Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 17.10.1995, Az.: 5 U 134/92

Haftung der Beklagten wegen einer fehlerhaften Vorbereitung und Durchführung der Entbindung; Maßgebliche Aussagen eines Sachverständigen ; Einstandspflicht infolge unzureichender Aufklärung; Behandlungsalternative einer Kaiserschnittentbindung; Beurteilung einer fehlerfreien Versorgung

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
17.10.1995
Aktenzeichen
5 U 134/92
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1995, 28966
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1995:1017.5U134.92.0A

Fundstelle

  • MDR 1996, 1133-1134 (Volltext mit amtl. LS)

Amtlicher Leitsatz

  1. 1)

    Auch bei Mehrfachgebärenden hat der Arzt bei Beckenendlagen auf die Möglichkeit eines Kaiserschnitts hinzuweisen.

  2. 2)

    Diese Aufklärungspflicht bestand bereits Mitte der 80er Jahre.

Tenor:

Die Berufung ist zulässig. In der Sache hat sie keinen Erfolg.

Lediglich die landgerichtliche Urteilsformel war durch Neufassung des ersten Absatzes richtig zu stellen.

Gründe

1

I.

Das Landgericht hat aufgrund sachverständiger Beratung eine Haftung der Beklagten wegen einer fehlerhaften Vorbereitung und Durchführung der Entbindung verneint. Das wird von der Berufungserwiderung nicht angegriffen. Sie beschränkt sich lediglich darauf, die vom Landgericht bejahte Einstandspflicht infolge unzureichender Aufklärung über die von vornherein bestehende Behandlungsalternative einer Kaiserschnittentbindung zu verteidigen.

2

Es kann dahinstehen, ob die erstinstanzliche sachverständige Beratung bereits die endgültige Beurteilung einer fehlerfreien Versorgung zulässt. Immerhin könnte noch offen geblieben sein, inwiefern eine nicht zu empfehlende Sprengung der Fruchtblase (noch) vertretbar gewesen sein kann und warum angesichts der in jedem Fall bestehenden Risikosituation und dadurch bedingten "erhöhten Alarmbereitschaft, d. h. Sectiobereitschaft" eine Zeitspanne vom Geburtsstillstand bis zum Schnitt von bis zu 30 Minuten noch hinnehmbar sein soll.

3

II.

Jedenfalls hat das Landgericht mit zutreffender Begründung angenommen, dass dem Beklagten zu 1) eine Aufklärungspflichtverletzung zur Last zu legen ist, so dass sich die Einleitung einer vaginalen Geburt ohne rechtswirksame Einwilligung der Mutter als rechtswidrig erweist. Insoweit kann zunächst auf die Urteilsgründe des Landgerichts (LGU 6, 7) verwiesen und von einer rein wiederholenden Darstellung abgesehen werden.

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Die Beklagten können sich demgegenüber nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Sachverständige die Planung einer vaginalen Geburt als mit der Schulmedizin vereinbar bezeichnet hat. Dies bedeutet zunächst nur, dass ein solches Vorgehen nicht fehlerhaft ist. Es sagt aber nichts darüber aus, ob die Durchführung einer Sectio caesarea eine gleichwertige Behandlungsalternative mit prinzipiell anderen Risiken ist, über die eine Patientin aufzuklären ist. Diese Aufklärung ist schon immer dann zu verlangen, wenn deutliche Anzeichen dafür bestehen, dass im weiteren Verlauf eines Entbindungsvorganges eine Situation eintreten kann, in der eine normale vaginale Entbindung kaum noch in Betracht kommt. Stellt in der konkreten Situation die Schnittentbindung eine medizinisch verantwortbare Alternative dar, so muss der geburtsleitende Arzt die Mutter bereits zu einem Zeitpunkt, in dem sie von ihrem Selbstbestimmungsrecht noch wirksam Gebrauch machen kann, über die unterschiedlichen Entbindungsmethoden aufklären; für Beckenendlagen ist eine solche Aufklärung von der Rechtsprechung anerkannt (vgl. BGHZ 106, 153 = NJW 1989, 1538 f; BGH VersR 1993, 703 und 1992, 237; OLG Braunschweig VersR 1988, 382). Damit übereinstimmend hat auch der Sachverständige in seinem schriftlichen Gutachten ausgeführt, dass eine Geburt aus einer Beckenendlage grundsätzlich als Risikogeburt anzusehen ist, die ihre speziellen Gefahren für die Gesundheit des Kindes, insbesondere auch die Gefahr einer Asphyksie in sich birgt, die durch eine Schnittentbindung vermieden wird.

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Sowohl aus den Angaben des Sachverständigen als auch aus der von den Beklagten vorgelegten medizinischen Literatur ergibt sich, dass auch bereits Mitte der 80-er Jahre ein wesentlicher Anteil der Geburten aus Beckenendlagen deshalb durch Kaiserschnittentbindungen erfolgt ist und dass die Frage, welcher Geburtsweg vorzugswürdig sei, unterschiedlich beantwortet wurde. Drohten aber bei vaginaler Geburt der Klägerin dementsprechende ernstzunehmende Gefahren, so sprachen in ihrem Interesse gewichtige Gründe für eine Kaiserschnittentbindung. Diese stellte auch unter Berücksichtigung der Konstitution und Befindlichkeit der Mutter in der konkreten Situation eine medizinisch verantwortbare Alternative dar. Der Beklagte zu 1) durfte daher sich nicht eigenmächtig für den Versuch einer vaginalen Geburt mit anschließender Sectio caesarea im Falle eines Geburtsstillstandes entscheiden. Von der Verpflichtung, sich für dieses Vorgehen die Einwilligung der Mutter der Klägerin nach entsprechender vollständiger Aufklärung einzuholen, war er auch nicht deswegen befreit, weil sie bereits zwei Kinder zur Welt gebracht hatte. Wenn auch bei Mehrfachgebärenden eine Steißgeburt vaginal durchgeführt werden kann und auch wird, und bei der Mutter der Klägerin zunächst keine Kontraindikation dafür bestand, so werden doch die spezifischen Risiken einer Spontanentbindung der Steißlage dadurch nicht ausgeschlossen oder zumindest so herabgesetzt, dass von einer normalen Entbindungssituation ausgegangen werden kann, bei der die Möglichkeit einer Schnittentbindung vom geburtsleitenden Arzt nicht von sich aus angesprochen zu werden braucht (vgl. BGH NJW 1989, 1539).

6

Der dafür gegebene Anlass bestand nach wie vor. Allein die von der Beklagten angesprochene Gefahr von Wundheilungsstörungen bei der Mutter aufgrund ihres nicht unerheblichen Übergewichts macht die Schnittentbindung angesichts der Risiken für das Kind bei vaginaler Entbindung nicht zu einer ungleichwertigen nicht aufklärungsbedürftigen Behandlungsalternative.

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Die Beklagten können des Weiteren nicht mit Erfolg einwenden, diese Rechtsprechung habe sich erst nach der Geburt der Klägerin entwickelt, so dass der Beklagte zu 1) die Aufklärung jedenfalls nicht schuldhaft unterlassen habe. Diese andere Auffassung beruht nämlich nicht auf einer - gegenüber der späteren - anderen Rechtsprechung, was einen unvermeidbaren Verbotsirrtum begründen könnte, sondern darauf, dass die Praxis der Entbindungen aus Beckenendlagen sich geändert hatte. Deshalb hat das Oberlandesgericht Hamm in der Entscheidung vom 28.9.1982 (VersR 1983, 565) hinsichtlich einer Entbindung im Jahre 1975, als nur "ein kleiner Kreis von Geburtshelfern" eine Entbindung durch Kaiserschnitt vornahm, eine Aufklärungspflicht verneint. Hingegen hat die Rechtsprechung auch vorher schon verlangt, dass über gleichwertige alternative Behandlungsmethoden mit andersartigen Risiken aufzuklären ist (vgl. BGH VersR 80, 1145; VersR 81, 532; VersR 82, 771; VersR 84, 470).

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Die Beklagten haben nicht ausreichend dargelegt, dass der Beklagte zu 1) die Mutter der Klägerin entsprechend diesen Grundsätzen aufgeklärt hat.

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Zunächst ergibt sich aus dem Vorbringen der Klägerin entgegen der Auffassung der Beklagten eine Aufklärung nicht. Die Klägerin hat zwar in erster Linie vorgetragen, mit dem Beklagten zu 1) über die Möglichkeit einer Schnittentbindung gesprochen zu haben, dies aber vor dem Hintergrund, dass sie anfangs einer vaginalen Entbindung skeptisch gegenüber stand, weil ihr erstes Kind durch Vakuumextraktion geboren worden war und auch bei der Geburt ihres zweiten Kindes eine Saugglocke bereitgestanden hatte. dass ihr die Risiken einer vaginalen Geburt aus der Beckenendlage erläutert worden wären, hat sie gerade bestritten. Nur die Aufklärung über die Risiken beider Methoden, also auch der bei vaginaler Geburt für das Kind vorhandenen Risiken, ließe aber die Rechtswidrigkeit des Eingriffs entfallen.

10

Die Beklagten haben in erster Instanz nicht behauptet, die Mutter der Klägerin über das Für und Wider der vaginalen und der Schnittentbindung aufgeklärt zu haben. Den Schriftsätzen vom 27.5.1992 und 13.7.1992, in denen die Beklagten lediglich eine Pflicht zur Aufklärung verneinen, könnte sogar entnommen werden, dass eine Aufklärung nicht erfolgt ist. Dem Schriftsatz vom 10.8.1992, in dem die Klägerin das Eingeständnis nicht erfolgter Aufklärung über die Behandlungsalternative feststellt, haben die Beklagten erstinstanzlich nicht widersprochen. Ob dies ein Geständnis im Sinne des § 288 ZPO ist mit der Folge, dass die Beklagten es nur unter den Voraussetzungen des § 290 ZPO widerrufen könnten, kann dahinstehen. Ihr jetziger Vortrag wird von der Dokumentation so gerade nicht gestützt.

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Die Mutter der Klägerin ist erstmals am 25.3.1985 um 17.00 Uhr vom Beklagten zu 1) untersucht worden, wobei die Beckenendlage diagnostiziert worden ist. Eine Aufklärung an diesem Tage ist nicht dokumentiert. Die nur mit Namen und Datum vom 26.3.1985 ausgefüllten Formulare (Seite 5 und 6 der Krankenakte) betreffen erkennbar die Einwilligung vor der Schnittentbindung, weil sich darunter auch das Formular über die Einwilligung in die Anästhesie (Seite 6) befindet, während beide Eheleute am 25.3.1985 eine Erklärung über die Sterilisation mit Einverständnis der Patientin unterschrieben haben, was eine vaginale Entbindung voraussetzt und eine Behandlungsmethode nach Kaiserschnittentbindung nicht beschreibt. Vor diesem Hintergrund kommt eine Vernehmung des Beklagten zu 1) als Partei gemäß § 448 ZPO nicht in Betracht. Dies setzt voraus, dass die Beklagten jedenfalls einigen Beweis für eine Aufklärung über die Risiken der vaginalen Entbindung erbracht haben. Das ist für eine rechtzeitige Aufklärung vor dem Entbindungsbeginn, die der Mutter die Möglichkeit eröffnete, sich von vornherein für eine Sectio zu entscheiden, nicht der Fall. Das gilt auch unter Berücksichtigung der jetzt erfolgten Behauptung, dass der Beklagte zu 1) bei Beckenendlagen stets über das Für und Wider von Spontan- bzw.

12

Schnittentbindung gesprochen haben soll. Dem angebotenen Zeugenbeweis war mangels jeglicher weiteren Angaben zu solchen Gesprächen, insbesondere wann, wo und wie die zu fordernden Aufklärungen erfolgt sein sollen, nicht nachzugehen.

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Dem Landgericht ist auch darin zu folgen, dass die Klägerin einen Entscheidungskonflikt ihrer Mutter ausreichend dargelegt hat. Die Berufung verkennt, dass ein Patient bei unterbliebener Aufklärung nicht darlegen muss, dass er sich anders entschieden hätte. Vielmehr reicht es aus, wenn er einen Entscheidungskonflikt glaubhaft macht. Dies hat die Klägerin getan, indem sie vorgetragen hat, dass ihre Mutter schon wegen der vorhergehenden Geburten eine Schnittentbindung wollte, sich aber davon hat abbringen lassen, weil der Beklagte zu 1) ihr gesagt habe, auch das dritte Kind werde die normale Geburt schaffen. Ob die Abwägung genauso ausgefallen wäre oder die Mutter der Klägerin jedenfalls mit größerer Vehemenz auf einer Schnittentbindung beharrt hätte, wenn ihr die zusätzlichen Risiken für das Kind bekannt gewesen wären, ist bereits aus diesem Grunde zweifelhaft; der Entscheidungskonflikt liegt indes offen.

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Auf die Verjährung des deliktischen Schadensersatzanspruches der Klägerin können sich die Beklagten gemäß § 242 BGB nicht berufen, weil der Haftpflichtversicherer für sie auf die Erhebung der Einrede insoweit verzichtet hat.

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Der von den Beklagten bestrittene Ursachenzusammenhang zwischen der Gesundheitsschädigung der Klägerin und der Geburt steht nach den überzeugenden Erläuterungen des vom Senat herangezogenen Gutachters Prof. Dr. Lemburg, dessen hohe Qualifikation keinerlei Zweifeln unterliegt, fest. Für andere Ursachen der neurologischen Beeinträchtigungen als einer unter der Geburt entstandenen Sauerstoffunterversorgung besteht kein Anhalt; dagegen sprechen der gesamte pathologische Geburtsverlauf und die nachgewiesene Azidose (Störung im Säure-Basen-Haushalt) für den Sauerstoffmangel. An der Schadensursächlichkeit des gewählten Entbindungsvorganges - Versuch einer Vaginalentbindung nebst anschließender Sectio im Falle eines Geburtsstillstandes - besteht kein vernünftiger Zweifel.

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Entscheidend ist, dass konkret die Schädigung der Klägerin im Zuge des von dem Beklagten zu 1) gewählten Geburtsweges erfolgt ist (vgl. BGH NJW 1989, 1539). Der Sachverständige hat auch die durch eine Veröffentlichung von Prof. Beller hervorgerufene Verunsicherung über die Kausalität zwischen Geburt und Hirnschäden bei Neugeborenen sicher ausgeräumt. Bei den von Prof. Beller angesprochenen Fallgestaltungen fehlt es gerade an den sogenannten Brückensymptomen (z.B. Steifmachen, Krampfbereitschaft, Krämpfe, Unruhe, andauerndes Schreien), die hier den Sauerstoffmangel im Zusammenhang mit der Geburt und die darauf zurückzuführende Beeinträchtigung belegen.

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III.

Bei dem "Teilurteil" handelt es sich tatsächlich um ein Teil- und Grundurteil, weil hinsichtlich der Beklagten zu 3) die Klage abgewiesen und die Klage gegen die Beklagten zu 1) und 2) dem Grunde nach für gerechtfertigt erklärt worden ist. Das Grundurteil war jedoch unzulässig, weil die Klägerin ihren Leistungsantrag mit einem Feststellungsantrag verbunden hat, über den wesensgemäß nicht durch Grundurteil entschieden werden kann (BGH NJW 1991, 1896, BB 1991, 1150). Ergeht dieses gleichwohl, so liegt darin in der Regel nicht zugleich ein stattgebendes Feststellungsurteil (BGH ZIP 90, 316; Zöller-Vollkommer, ZPO 19. Aufl, § 304 RN 3). Die Auslegung des Urteils kann aber ergeben, dass das Gericht ein "feststellendes Teil-Grundurteil" erlassen wollte, mit der Folge, dass es sich hinsichtlich des Feststellungsantrages um ein Endurteil handelt (BGH NJW 53, 184; OLG Frankfurt, VersR 1984, 168; OLG Karlsruhe Justiz 1988, 155). Davon ist im vorliegenden Fall auszugehen, weil das Landgericht ersichtlich die Frage nach der Ersatzpflicht der Beklagten abschließend auch hinsichtlich des Zukunftsschadens bejahen wollte. Die Urteilsgründe lassen -·wie bereits dem zweiten Satz der Entscheidungsgründe zu entnehmen ist·- keinen Zweifel daran, dass das Landgericht nicht etwa die Entscheidung über den Feststellungsantrag sich vorbehalten wollte, sondern die Entscheidung alle Klageansprüche umfassen sollte. In solchen Fallgestaltungen ist daher die Richtigstellung der erstinstanzlichen Urteilsformel möglich und geboten (BGH DRiZ 1965, 97 = VersR 1965, 138).

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IV.

Die Berufung war mit dieser Richtigstellung des landgerichtlichen Tenors insgesamt mit den Nebenentscheidungen gemäß §§ 97 Abs. 1, 708 Nr. 10, 711, 546 ZPO zurückzuweisen.