag, steht dem Anspruch der Klägerin nicht entgegen. Wie dargestellt, ist maßgeblich auf die Sach- und Rechtslage am 1. August 2009 abzustellen. Zu diesem Zeitpunkt verfügte sie über die Feststellung des Grades der Schwerbehinderung von 50.

Entgegen der Auffassung der Beklagten ist es nicht erforderlich, dass die Schwerbehinderung mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 50 durch Bescheid festgestellt ist oder dass der entsprechende Feststellungsbescheid bereits am 1. August 2009 bei ihr vorgelegen haben muss (offen gelassen vom Verwaltungsgericht Osnabrück, Urteil vom 21. Juni 2006 - 3 A 202/05 -). Ein solches Erfordernis stellt weder § 63 NBG noch § 9 Abs. 1 ArbZVO-Lehr auf. Nach § 9 Abs. 1 ArbZVO-Lehr reicht es aus, dass es sich um eine schwerbehinderte Lehrkraft mit einem Grad der Behinderung von wenigstens 50 handelt. Dass dieser Umstand durch Bescheid festgestellt worden sein muss, fordert die Regelung ebenso wenig wie, dass ein entsprechender Feststellungsbescheid bei der Bewilligungsbehörde vorgelegt werden muss. Nach der gesetzlichen Regelung reicht allein ein Grad der Behinderung von wenigstens 50 aus. Die Auffassung der Beklagten findet daher weder im NBG noch in der ArbZVO-Lehr eine Stütze.

Das Gericht verkennt nicht, dass die hier vertretene Auffassung die Planung des Personaleinsatzes erschweren kann und dass eine rückwirkende Umsetzung der Altersteilzeit aus organisatorischen Gründen oftmals schwierig sein wird. Gleichwohl bleibt es bei der Feststellung, dass die Auffassung der Beklagten weder im NBG noch in der ArbZVO-Lehr eine Stütze findet. Es wäre dem Gesetz- bzw. Verordnungsgeber durchaus möglich gewesen, ein entsprechendes Erfordernis aufzunehmen. Dies hat er jedoch unterlassen, obwohl sowohl dem Gesetz- als auch dem Verordnungsgeber bekannt gewesen ist, dass die Verfahren zur Anerkennung als Schwerbehinderter nicht selten längere Zeit in Anspruch nehmen können. Dieses Verfahren setzt nämlich zunächst eine Antragstellung der betreffenden Person voraus (§ 69 Abs. 1 SGB IX). Über diesen Antrag muss sodann die zuständige Behörde, das Niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie, entscheiden. Möglicherweise schließt sich daran ein Widerspruchs- und ggf. ein Klageverfahren an (§ 78 SGG).

Die mit der nachträglich zu gewährenden Altersteilzeit einhergehenden Schwierigkeiten der Rückabwicklung, beispielweise weil die Klägerin bisher mehr Unterrichtsstunden geleistet hat, als sie nach ihrem Altersteilzeitantrag hätte leisten müssen, sind die üblichen Schwierigkeiten, die mit einer nachträglichen Gewährung einhergehen. Solche Schwierigkeiten führen nicht dazu, dass der grundsätzlich bestehende Anspruch nach § 9 Abs. 1 ArbZVO-Lehr wieder entfällt oder durch Zeitablauf erlischt. Der vorliegende Rechtsstreit hat sich daher auch nicht durch Zeitablauf erledigt. Zwar kann nach § 9 Abs. 1 ArbZVO-Lehr die Altersteilzeit spätestens zum 1. August 2009 bewilligt werden und dieser Zeitpunkt ist verstrichen. Eine Bewilligung der Gewährung von Altersteilzeit wirkt jedoch zurück (OVG Lüneburg, Beschluss vom 26. Juli 2010 - 5 LA 435/08 -, a.a.O.).

Da die Gewährung von Altersteilzeit gemäß § 9 Abs. 1 ArbZVO-Lehr im Ermessen ("kann") steht, war die Beklagte zu verpflichten, über den Antrag der Klägerin auf die Bewilligung von Altersteilzeit zum 1. August 2009 unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts erneut zu entscheiden. Im Rahmen der Ermessensausübung wird insbesondere zu berücksichtigen sein, wie die Altersteilzeit in zeitlicher Hinsicht ausgestaltet werden kann, um den jeweiligen Interessen der Beteiligten gerecht zu werden. Es wird zudem zu klären sein, ob Altersteilzeit im Block- oder im Teilzeitmodell bewilligt werden kann.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit der Kostenentscheidung ergibt sich aus § 167 Abs. 2 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.