Oberlandesgericht Oldenburg
Urt. v. 24.10.1995, Az.: 5 U 49/95

Widersprüche zwischen Gerichtsgutachter und Schlichtungsgutachter; Aufklärung über Operationsmöglichkeit einer Oberarmkopffraktur; Haftung für einen Diagnoseirrtum; Nichterkennen des Gesamtverletzungsausmaßes einer hinteren Schulterverrenkung

Bibliographie

Gericht
OLG Oldenburg
Datum
24.10.1995
Aktenzeichen
5 U 49/95
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 1995, 29105
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:OLGOL:1995:1024.5U49.95.0A

Amtlicher Leitsatz

Widersprüche zwischen Gerichtsgutachter und Schlichtungsgutachter Aufklärung über Operationsmöglichkeit einer Oberarmkopffraktur Kausalität - Röntgenologischer Nachweis der Reposition

Entscheidungsgründe

1

In der Sache hat die Berufung zum Teil Erfolg. Der Beklagte ist dem Kläger gemäß § 823 Abs. 1 BGB zum Schadensersatz verpflichtet, da er nach dem misslungenen Repositionsversuch nicht für eine operative Revision der Schulter gesorgt hat, was nach dem geschuldeten Behandlungsstandard, § 276 BGB, erforderlich gewesen wäre. Im Übrigen hätte er den Kläger zumindest auch über die bestehende Behandlungsalternative einer operativen Versorgung zu der von ihm gewählten konservativen aufklären müssen.

2

I.

Das Landgericht durfte die rechtliche Prüfung nicht auf etwaige haftungsbegründende Fehler bei Diagnosestellung und Diagnostikmaßnahmen beschränken. Es durfte zudem auch auf der Grundlage dieser eingeschränkten Haftungsanknüpfung mangels ausreichender Entscheidungsgrundlage eine Haftung nicht abschließend verneinen.

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Zutreffend hat das Landgericht allerdings für eine Haftung auf Grund eines Diagnoseirrtums einen strengen Maßstab zugrundegelegt und für eine darauf gestützt haftungsauslösende Fehlbehandlung einen gravierenden Diagnoseirrtum verlangt. Bei der Bewertung von Diagnoseirrtümern im Sinne von Fehlinterpretationen der Befunde als Behandlungsfehler ist Zurückhaltung geboten, um dem Arzt zum Wohle der Patienten den notwendigen Freiraum bei Diagnose und Therapie zu belassen; Fehldiagnosen werden dem Arzt dagegen eher wegen nicht erhobener elementarer Kontrollbefunde oder unterbliebener Überprüfung der ersten Diagnose im weiteren Behandlungsverlauf angelastet (vgl. nur Steffen, Neue Endwicklungslinien der BGH Rspr. zum Arzthaftungsrecht, 6. Aufl., S. 57 ff. m.v.w.Nw.).

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Die Widersprüche bei der Gewichtung der von dem Schlichtungsgutachter und dem Gerichtsgutachter übereinstimmend erkannten Diagnostikfehlleistungen sind so erheblich, dass das Gericht ihnen von Amts wegen hätte nachgehen und versuchen müssen, eine medizinische Abklärung herbeizuführen, wollte es eine von beiden Ansichten seiner rechtlichen Beurteilung zu Grunde legen (st. Rechtsprechung vgl. zuletzt nur BGH VersR 1995, 46 f und Urteil vom 29.11.1994 - VI ZR 188/93 - zur Veröffentlichung vorgesehen). Immerhin hat der Schlichtungsgutachter die mangelhafte Diagnostik als "ohne weiteres vermeidbar", den Verzicht auf eine zweite Röntgenaufnahme in anderer Projektion als "gegen die unfallchirurgisch allgemein anerkannte Regel, Röntgenaufnahmen in zwei Ebenen anzufertigen" verstoßend und "nicht verständlich" sowie die Fehlinterpretation des zweiten Röntgenbildes als "völlig unverständlich" bezeichnet. Der Gerichtsgutachter möchte dagegen die auch von ihm bejahten Fehlleistungen wegen der Seltenheit von hinteren Verrenkungsbrüchen und des anderen Wissensstandes von Allgemeinchirurgen gegenüber Unfallchirurgen in einem milderen Licht erscheinen lassen. Die von ihm bei seiner Anhörung dafür gegebene Begründung, auch der Schlichtungsgutachter habe die vorliegende Verletzung nicht in vollem Maße beschrieben und dadurch wie auch die anderen zuvor mit dieser Sache befassten Ärzte den Verletzungsumfang nicht vollständig erkannt und die Röntgenaufnahme in zweiter Ebene sei technisch kaum durchführbar, überzeugt nicht. Auch der Schlichtungsgutachter beschreibt die dislozierte Oberarmkopffraktur und die hintere Luxation und der Gerichtsgutachter verlangt in seinem schriftlichen Gutachten ausdrücklich eine "weiterführende Röntgendiagnostik" wie unter anderem das "Röntgen in mehreren Ebenen". Ohne entsprechende Vorhalte gegenüber den Sachverständigen gegebenenfalls bei gleichzeitiger Anwesenheit vor dem Gericht durfte die Kammer nicht einseitig zu Lasten der Patientenseite von einem eher lässlichen keinesfalls haftungsbegründenden Fehler bei der diagnostischen Abklärung ausgehen. Der Senat brauchte dieser Frage aber auch nicht abschließend nachzugehen.

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II.

Dem Beklagten ist darüber hinaus vorzuwerfen, dass er nach dem 30.8.1989 nicht für eine operative Intervention gesorgt hat. Dieser Behandlungsfehler ist unabhängig von dem vorstehend erörterten Irrtum bei der Diagnose über den wahren Verletzungsumfang eines hinteren Verrenkungsbruches. Alle maßgeblichen bei der Beurteilung bisher beteiligten Ärzte haben unabhängig davon, ob tatsächlich der Gerichtsgutachter als Einziger das gesamte Krankheitsbild zutreffend erfasst hat - auch dem Gerichtsgutachter zufolge ein disloziertes Oberarmfrakment und ein Luxationsstellung beschrieben. Sie sind sich weiterhin einig, dass bereits diese Verletzungen eine operative Revision erforderten, nachdem der erste Repositionsversuch am 28.9.1989 gescheitert war und bis zum 30.9. eine weiter gehende Fragmentdislokation eingetreten war. Die bei Schulterluxationen und -frakturen zu durchlaufenden Therapiestufen "Reposition, Fixation und Physiotherapie" (vgl. OLG Düsseldorf, Urteil vom 6.11.1986 - 8 U 133/95 - AHRS KZ 2240 S. 85) setzen voraus, dass die gelungene Reposition röntgenologisch belegt ist.

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Daran fehlt es hier. Das Röntgenbild belegt gerade - wie Dr. K. in seinem Schreiben vom 24.9.1990 an den Hausarzt klar ausführt -, dass die Fraktur stark "abgerutscht" ist. Auch die übrigen Ärzte sind der Ansicht, dass die erkennbare Fehlstellung der Fraktur eine operative Behandlung gebot.

7

Der Beklagte hat am 28.8.1989 eine Oberarmkopffraktur ebenfalls erkannt, wie die Überklebung in der Karteikarte zeigt. Das wird auch vom Beklagten nicht in Abrede gestellt. Er hat diese Fraktur aber nach den weiteren Eintragungen nicht mehr verfolgt, sondern nur noch die Luxation beschrieben. Damit hat er nicht, wie es den Behandlungsregeln für eine Fortsetzung der konservativen Behandlung entsprochen hätte, die gelungene Reposition insgesamt und nicht nur bezogen auf die Stellung des Oberarmkopfes überprüft.

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Soweit der Gerichtsgutachter in dem schriftlichen Gutachten das konservative funktionelle Vorgehen bei alleiniger Oberarmkopffraktur für ausreichend hält, steht das nicht entgegen. Auch er räumt ein, dass zumindest die Verrenkungsstellung des Oberarmkopfes mit den beschriebenen Frakturen hätte operativ beseitigt werden müssen. Nach dem Misslingen des ersten konservativen Repositionsversuches war es daher nach allen Ansichten erforderlich und geboten, die Reposition, wenn sie denn konservativ nicht gelang, operativ durchzusetzen. Die Behandlung des Beklagten muss daher auf der Grundlage dieser einhelligen medizinischen Einschätzung als fehlerhaft beurteilt werden.

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Im Übrigen wären Unzulänglichkeiten bei der Interpretation des Röntgenbildbefundes vom 30.8.1989, worauf der Karteikarteneintrag "Oberarmkopf in Normalstellung" ohne Hinweis auf die Fraktur hindeuten könnte, mit dem Nichterkennen des Gesamtverletzungsausmaßes einer hinteren Schulterverrenkung nicht zu erklären und könnten demgemäß auch das Maß der Verantwortlichkeit nicht herabsetzen.

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III.

Schließlich schuldete der Beklagte dem Kläger auch auf der Grundlage des von ihm am 28.8. und 30.8.1989 erkannten Verletzungsbildes die Unterrichtung darüber, dass insoweit eine operative Versorgung möglich ist und auch durchgeführt wird. Zwar hält der Gerichtsgutachter eine konventionelle Behandlung bei bloßen Oberarmkopffrakturen für ausreichend. Er betont aber, dass vielerorts die operative Intervention vorgezogen wird und zieht daraus den richtigen Schluss, dass dem Patienten der operative Weg zumindest anzubieten ist. Das hat der Beklagte unwidersprochen nicht getan. Über eine solche echte Behandlungsalternative mit gleichwertigen Chancen und unterschiedlichen Risiken ist der Patient zu unterrichten, soll die Behandlung von seiner in Ausübung seines Selbstbestimmungsrechtes wirksam gegebenen Einwilligung gedeckt sein. Auch dadurch ist die Einstandspflicht des Beklagten für die auf dieser Pflichtverletzung beruhenden Schäden begründet.

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IV.

Dieser Behandlungsfehler hat zu einer Schädigung des Beklagten geführt. Dafür kommt es auf die unterschiedlichen Einschätzungen des Schlichtungsgutachters ("mit völliger Wiederherstellung war zu rechnen") und des Gerichtsgutachters ("Heilungsverlauf gerät in Bereich der Spekulation") über die Erfolgsaussichten bei fehlerfreiem Vorgehen nicht an. Ebenso wenig bedarf es der abschließenden Erörterung von Beweiserleichterungen für den Beklagten, die bei groben Versäumnissen bzw. Unterlassen zweifelsfrei zu erhebender Befunde möglich sind (vgl. BGH VersR 1989, 701 f - Unterlassen einer gebotenen Röntgenaufnahme eines Schultergelenks) und auf der Grundlage der Ausführungen des Schlichtungsgutachtens auch nahe liegen. Die vom Beklagten geschuldete ärztliche Behandlung auf Grund seiner deliktischen Garantenstellung war auf Herstellung der Gesundheit des Schädigers ausgerichtet. Soweit das Ziel durch Vornahme aller Behandlungsmaßnahmen, die nach den Regeln der ärztlichen Kunst zur Wiederherstellung der Gesundheit des Klägers erforderlich und möglich waren, schuldhaft verfehlt worden ist, ist der Beklagte für den schlechten Gesundheitszustand des Klägers verantwortlich, auch wenn dieser Zustand auf einem anderen Ereignis beruht (BGH VersR 1988, 1273, 1274) [BGH 20.09.1988 - VI ZR 37/88]. Zu Beginn der Behandlung war die Schulter luxiert und gebrochen; anschließend vergrößerte sich dann die Dislozierung der Knochenfragmente und schließlich fand eine Verheilung in Fehlstellung statt mit der Folge einer Sekundärarthrose bei Deformierung des Oberarmkopfes.

12

Damit steht der haftungsbegründende Tatbestand soweit der Kläger darlegungs- und beweisbelastet ist, fest. Für den behaupteten hypothetischen Kausalverlauf, auch bei ordnungsgemäßem Vorgehen, wäre das Behandlungsergebnis dasselbe wie jetzt, ist dagegen die Behandlungsseite beweisbelastet. Diesen Beweis hat sie nach den Erläuterungen der Sachverständigen zumindest nicht erbringen können.

13

V.

Die nach dem Schlichtungsgutachten auf Grund klinischer Untersuchung bei dem Kläger festgestellten Beeinträchtigungen wurden von dem Gerichtsgutachter nicht in Frage gestellt; er bewertet nur die Akzeptanz des Ergebnisses positiver.

14

Danach ist das Gelenk weitgehend zerstört. Es hat sich eine Sekundärarthrose herausgebildet mit bleibenden Bewegungseinschränkungen und Muskelschwächen sowie Schmerzzuständen. Unter Berücksichtigung der langwierigen Folgebehandlungen zwei stationäre Aufenthalte zur operativen Revision, monatelange Krankengymnastik -, der Auswirkungen auf das Studium - Verlust eines Prüfungssemesters -, der verzögerten Berufseintrittsmöglichkeit und der Minderung der Erwerbsfähigkeit bis 30 % hält der Senat ein Schmerzensgeld nach Abwägung aller Umstände in Höhe von 25.000,-- DM für angemessen.

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Wegen der noch offenen Entwicklung war auch dem Feststellungsantrag stattzugeben.

16

Hinsichtlich des geltend gemachten Verdienstausfalles waren auch unter Berücksichtigung des gem. §§ 287 ZPO, 252 BGB herabgesetzten Beweismaßes lediglich die Arbeitsperioden in den Ferien nach dem Wintersemester 1990/91 und dem Sommersemester 1992 anzuerkennen.

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Für diese Zeiträume hat der Kläger belegt, dass er infolge der stationären Krankenaufenthalte für die notwendigen Folgeoperationen gehindert war, einer zeitweisen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Hingegen belegt die Bescheinigung des Krankengymnasten M. nicht, dass er auch in den beiden anderen geltend gemachten Semesterferien durch Krankengymnastik gehindert war zu arbeiten. Die Höhe des Verdienstausfalles ist durch den Steuerbescheid vom 9.7.1991 mit 4.436,- DM pro Semesterferienarbeit belegt. Auf Grund des vorgelegten Verdienstnachweises für die Zeit von Juli bis September 1990 kann auch davon ausgegangen werden, dass der Kläger einer solchen Erwerbstätigkeit mit jedenfalls entsprechendem Verdienst nachgehen konnte und - weil er darauf finanziell angewiesen war - auch nachgegangen wäre. Der Verdienstausfall ist in Höhe von 8.872,- DM anzuerkennen.

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Eine Erweiterung der gewährten Prozesskostenhilfe kam nicht in Betracht, da neben dem geltend gemachten Verdienstausfall die Aufnahme von Darlehen bezüglich des Darlehenskapitals keine selbstständige Schadensposition darstellt und ein Verdienstausfall wegen verspätetem Eintritts in das Berufsleben angesichts einer bloß verschobenen Abschichtungsprüfung 1991, der Gesamtstudiendauer bis 1993 und der zugrundegelegten Erwerbstätigkeit von 1995 nicht schlüssig dargetan ist.

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Weiter gehende Zinsen als Prozesszinsen gemäß § 291 BGB konnten dem Kläger nicht zugesprochen werden, weil er die Voraussetzungen für den Eintritt eines zeitlich früheren Verzugszinsschadens, § 288 BGB, nicht dargelegt hat.