Vergabekammer Lüneburg
Beschl. v. 19.07.2021, Az.: VgK-24/2021

Voraussetzungen für die Aufhebung eines Vergabeverfahrens

Bibliographie

Gericht
VK Lüneburg
Datum
19.07.2021
Aktenzeichen
VgK-24/2021
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2021, 54217
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

In dem Nachprüfungsverfahren
der xxxxxx,
Verfahrensbevollmächtigte: xxxxxx,
- Antragstellerin -
gegen
1. xxxxxx,
2. xxxxxx,
3. xxxxxx,
zu 1 - 3 vertreten durch xxxxxx,
Verfahrensbevollmächtigte: xxxxxx,
- Antragsgegner -
wegen
Vergabeverfahren "Lieferung ballistischer Unterziehschutzwesten SK1 ST"
hat die Vergabekammer durch den Vorsitzenden MR Gause, den hauptamtlichen Beisitzer BOR Peter und den ehrenamtlichen Beisitzer Rechtsanwalt Woll auf die mündliche Verhandlung vom 13.07.2021 beschlossen:

Tenor:

  1. 1.

    Es wird festgestellt, dass die Antragstellerin durch die Aufhebung des Vergabeverfahrens in ihren Rechten aus § 97 Abs. 6 GWB verletzt ist, da die Aufhebungsentscheidung nicht von einem Aufhebungsgrund des § 63 Abs. 1 Satz 1 VgV gedeckt ist.

  2. 2.

    Im Übrigen wird der Nachprüfungsantrag zurückgewiesen.

  3. 3.

    Die Kosten werden auf xxxxxx € festgesetzt.

  4. 4.

    Die Antragstellerin und der Antragsgegner haben die Kosten des Verfahrens je zu 1/2 zu tragen. Der Antragsgegner ist von der Entrichtung seines Gebührenanteils persönlich befreit.

  5. 5.

    Die Antragstellerin hat dem Antragsgegner die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Aufwendungen zu 1/2 zu erstatten. Der Antragsgegner hat der Antragstellerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Aufwendungen zu 1/2 zu erstatten.

    Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts war sowohl für die Antragstellerin als auch für den Antragsgegner erforderlich.

Begründung

I.

Der Antragsgegner hatte mit EU-Vergabebekanntmachung vom xxxxxx.2020 die Lieferung von xxxxxx ballistischen Unterziehwesten zur verdeckten Tragweise europaweit im offenen Verfahren nach Maßgaben der VgV ausgeschrieben.

In dem damaligen Vergabeverfahren wurde auf Betreiben der jetzigen Antragstellerin ein Nachprüfungsverfahren geführt, nachdem der Antragsgegner mitgeteilt hatte, dass das Angebot der Antragstellerin ausgeschlossen wurde und der Zuschlag auf das Angebot der damaligen Beigeladenen xxxxxx erteilt werden solle. Streitig war u. a. insbesondere ein im Rahmen der Angebotswertung durchzuführender Tragetest der Unterziehwesten und dessen Dokumentation durch den Antragsgegner.

Mit dem bestandskräftigen Beschluss der Vergabekammer vom 11.02.2021, Az.: VgK-53/2020, wurde das Vergabeverfahren in den Stand vor Beginn der Wertung zurückversetzt. Der Antragsgegner wurde verpflichtet, die Wertung erneut durchzuführen und die aus der Begründung ersichtliche Rechtsauffassung der Vergabekammer zu beachten.

Mit dem Beschluss wurde dem Antragsgegner u. a. Folgendes aufgegeben:

"[...]

Der Antragsgegner wird die gesamte Wertung einschließlich der technischen Merkmale wiederholen müssen.

[...]

Er wird von dem vorgegebenen Prüfungsmaßstab mit den ursprünglich benannten Noten nicht abweichen. [...]"

Nach erfolgter Neubewertung teilte der Antragsgegner am 26.04.2021 mit, den Zuschlag nunmehr auf das Angebot der jetzigen Antragstellerin erteilen zu wollen. Hieraufhin beantragte die nunmehr unterlegene xxxxxx am 06.05.2021 die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens. Das Verfahren wurde bei der Vergabekammer unter dem Az. VgK-16/2021 geführt.

In dem Nachprüfungsverfahren teilte die Vergabekammer dem Antragsgegner mit Hinweisschreiben vom 19.05.2021 mit, das der Nachprüfungsantrag voraussichtlich Erfolg haben werde.

Der Antragsgegner sei von den Maßgaben des Beschlusses der Vergabekammer vom 11.02.2021 abgewichen, in dem die Bewertungsbögen des Zuschlagskriteriums Technik mit Stand vom 22.03.2021 abweichend von den bisherigen Vorgaben nunmehr sowohl für das Kriterium "Bewegungsfreiheit", als auch für das Kriterium "Gestaltung der individuellen Anpassbarkeit" insgesamt 20 Unter-Unterkriterien enthalten hätten, die einzeln bewertet werden sollten. Hierbei handele es sich aus Sicht der Vergabekammer um eine Abweichung von den ursprünglich mit der Aufforderung zur Angebotsabgabe veröffentlichten Wertungskriterien.

Zudem sei der Antragsgegner bei der aktuellen Wertung des Preises von dem in den technischen Lieferbedingungen festgelegten Verfahren abgewichen. Dort hatte er festgelegt:

"Das Angebot mit dem niedrigsten Gesamtpreis erhält 300 Punkte. Ausgehend hiervon erfolgt für die weiteren Angebote ein Punktabzug von einem Prozent vom maximalen Punktewert je einem Prozent höherem Bewertungspreis."

Eine Einschränkung auf nicht ausgeschlossene Angebote sei dort nicht enthalten gewesen. So sei auch die preisliche Wertung im Dezember 2020 einschließlich der ausgeschlossenen Angebote erfolgt. Davon sei der Antragsgegner nun abgewichen, indem er nunmehr nur die Preise der Antragstellerin und der Beigeladenen xxxxxx in die Wertung einbezog.

Bei der erneuten Angebotswertung habe der Antragsgegner zudem das Produkt der dort Beigeladenen xxxxxx nicht berücksichtigt, obwohl es ausweislich des Informationsschreibens vom 11.12.2020 wertungsfähig gewesen sei und ursprünglich auch bewertet wurde.

Die Vergabekammer empfahl dem Antragsgegner, dem Nachprüfungsantrag selbst abzuhelfen, indem er das Verfahren in den Stand vor der Angebotsbewertung zurückversetzt und unter Berücksichtigung aller wertungsfähigen Angebote anhand der ursprünglich in der Leistungsbeschreibung festgelegten Bewertungskriterien wiederholt.

Abschließend gab die Vergabekammer folgenden Hinweis:

"Sofern Sie an den mit Schreiben vom 22.03.2021 neu eingeführten Bewertungskriterien festhalten möchten, ist die Ausschreibung in den Stand vor Angebotsabgabe zurückzuversetzen."

Auf den Hinweis der Vergabekammer hin teilte der Antragsgegner am 25.05.2021 mit, dass das Vergabeverfahren nach § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 VgV wegen schwerwiegender Gründe aufgehoben wurde. Er werde seinen grundsätzlich weiterhin bestehenden Beschaffungsbedarf für die Unterziehwesten der niedersächsischen Polizei neu ermitteln und in einer neuen Ausschreibung neu beschreiben und veröffentlichen.

Auf das Aufhebungsschreiben hin erklärte die Antragstellerin xxxxxx ihren Nachprüfungsantrag mit Schreiben vom 27.05.2021 für erledigt.

Mit anwaltlichem Schriftsatz vom 27.05.2021 rügte nunmehr die Antragstellerin xxxxxx die Aufhebung des Vergabeverfahrens und forderte den Antragsgegner auf, diese rückgängig zu machen.

Nachdem der Antragsgegner am 02.06.2021 mitteilte, der Rüge nicht abhelfen zu wollen, beantragte die Antragstellerin am 15.06.2021 die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens.

Der Nachprüfungsantrag sei zulässig. Alle formalen Zulässigkeitsvoraussetzungen seien vorliegend erfüllt.

Der Nachprüfungsantrag sei auch begründet.

Der Beschluss der Vergabekammer vom 11.02.2021 (VgK53/2020) habe fortzugelten. Die Vergabekammer habe durch ihren Hinweis vom 19.05.2021 möglicherweise einen (Mit-) Anlass zur Aufhebungsentscheidung gegeben. Dennoch behalte der bestandskräftige Beschluss vorrangig Gültigkeit, mit der der Antragsgegner verpflichtet wurde, die Wertung der Angebote einschließlich der technischen Merkmale erneut durchzuführen und von dem vorgegebenen Prüfmaßstab mit den ursprünglich benannten Noten nicht abzuweichen.

Die vorgenommene Aufhebung des Vergabeverfahrens sei unwirksam.

Eine Aufhebung sei nach der Rechtsprechung des BGH nur wirksam, wenn der Beschaffungsbedarf entfallen sei, sich dieser erheblich geändert habe oder Vergabefehler vorliegen würden, die nur durch eine Aufhebung korrigiert werden könnten.

Keiner der drei genannten Fälle liege hier vor.

Der Vergabefehler liege hier in der Nichtberücksichtigung eines dritten Bieters und in der Abänderung der selbst gesetzten Spielregeln des Antragsgegners während des Wertungsvorganges. Diese Fehler bedürften tatsächlich der Korrektur. Für diese sei es aber nicht notwendig, das Vergabeverfahren aufzuheben. Es reiche aus, die Wertung der vorliegenden Angebote zu wiederholen. Und wenn diese ausreiche, müsse aus Gründen der Verhältnismäßigkeit das mildere Mittel gewählt werden, nämlich die Wiederholung der Angebotswertung.

Die Antragstellerin habe in diesem Vergabeverfahren eine Rechtsposition erreicht, die durch den Antragsgegner nicht nach Belieben zerstört werden dürfe. Diese Rechtsposition bestehe aus:

- Dem abgegebenen Preis, selbst wenn dieser nicht der niedrigste sei, sei er niedrig genug, um nach einem Tragetest möglicherweise auf Rang 1 zu liegen. Bei einer erneuten Angebotsabgabe könne sich dieser Preisabstand zu Lasten der Antragstellerin verändern. Im Weiteren sei durch den Kostenbeschluss der Vergabekammer vom 01.06.2021 in dem Vergabeverfahren VgK-16/2021 dem Konkurrenten xxxxxx die genaue Angebotssumme der Antragstellerin bekannt gemacht worden. Diese Tatsache verschlechtere die Wettbewerbssituation für die Antragstellerin in einer neuen Ausschreibung erheblich.

- Der Durchführung eines Tragetests. Die Antragstellerin habe aufgrund ihres Materialeinsatzes in allen Vergabeverfahren, in denen ein Tragetest ordnungsgemäß durchgeführt wurde, regelmäßig mit Abstand die meisten Punkte erreicht. Der Antragsgegner habe aber in einer Besprechung angekündigt, in einem neuen Vergabeverfahren auf einen Tragetest komplett zu verzichten. Dies würde die Zuschlagschancen der Antragstellerin erheblich reduzieren.

- Der begrenzten Anzahl an konkurrierenden Bietern. Aufgrund der Aufhebung könnten bei einer erneuten Ausschreibung weitere Unternehmen teilnehmen, die bisher nicht zum Bieterfeld gehörten und somit die Zuschlagschancen der Antragstellerin nochmals schmälern würden.

Diese Rechtspositionen seien zu schützen. Der Antragsgegner müsse daher im Sinne des in § 97 Abs. 1 Satz 2 GWB verankerten Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes das mildeste Mittel wählen, um seinen Beschaffungsbedarf zu befriedigen.

Es bestehe dabei auch kein Wahlrecht zwischen der Aufhebung und der Wertungswiederholung. Die beiden Varianten Aufhebung einerseits und Wertungswiederholung andererseits schlössen sich gegenseitig aus. Ein Wahlrecht zu Gunsten des Auftraggebers existiere nicht. Wenn die Vergabekammer der Auffassung sei, dass der Vergabefehler durch eine Wiederholung der Angebotswertung korrigiert werden könne - und das tue sie ganz offenbar - dann bestätige sie damit auch, dass die Vergabeunterlagen und das Verfahren bis zu diesem Zeitpunkt rechtmäßig gewesen seien.

Stünde es dem Auftraggeber frei, in einem solchen Fall auch die Aufhebung zu wählen, also ohne Wegfall oder wesentlicher Änderung des Beschaffungsbedarfs und ohne Notwendigkeit zur Korrektur von Vergabefehlern, dann wäre der Manipulationsmöglichkeit Tür und Tor geöffnet. Ein Auftraggeber könnte nach Durchführung der Angebotswertung das Ergebnis schlicht dadurch verändern, indem er aufhebt, um ein neues Vergabeverfahren mit anderen Zuschlagskriterien durchzuführen. Dies könnte er so lange wiederholen, bis das Wertungsergebnis so ausfalle, dass der von ihm präferierte Bieter den Zuschlag erhalte. Es sei offensichtlich, dass dies nicht sein könne.

Die Antragstellerin beantragt,

  1. 1.

    die Einleitung eines Nachprüfungsverfahrens gem. §§ 160 ff. GWB, verbunden mit der unverzüglichen Information des Antragsgegners gem. § 169 Abs. 1 GWB in Textform,

  2. 2.

    festzustellen, dass die Aufhebung des Vergabeverfahrens die Antragstellerin in ihren Rechten aus § 97 Abs. 6 GWB verletzt,

  3. 3.

    dem Antragsgegner aufzulegen, unter der Beachtung der im Beschluss vom 11.02.2021 geäußerten Rechtsauffassung der Vergabekammer Niedersachsen und bei fortbestehender Beschaffungsabsicht erneut in die Wertung der Angebote einzutreten,

  4. 4.

    gem. § 168 Abs. 1 GWB hilfsweise andere geeignete Maßnahmen zu treffen, um die Rechtsverletzung zu beseitigen und eine Schädigung der betroffenen Interessen zu verhindern,

  5. 5.

    die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts durch die Antragstellerin für notwendig zu erklären,

  6. 6.

    die Kosten des Verfahrens einschließlich der Kosten der zweckentsprechenden Rechtsverfolgung dem Antragsgegner aufzuerlegen,

  7. 7.

    Akteneinsicht gem. § 165 Abs. 1 GWB.

Der Antragsgegner beantragt:

  1. 1.

    Der Nachprüfungsantrag wird zurückgewiesen.

  2. 2.

    Der Antragstellerin wird keine Akteneinsicht gewährt.

  3. 3.

    Die Hinzuziehung des Verfahrensbevollmächtigten für den Antragsgegner wird für erforderlich erklärt.

  4. 4.

    Der Antragstellerin werden die Kosten des Verfahrens, einschließlich der notwendigen Aufwendungen der Antragsgegnerin zur Rechtsverteidigung, auferlegt.

Der neuerliche Nachprüfungsantrag sei unbegründet und zurückzuweisen.

Anders als die Antragstellerin meine, sei sie nicht in ihren subjektiven Rechten aus § 97 Abs. 6 GWB verletzt. Die vom Antragsgegner vergaberechtskonform aufgehobene Ausschreibung litt ausweislich der Feststellungen der Vergabekammer im rechtlichen Hinweis vom 19.05.2021 bezüglich des 2. Praxistests unter "offensichtlicher Intransparenz" und wies "ein hohes Diskriminierungspotential" auf, so dass eine vergaberechtskonforme Zuschlagserteilung nicht mehr möglich gewesen sei. Bezüglich der vorzunehmenden Abwägung im Rahmen der Ermessensentscheidung nach § 63 Abs. 1 S. 1 Nr. 4 VgV sei die Vergabestelle zu dem Ergebnis gekommen, das Vergabeverfahren aufzuheben. Ein Festhalten an dem ursprünglichen Verfahren, insbesondere an der konkreten Form des Praxistests, könne den Bietern auch nicht zugemutet werden, da hierin nach der Feststellung der Vergabekammer ein erhebliches Diskriminierungspotential liege.

Ein Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nach § 97 Abs. 1 S. 2 GWB liege ebenfalls nicht vor. Dieser besage, dass diejenigen Maßnahmen zu ergreifen seien, die zur Erreichung des verfolgten Ziels sowohl angemessen als auch erforderlich seien und die Ausübung einer Wirtschaftstätigkeit am wenigsten belasten würden. Genau dies werde mit der gegenständlichen Aufhebung des Vergabeverfahrens verfolgt und sei allen Bietern gegenüber gleichermaßen transparent gem. § 63 Abs. 2 VgV kommuniziert worden. Gleiches gelte auch für die Ankündigung der Neuausschreibung.

Die einzelnen, von der Antragstellerin auf Seite 8 ihres Nachprüfungsantrages angeführten Punkte bzw. Rechtspositionen würden dabei beachtet, könnten aber nicht für eine Verletzung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes herangezogen werden.

So sei der angebotene Preis keine Rechtsposition, die die Antragstellerin erlangt habe, sondern lediglich ein Angebot. Die Antragstellerin sei nicht gehindert, den gleichen oder einen anderen Preis in dem noch durchzuführenden zukünftigen Vergabeverfahren anzubieten.

Die Durchführung eines Praxistests sei ebenfalls keine schützenswerte Rechtsposition. Es sei zudem darauf hinzuweisen, dass die Westen der Antragstellerin keineswegs stets die meisten Punkte erreichen würden. Dies zeige sich bereits an den zwei durchgeführten Praxistests des Antragsgegners, bei denen einmal die Antragstellerin und einmal die xxxxxx habe obsiegen können. Der Antragsgegner habe in diesem Zusammenhang auch nicht angekündigt, zukünftig keinen Praxistest mehr durchführen zu wollen, sondern dass ein Praxistest in dieser Form so nicht mehr stattfinden werde, da dieser zu den gegenständlichen Problematiken geführt hätte.

Soweit die Antragstellerin kritisiere, dass bei einem neuen Vergabeverfahren weitere Wettbewerber teilnehmen könnten und dies ihre Aussichten auf Zuschlagserteilung schmälern könnten, sei darauf hinzuweisen, dass auch der vergaberechtlich intendierte Wettbewerb gerade nicht den Erfolg am Markt garantieren solle, sondern lediglich die Chancen auf möglichen Erfolg im Wettbewerb gewährleisten solle. Überdies sei ein möglichst breiter Wettbewerb gerade Ziel des Vergaberechts und könne insoweit nicht als Vergaberechtsverstoß oder als Nachteil der Antragstellerin angeführt werden. Die subjektiven Rechte aus § 97 Abs. 6 GWB schützten die Bieter gerade nicht vor Wettbewerb.

Und schließlich sei der öffentliche Auftraggeber nach § 63 Abs. 1 S. 2 VgV explizit nicht verpflichtet, das Vergabeverfahren mit einer Zuschlagsentscheidung zu beenden. Insoweit könne eine Aufhebung des Vergabeverfahrens nur dann von den Nachprüfungsinstanzen rückgängig gemacht, also aufgehoben werden, wenn der öffentliche Auftraggeber die Möglichkeit, ein Vergabeverfahren aufzuheben, in rechtlich zu missbilligender Weise dazu einsetze, durch die Aufhebung die formalen Voraussetzungen dafür zu schaffen, den Auftrag außerhalb des eingeleiteten Vergabeverfahrens an einen bestimmten Bieter vergeben zu können. Eine solche unzulässige "Scheinaufhebung" liege hier aber gerade nicht vor. Der Antragsgegner müsse den Auftrag zeitnah erneut vergeben, aber nicht unter manipulativen Umständen, sondern in einem wettbewerblichen, auch der Antragstellerin erneut eröffneten Vergabeverfahren.

Wegen des übrigen Sachverhalts wird auf die Schriftsätze der Beteiligten, die Vergabeakte und das Protokoll über die mündliche Verhandlung vom 13.07.2021 Bezug genommen.

II.

Der zulässige Nachprüfungsantrag ist nur teilweise begründet. Der Antragsgegner war nicht zur Aufhebung des Vergabeverfahrens aus § 63 Abs. 1 Nr. 4, Abs. 1 Satz 2 VgV berechtigt (im Folgenden 2.a). Die Antragstellerin hat aber keinen vergaberechtlichen Anspruch auf Aufhebung der Aufhebung des Vergabeverfahrens. Die i. S. der Rechtsprechung aus sachlichen Gründen erfolgte Aufhebung ist rechtswirksam erfolgt (im Folgenden 2.b). Der Antragsgegner hat seine Verpflichtung aus § 63 Abs. 2 VgV erfüllt, die Bieter über die Gründe der Aufhebung zu informieren. Er hat versichert, ein neues Vergabeverfahren einzuleiten (im Folgenden 2.d). Die Antragstellerin hat keinen Anspruch darauf, in einer veränderten Ausschreibung Tragetests durchzuführen (im Folgenden 2.e). Die Frage, ob und ggf. in welchem Maße der Antragstellerin aufgrund der nicht durch § 63 VgV gedeckten Aufhebung ein Schadensersatzanspruch erwächst, ist gemäß § 179 GWB ggf. vor dem zuständigen ordentlichen Gericht zu klären und nicht Gegenstand des Nachprüfungsverfahrens (im Folgenden 2.f). Die Antragstellerin hat keinen Anspruch auf Akteneinsicht in Verfahrensakten, die nicht Gegenstand ihres Nachprüfungsantrags sind (im Folgenden 2.g). Durch die Offenlegung einzelner Angebotspreise in mehreren Kostenentscheidungen ist kein unausgleichbarer Wettbewerbsnachteil entstanden (im Folgenden 2.h).

1. Der Nachprüfungsantrag ist zulässig. Nach den Vergabeunterlagen vom August 2020 handeln hier mehrere Gebietskörperschaften, die öffentliche Auftraggeber i. S. d. § 99 Nr. 1 GWB sind.

Der streitbefangene Auftrag übersteigt gemäß vorgelegter Kostenschätzung des Gesamtauftragswerts gemäß § 3 VgV deutlich den für die Zuständigkeit der Vergabekammer maßgeblichen Schwellenwert gemäß § 106 Abs. 1 GWB. Der 4. Teil des GWB gilt nur für Aufträge, deren geschätzter Auftrags- oder Vertragswert ohne Umsatzsteuer die jeweiligen Schwellenwerte erreicht oder überschreitet, die nach den EU-Richtlinien festgelegt sind. Bei den ausgeschriebenen Leistungen handelt es sich wegen der Maßanfertigung der zu liefernden Schutzwesten um einen Dienstleistungsauftrag i. S. d. § 103 Abs. 4 GWB, für den gemäß § 106 Abs. 2 Nr. 1 GWB i. V. m. Art. 4 der Richtlinie 2014/24/ EU in der seit 2020 geltenden Fassung zum Zeitpunkt der hier streitbefangenen Auftragsvergabe ein Schwellenwert von 214.000 € gilt.

Die Antragstellerin ist gemäß § 160 Abs. 2 GWB antragsbefugt. Sie hat ein Interesse an dem Auftrag und fristgerecht ein Angebot abgegeben. Sie macht die Verletzung von Rechten durch die Nichtbeachtung von Vergabevorschriften geltend, indem sie die Beanstandungen gemäß Ziffer I erhebt. Der Antragsgegner habe das Vergabeverfahren nicht weiter zurückversetzen dürfen, als von der Vergabekammer in dieser Vergabe bereits mit Beschluss vom 11.02.2021 (VgK-53/2020) angeordnet, insbesondere habe er die gesicherte Rechtsposition nicht durch Aufhebung des Vergabeverfahrens bei fortbestehender Vergabeabsicht zerstören dürfen. Die Antragsbefugnis nach § 160 Abs. 2 GWB erfordert, dass das Antrag stellende Unternehmen einen durch die behauptete Rechtsverletzung entstandenen oder drohenden Schaden darlegt. Der Antragsteller muss diejenigen Umstände aufzeigen, aus denen sich schlüssig die Möglichkeit eines solchen Schadens ergibt. An diese Voraussetzungen sind keine allzu hohen Anforderungen zu stellen. Es genügt für die Zulässigkeit eines Nachprüfungsantrags, wenn der Bieter ein ernstzunehmendes Angebot abgegeben hat und schlüssig einen durch die behauptete Rechtsverletzung drohenden oder eingetretenen Schaden behauptet, also darlegt, dass durch den behaupteten Vergaberechtsverstoß seine Chancen auf den Zuschlag zumindest verschlechtert sein können (BVerfG, Urteil vom 29.07.2004 - 2 BvR 2248/04; Schäfer in: Röwekamp/Kus/Portz, GWB-Vergaberecht, § 160, Rn. 43 ff.). Ob tatsächlich der vom Bieter behauptete Schaden droht, ist eine Frage der Begründetheit (vgl. BGH, Beschluss vom 29.06.2006 - X ZB 14/06, zitiert nach VERIS).

Die Antragstellerin hat die geltend gemachten Verstöße bezüglich der Wertung gegen die Vergaberechtsvorschriften gemäß § 160 Abs. 3 Satz 1 GWB vor Einreichen des Nachprüfungsantrags rechtzeitig gerügt. Gemäß § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB muss der Bieter geltend gemachte Verstöße gegen Vergabevorschriften vor Einreichen des Nachprüfungsantrags gegenüber dem Auftraggeber rügen. Dazu setzt ihm § 160 Abs. 3 Nr. 1 GWB eine Frist von 10 Tagen, nachdem er den Verstoß gegen Vergabevorschriften erkannt hat.

Der Antragsgegner informierte die Antragstellerin am 21.05.2021 darüber, dass er das Vergabeverfahren aufhebe. Erst ab diesem Tag konnte die Antragstellerin Kenntnis von den Ausschlussgründen erhalten. Daraufhin rügte die Antragstellerin am 27.05.2021, also vor Ablauf von 10 Tagen, die Aufhebung. Sie erhob ihre Rüge damit rechtzeitig i. S. d. § 160 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 GWB.

Die Rüge enthielt ein konkretes Verlangen, nämlich nicht weiter als von der Vergabekammer angeordnet zurückzuversetzen und nur die Wertung ordnungsgemäß zu wiederholen.

Die Antragstellerin erhob ihren Nachprüfungsantrag auch innerhalb der Frist des § 160 Abs. 3 Nr. 4 GWB. Nach der Rügezurückweisung vom 02.06.2021 erhob sie ihren Nachprüfungsantrag am 15.06.2021, hielt also die Frist von 15 Tagen nach Rügezurückweisung ein.

Der Nachprüfungsantrag ist somit zulässig.

2. Der Nachprüfungsantrag ist zum Teil begründet.

a. Der Antragsgegner hat die Aufhebung des Vergabeverfahrens ermessensfehlerhaft, weil ohne ausreichende Berücksichtigung des in § 97 Abs. 1 Satz 2 GWB geregelten Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit vorgenommen. Nach § 63 Abs. 1 Nr. 4 VgV ist der öffentliche Auftraggeber berechtigt, ein Vergabeverfahren ganz oder teilweise aufzuheben, wenn "andere schwerwiegende Gründe" bestehen. Bei dieser Regelung handelt es sich um einen Auffangtatbestand für den Fall, dass keiner der Gründe nach Ziffer 1 - 3 vorliegt, andererseits ein Grund vorliegt, der mindestens gleichermaßen schwer wiegt (Goldbrunner in: Willenbruch/Wieddekind, Vergaberecht Kompaktkommentar, § 63 VgV, Rn. 65). Damit handelt es sich wie bei allen Aufhebungsgründen um eine Ausnahmeregelung, die eng zu interpretieren ist. Keinesfalls soll der öffentliche Auftraggeber eingeladen werden, leichtfertig ein laufendes Vergabeverfahren aufzuheben. Das gebietet schon der Vertrauensschutz derjenigen Bieter, die mit beträchtlichem Aufwand ein Angebot gefertigt und abgegeben haben. Hier lag keiner der Gründe des § 63 Abs. 1 Nr. 1 - 3 VgV vor, es ist daher die Vergleichbarkeit der angeführten Aufhebungsgründe zu prüfen.

Der BGH (Beschluss vom 20.03.2014 - X ZB 18/13) entschied zur Rechtslage bis 2016, für das Vorliegen eines schwerwiegenden Grundes bedürfe es einer umfassenden und alle für die Aufhebungsentscheidung maßgeblichen Umstände berücksichtigenden Interessenabwägung der jeweiligen Verhältnisse im Einzelfall. Ein rechtlicher Fehler des Vergabeverfahrens könne zu einem schwerwiegenden Mangel und damit seiner Aufhebung führen, wenn der Mangel einerseits von so großem Gewicht sei, dass eine Bindung des öffentlichen Auftraggebers mit Recht und Gesetz nicht zu vereinbaren wäre und andererseits von den am Vergabeverfahren teilnehmenden Unternehmen zu erwarten sei, dass diese auf die rechtlichen und tatsächlichen Bindungen des Auftraggebers Rücksicht nähmen. Mängel im Vergabeverfahren, die zu einer Nachprüfung geführt haben, hat der BGH dabei ausdrücklich als Rechtfertigung einer Aufhebung genannt (BGH Beschluss vom 20.03.2014, X ZB 18/13, Rn. 24). Hier wurden mit bestandskräftigem Beschluss der Vergabekammer vom 11.02.2021 erhebliche Rechtsfehler festgestellt. Die von allen Verfahrensbeteiligten zunächst akzeptierte Lösung im Beschluss der Vergabekammer verlangte allerdings nicht die Aufhebung des Vergabeverfahrens, sondern nur die Neubewertung der eingegangenen Angebote. Der Antragsgegner geht nun darüber hinaus, ohne dass dies als verhältnismäßig erscheint.

Die Antragstellerin beruft sich auf den in § 97 Abs. 1 Satz 2 GWB geregelten Grundsatz der Verhältnismäßigkeit. Der Auftraggeber, der im laufenden Vergabeverfahren, erst recht nach (finaler) Angebotsabgabe das Vergabeverfahren aufhebt, greift in ein vorvertragliches Rechtsverhältnis zwischen ihm und den Anbietern ein. Er ist daher ähnlich wie die Vergabekammer gemäß § 168 Abs. 3, Abs. 1 GWB verpflichtet, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu wahren. Er hat daher jeden erwogenen Eingriff darauf zu prüfen, ob er geeignet ist, den Mangel abzustellen. Er hat unter den geeigneten Eingriffen den Eingriff mit der geringsten Eingriffstiefe auszuwählen und er hat darüber hinaus eine Verhältnismäßigkeitsprüfung durchzuführen, ob der nach den obigen Kriterien ausgewählte Eingriff sich angesichts des geltend gemachten Vergabeverstoßes nicht als unverhältnismäßig erweist (vgl. Goldbrunner in: Willenbruch/Wieddekind, Vergaberecht Kompaktkommentar, § 63 VgV, Rn. 82). Eine Aufhebung ist gerechtfertigt, wenn die Vergabeunterlagen deutlich zu überarbeiten sind und die Zurückversetzung der Aufhebung gleichkommt (vgl. BGH a.a.O; Goldbrunner in: Willenbruch/Wieddekind, Vergaberecht Kompaktkommentar, § 63 VgV, Rn. 82).

Der Antragsgegner hat zur Begründung seiner Entscheidung Ermessenserwägungen angestellt und im Vergabevermerk vom 21.05.2021 sowie den gewechselten Schriftsätzen dokumentiert. Er sieht sich durch den kritischen Hinweis der Vergabekammer im Verfahren VgK-16/2021 zur Aufhebung veranlasst. Die kritischen Anmerkungen resultieren aber aus Überarbeitungen der Vergabe, die nicht durch den Beschluss der Vergabekammer erforderlich waren. Weder der Vermerk vom 21.05.2021, noch die Schriftsätze, noch die Einlassungen in der mündlichen Verhandlung setzen sich damit hinreichend auseinander. Insbesondere hat die Vergabekammer nur die Wertung vom Oktober 2020 als undokumentiert angesehen. Die Wertungswiederholung vom April 2021 war zwar wesentlich besser dokumentiert. Sie erfolgte aber ohne sachliche Veranlassung aufgrund geänderter Anforderungen.

Daher ist die Vergabekammer verpflichtet, die Rechtswidrigkeit der Aufhebung festzustellen. Sie ist vorliegend nicht durch § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 VgV gedeckt.

b. Die Feststellung der Rechtswidrigkeit führt nicht zu einer Verpflichtung des Auftraggebers, die Aufhebung aufzuheben und die alte Wertung fortzusetzen, wie von der Antragstellerin in ihrem Antrag zu 3 beantragt. Der Antragsgegner darf daher den von ihm eingeschlagenen Weg der Durchführung eines neuen Vergabeverfahrens fortsetzen.

Diese Befugnis ergibt sich aus § 63 Abs. 1 Satz 2 VgV. Dort heißt es, dass der öffentliche Auftraggeber im Übrigen grundsätzlich nicht verpflichtet ist, den Zuschlag zu erteilen. Dieser in der Vorgängervorschrift und in § 17 EU VOB/A so nicht enthaltene Satz trägt aus Gründen der Rechtsklarheit der in diesem Zusammenhang ergangenen Rechtsprechung Rechnung, dass es keinen Kontrahierungszwang gibt (BGH, Beschl. v. 20.03.2014 - X ZB 18/13 = VergabeR 2014, S. 538 ff., OLG Celle, Beschl. v. 10.03.2016, 13 Verg 5/15; Portz in: Kulartz/Kus/Marx/Portz/Prieß, VgV, § 63 VgV, Rn. 18). Folglich gibt es - abgesehen von den Fällen deutlich erkennbar rechtsmissbräuchlichem Verhaltens eines Auftraggebers - keinen vergaberechtlichen Anspruch eines Bieters, den Auftraggeber am begonnenen Vergabeverfahren festzuhalten und daran zu hindern, ein mängelbehaftetes Vergabeverfahren zu überarbeiten und neu zu beginnen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2021 - Verg 22/20; OLG Rostock, Beschluss vom 02.10.2019, 17 Verg 3/19). Ein öffentlicher Auftraggeber ist aufgrund eines einmal eingeleiteten Vergabeverfahrens nicht zur Zuschlagserteilung verpflichtet. Er kann jederzeit auf die Vergabe eines Auftrags verzichten, unabhängig davon, ob die gesetzlich normierten Aufhebungsgründe erfüllt sind (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2021 - Verg 22/20). Ein Bieter hat nur dann einen Anspruch auf Fortsetzung des Vergabeverfahrens, wenn der öffentliche Auftraggeber die Möglichkeit einer Beendigung des Vergabeverfahrens in rechtlich zu missbilligender Weise dazu einsetzt, durch die Beendigung die formalen Voraussetzungen dafür zu schaffen, den Auftrag außerhalb des Vergabeverfahrens an einen bestimmten Bieter vergeben zu können (OLG Rostock, Beschluss vom 02.10.2019, 17 Verg 3/19).

Eine Auffassung im Schrifttum (Portz in: Kulartz/Kus/Marx/Portz/Prieß, VgV Kommentar, § 63 VgV, Rn. 23) nimmt noch einen Kontrahierungszwang ausnahmsweise bei Ermessensreduzierung auf null an, wenn der Beschaffungswille unverändert besteht und die Entscheidung zur Aufhebung gegen die Grundprinzipien des Vergaberechtes verstieße. Das ist richtig.

Die Einschränkung "grundsätzlich" in § 63 Abs. 1 Satz 2 VgV hat nur die Funktion, rechtsmissbräuchliche Aufhebungen zu verhindern (Portz in: Kulartz/Kus/Marx/Portz/ Prieß, VgV, § 63 VgV, Rn. 23). Entgegen der Auffassung der Antragstellerin bietet der vorliegende Sachverhalt keinen Anlass, von einer rechtsmissbräuchlichen Aufhebung auszugehen. Denn der Antragsgegner hat das alte Vergabeverfahren förmlich aufgehoben und beabsichtigt, ein neues Vergabeverfahren durchzuführen, an dem sich eben auch alle Bieter des aufgehobenen Vergabeverfahrens beteiligen können.

Die Vergabekammer sieht die Mängel im aufgehobenen Vergabeverfahren durchaus als erheblich, wenngleich nicht als schwerwiegenden Aufhebungsgrund im Sinne des § 63 Abs. 1 Nr. 4 VgV an.

Die Fehler begannen bei der Unklarheit, wer hier öffentlicher Auftraggeber ist. Die Fehler erfassen weiterhin die Begrenzung der Zertifizierung auf wenige staatliche Beschussämter und die intransparente Darstellung zu den technischen Vorgaben nach VPAM oder TR "Ballistische Schutzwesten". Ebenso misslang die Wiederholung der Wertung. Die Vergabekammer hat zu Gunsten des Auftraggebers zwar angenommen, er habe all die Angebote in der wiederholenden Wertung wie zuvor ausschließen wollen, die aus angebotsspezifischen Gründen bereits in der ersten Wertung ausgeschlossen worden waren. Auch diese Annahme rechtfertigt jedoch nicht das Übergehen von Angeboten weiterer Bieter, bei denen die Frage des Ausschlusses intern unklar erörtert und gegenüber den Bietern nicht vollzogen wurde.

Ein Nachprüfungsverfahren darf keinesfalls dazu führen, dass nur diejenigen in die wiederholte Angebotswertung einbezogen werden, die ein Nachprüfungsverfahren angestrengt haben oder dazu beigeladen wurden. Dies sowie die von der Vergabekammer im Beschluss vom Februar 2021 nicht geforderte, aber gleichwohl vorgenommene nachträgliche Änderung der Wertungskriterien ohne erneute Bekanntgabe dieser Wertungskriterien zumindest gegenüber allen Bietern, die noch im laufenden Verfahren waren, haben dazu geführt, dass das gesamte Vergabeverfahren an unübersichtlich vielen Mängeln leidet.

Weil diese Mängel aber alle ihre Ursache in der Sphäre des Auftraggebers haben, bewertet die Vergabekammer die Entscheidung des Antragsgegners zur Aufhebung nach der nunmehr dritten vergaberechtlichen Anfechtung (VgK-53/2020; VgK-16/2021; VgK24/2021) zwar nicht als gerechtfertigt gemäß § 63 Abs. 1 Nr. 4 VgV.

Einer Verpflichtung des Antragsgegners zur Fortführung des ursprünglichen Vergabeverfahrens steht aber vorliegend entgegen, dass die Aufhebung aus Gründen erfolgt ist, die zwar nicht den Anforderungen des § 63 VgV genügen, aber i. S. der Rechtsprechung nicht als rechtsmissbräuchliche, sondern als anerkennenswerte sachliche Gründe für eine Aufhebung zu bewerten sind.

Bei den anerkennenswerten sachlichen Gründen darf es sich nach der Rechtsprechung auch um solche Gründe handeln, die aus seiner eigenen Sphäre stammen und erst nachträglich von ihm tatsächlich erkannt werden (vgl. Dieck-Bogatzke, a.a.O., S. 397, m.w.N.; vgl. Dieck-Bogatzke, Probleme bei der Aufhebung der Ausschreibung, VergabeR 2a/2008, S. 392 ff., 393, m.w.N; VK Niedersachsen, Beschluss vom 13.03.2017, VgK-02/2017).

Der hier zu entscheidende Sachverhalt liegt weit entfernt von einer Sachlage, die zu einer Ermessensreduzierung auf null zugunsten eines nach der obigen Meinung des Schrifttums ausnahmsweise möglichen Kontrahierungszwangs führen kann. Die Antragstellerin übersieht, dass der Verordnungsgeber sich mit § 63 Abs. 1 Satz 2 VgV infolge der oben zitierten BGH-Entscheidung vom 20.03.2014 bewusst gegen einen Kontrahierungszwang entschieden hat. Die Frage, ob die Aufhebung auf einer im Ergebnis zutreffenden umfassenden Abwägung beruht, verlagert sich damit vom Vergabeverfahren in den Schadenersatzprozess und verlässt somit das Vergabenachprüfungsverfahren (vgl. Lischka in: Müller-Wrede, VgV/UVgO, § 63, Rn. 22). Das OLG Düsseldorf (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 10.02.2021 - Verg 22/20; OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.01.2015, VII - Verg 29/14) hat dies wiederholt bestätigt, indem es zwischen der Rechtswidrigkeit und der Wirksamkeit einer Aufhebung differenzierte. Auch die ungerechtfertigte Aufhebung ist grundsätzlich wirksam, kann aber zum Schadensersatz führen.

Kein Auftraggeber ist verpflichtet, nach einem als fehlerhaft erkannten Verfahren auf ein nachträglich nicht als ausreichend bewertetes Angebot den Zuschlag zu erteilen (OLG Düsseldorf, Beschluss vom 12.01.2015, VII - Verg 29/14). Im vorliegenden Fall müssten Polizeibeamtinnen und -beamte aufgrund der in einem mängelbehafteten Vergabeverfahren ausgewählten, und darum möglicherweise nicht optimalen Schutzausrüstung im Einsatz unnötige Komforteinbußen hinnehmen oder gar ihre Gesundheit oder ihr Leben in höherem Maße als unvermeidlich riskieren. Der Antragsgegner konnte daher im Ergebnis nach den schwierigen Erfahrungen mit dem begonnenen Vergabeverfahren wirksam über die Entscheidungsvorgabe der Vergabekammer hinausgehen und das Vergabeverfahren aufheben.

c. Der Antragsgegner ist nicht aufgrund der Rechtsauffassung der Vergabekammer im Beschluss vom 11.02.2021 (VgK-53/2020) verpflichtet, sich auf die Wertungswiederholung zu beschränken. Zwar hat das OLG Celle (OLG Celle, Beschluss vom 17.06.2021 - 13 Verg 2/21) kürzlich festgestellt, auch "Segelanleitungen", mit denen der Vergabestelle auferlegt werde, welche Einzelheiten bei der Neubewertung der Angebote zu berücksichtigen seien, nähmen als Bestandteile der Hauptsacheentscheidung jedenfalls insoweit an deren Bestandskraft teil, als die ihnen zugrunde liegenden Erwägungen für die Entscheidung der Vergabekammer tragend seien. Damit wollte das OLG aber nicht das Leistungsbestimmungsrecht des Auftraggebers beschränken, sondern ihn vor der Wiederholung bereits in vorherigen Nachprüfungsverfahren bestandskräftig und umfassend abgearbeiteter Argumente schützen, wenn ein Bieter in einer Vergabe mehrere Nachprüfungsverfahren führt, so wie das hier der Fall ist.

d. Der Auftraggeber muss bei einer Aufhebung der Vergabe mit fortbestehender Beschaffungsabsicht nach § 63 Abs. 2 VgV den Bewerbern oder Bietern nach Aufhebung des Vergabeverfahrens unverzüglich die Gründe für seine Entscheidung mitteilen. Er muss informieren, ob er auf die Vergabe des Auftrags verzichtet oder ob er das Verfahren erneut einzuleiten beabsichtigt. Diese Verpflichtung hat der Antragsgegner bisher erfüllt, eine weitere Erfüllung glaubhaft versichert. Die Vergabekammer hat keinen ernsthaften Zweifel daran, dass der Auftraggeber die Vergabe des Gesamtauftrages unabhängig von etwaigen Interimsaufträgen zur Deckung des unabweisbar dringenden Bedarfes europaweit neu bekannt machen wird. Der Gedanke der Manipulationsvorsorge, wie von der Antragstellerin eingewandt, ist vor allem zu prüfen, wenn eine Direktvergabe erfolgen soll (OLG Rostock, Beschluss vom 25.11.2020, 17 Verg 1/20). Eine Direktvergabe ist hier nicht beabsichtigt. Die weitere von der Antragstellerin zitierte Entscheidung (OLG Hamburg, Beschluss vom 20.03.2019, Verg 1/19) hat über das am Ende verwendete Wort "Manipulation" keinen Bezug zu dem hier zu entscheidenden Sachverhalt.

e. Das Ziel der Antragstellerin, den Antragsgegner zu verpflichten, in einer veränderten Ausschreibung Tragetests durchzuführen, ist kein tauglicher Gegenstand des Nachprüfungsverfahrens. Ob der Antragsgegner auf Tragetests komplett verzichten wird, kann von der Vergabekammer nicht vorab vor Bekanntmachung bzw. Bereitstellung der Vergabeunterlagen geprüft werden. Der Vergabekammer steht es insbesondere nicht zu, dem Auftraggeber hier Vorgaben zu machen.

Der Antragsgegner hat bei grundsätzlich weiterhin bestehendem Beschaffungsbedarf eine neue überarbeitete Ausschreibung angekündigt. Es gibt weder im Verwaltungsrecht (vgl. OVG Münster, Beschluss vom 22.08.2014 - 5 B 996/14, kein vorbeugendes Verbot der Ankündigung, das Zeigen bestimmter Symbole auf einer Versammlung strafrechtlich ahnden zu wollen), noch im Gesellschaftsrecht (vgl. OLG München, Urteil vom 13.09.2006 - 7 U 2912/06, Abstimmung in Hauptversammlung), noch im Vergaberecht einen vorbeugenden Rechtsschutz.

Der BGH hat auch nach der Entscheidung vom März 2014 (Beschluss vom 20.03.2014, X ZB 18/13) in mehreren Entscheidungen (BGH, Urteil vom 06.10.2020 XIII ZR 21/19; und Urteil vom 08.12.2020 XIII ZR 19/19) bestätigt, dass der Auftraggeber nicht verpflichtet ist, im Vergabeverfahren den Zuschlag zu erteilen. Er kann bei Vorliegen hinreichender Gründe im Sinne des § 63 Abs. 1 Nr. 4 VgV oder sachlicher Gründe in wirksamer Form von der Vergabe absehen und das Vergabeverfahren bei fortbestehender Beschaffungsbedarf neu beginnen. In der Gestaltung der Vergabeunterlagen steht ihm ein weiter Beurteilungsspielraum zu.

f. Die Frage, ob und ggf. in welchem Maße der Antragstellerin aufgrund der nicht durch § 63 VgV gedeckten Aufhebung ein Schadensersatzanspruch erwächst, ist gemäß § 179 GWB ggf. vor dem zuständigen ordentlichen Gericht zu klären und nicht Gegenstand des Nachprüfungsverfahrens. Der Auftraggeber hat im Schreiben vom 25.05.2021 gegenüber der Vergabekammer angekündigt, dass er den Beschaffungsbedarf in der neuen Ausschreibung neu beschreiben und veröffentlichen werde. Er hat zugesichert, dass jeder Bieter die diskriminierungsfreie Chance erhalten werde, sich an der neuen Ausschreibung zu beteiligen und ein Angebot abzugeben. Die Vergabekammer hat daher keinen Anhaltspunkt dafür, dass die berechtigten Interessen der Antragstellerin aus § 97 Abs. 6 GWB auf Einhaltung der Bestimmungen über das Vergabeverfahren durch die neue Vergabe verletzt werden. Die Beschaffungsabsicht des Antragsgegners besteht fort, allerdings nicht unverändert.

Die Ausführungen der Antragstellerin, ihr Produkt erhalte aufgrund ihres Materialeinsatzes in allen Vergabeverfahren regelmäßig mit Abstand die meisten Punkte, wird aus den vorliegenden Vergabeunterlagen zu den oben genannten Nachprüfungsverfahren nicht bestätigt.

Der Schutz vor weiteren teilnehmenden Bietern ist nicht Gegenstand eines Vergabenachprüfungsverfahrens. Die Wahl eines Vergabeverfahrens mit mehr Wettbewerb ist nicht vergaberechtswidrig (OLG Naumburg, Beschluss vom 25.09.2008, 1 Verg 3/08).

g. Die Antragstellerin hat keinen Anspruch aus § 165 GWB auf erweiterte Akteneinsicht über das gewährte Maß hinaus. Dem Antrag stehen weiter erhebliche Gesichtspunkte des Geheimschutzes entgegen.

Die Antragstellerin wendet sich mit ihrem Nachprüfungsantrag gegen die Aufhebung und verlangt die Fortsetzung der Vergabe im alten Verfahren. Die Vergabekammer hat ihr insoweit Akteneinsicht durch Einsichtnahme in den ungeschwärzten Vermerk vom 21.05.2021 gewährt. Damit ist der Gegenstand des Nachprüfungsantrages vollständig Gegenstand der Akteneinsicht gewesen. Die Antragstellerin wendet sich mit ihrem Nachprüfungsantrag nicht gegen das Ergebnis der wiederholten Wertung vom April 2021. Sie lag dort in der kombinierten Wertung aus Preis und Leistung auf Platz 1. Eine Beschwer hinsichtlich der Wertung erscheint daher ausgeschlossen. Eine Erweiterung des Nachprüfungsantrags auf die Wertung wäre unzulässig. Akteneinsicht ist nur insoweit zu gewähren, als ein zulässiger Nachprüfungsantrag vorliegt (Kadenbach in: Willenbruch/Wieddekind, Vergaberecht Kompaktkommentar, § 165 GWB, Rn. 6, 7). Eine Erhöhung der Zuschlagschancen durch Einsichtnahme in die Wertung erscheint daher unmöglich. Insofern gibt es auch keinen Grund, ihr in die Dokumentation der Wertung Akteneinsicht zu gewähren. Der weitergehende Akteneinsichtsantrag ist daher nicht durch den Nachprüfungsantrag gedeckt.

Die Unterlagen, die bereits Gegenstand des Nachprüfungsverfahrens VgK-53/2020 waren, hatte sie bereits in jenem Verfahren zur Einsicht erhalten, so dass auch in Bd. 1 der Vergabeunterlagen kein sachlich gerechtfertigtes Bedürfnis besteht, diese Unterlagen wiederum einzusehen. Die wiederholte Einsicht in bereits vorgelegte Vergabeunterlagen, die der Antragsgegner nun aber wiederum neu in PDF-Dokumenten zusammengestellt hat, enthält für die Vergabekammer die Gefahr, dass bei der wiederholten Schwärzung eigentlich bereits bekannter Inhalte Fehler entstehen, die dazu führen, dass der Antragsteller Inhalte erfährt, die Gegenstand von Betriebsgeheimnissen sind oder dem Geheimschutz unterliegen. Es ist daher zulässig, auf die bereits erfolgte Akteneinsicht im Verfahren VgK-53/2020 zu verweisen.

Die Vergabekammer hat einen weiteren Grund, die Akteneinsicht zu beschränken. Im Verfahren VgK-53/2020 wurde vom Antragsgegner mit Unterstützung des Datenschutzbeauftragten der xxxxxx berechtigt darum gebeten, die persönlichen Daten der testenden Polizeibeamtinnen und -beamten vertraulich zu halten. Die Vergabekammer hat daher eine entsprechende Zusicherung in der Verfügung vom 19.01.2021 gegeben. Daran ist sie auch in diesem Verfahren gebunden. Den Mitgliedern der Vergabekammer ist dienstlich bekannt, dass alle persönlichen Daten von Polizeibeamten grundsätzlich in erhöhtem Maße vertraulich zu behandeln sind, um von Dritten veranlasste Bemühungen um Ausforschung im Ansatz zu unterbinden. Durch die zeitlich nicht beschränkbare Verfügbarkeit von Daten im Internet ist es möglich, verschiedene eigentlich eher unproblematische persönliche Daten nachträglich so zu verknüpfen, dass unerwünschte Zuordnungen langfristig möglich bleiben. Die Vergabekammer geht daher nicht über die mit dem Antragsgegner seinerzeit erörterte Offenlegung hinaus.

h. Durch die Kostenentscheidungen in den Nachprüfungsverfahren VgK-53/2020 und VgK16/2021 sind keine Wettbewerbsnachteile im Verhältnis der Antragstellerin zur xxxxxx eingetreten. Im Kostenbeschluss vom 01.06.2021 wurde aufgrund der von der Vergabekammer vorzunehmenden Festsetzung des Gegenstandswertes die Angebotssumme der xxxxxx benannt, in der Kostenentscheidung des Beschlusses vom 11.02.2021 die Angebotssumme der Antragstellerin. Dies folgt notwendigerweise daraus, dass sich der Gegenstandswert des Nachprüfungsverfahrens aus dem Interesse der jeweiligen Antragstellerin am Auftrag ergibt und sich deshalb mit ihrem Angebotspreis deckt. Die Zurückversetzung eines Vergabeverfahrens nach Offenlegung der Angebotspreise enthält zwar u.a. wegen der Offenlegung der Angebotspreise vergaberechtliches Konfliktpotential, ist aber in vielen Fällen unvermeidlich, weil erforderlich (vgl. VK Niedersachsen, Beschluss vom 10.07.2019, VgK-22/2019 "CO2 Gutschrift"). Die Offenlegung der Angebotspreise in der Kostenentscheidung enthält wie die partielle Information über weitere Teilnehmer am Vergabeverfahren gerade bei Zurückversetzungen immer eine Kollision von Betriebsgeheimnissen und Begründungspflicht. Eine gesetzliche Lösung dieses Konflikts liegt nicht vor. Die Antragstellerin wird wie alle ihre Konkurrentinnen, die entweder wissen, dass die bisherigen Angebote nicht ausreichten, oder aber nicht sicher sein können, ob das abgegebene Angebot ausreichen wird, nun neu kalkulieren müssen. Die Neukalkulation des Angebots ist etwas anderes als die unzulässige Nachforderung einzelner Preise (vgl. VK Bund, Beschluss vom 10.06.2021 - VK 1-34/21, "Sturmgewehr"; VK Niedersachsen, Beschluss vom 10.07.2019, VgK-22/2019 "CO2 Gutschrift").

3. Gemäß § 168 GWB trifft die Vergabekammer die geeigneten Maßnahmen, um eine Rechtsverletzung zu beseitigen und eine Schädigung der betroffenen Interessen zu verhindern. Sie ist dabei an die Anträge nicht gebunden und kann auch unabhängig davon auf die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens einwirken.

Hier liegt gemäß § 168 Abs. 1 GWB eine Rechtsverletzung vor, die von der Vergabekammer festzustellen ist. Soweit die Antragstellerin darüber hinaus beantragt hat, den Antragsgegner zu verpflichten, die Aufhebung des Vergabeverfahrens rückgängig zu machen und erneut in die Angebotswertung einzutreten, war der Nachprüfungsantrag dagegen zurückzuweisen. Die i. S. der Rechtsprechung aus sachlichen Gründen erfolgte Aufhebung ist entgegen der Auffassung der Antragstellerin rechtswirksam erfolgt.

III. Kosten

Die Kostenentscheidung folgt aus § 182 GWB.

Die in Ziffer 3 des Tenors festgesetzte Gebühr ergibt sich aus einer Interpolation des Auftragswertes innerhalb des Gebührenrahmens gemäß § 182 Abs. 2 GWB. Die von der Vergabekammer festzusetzende regelmäßige Mindestgebühr beträgt 2.500 €, die Höchstgebühr 50.000 € und die Höchstgebühr in Ausnahmefällen 100.000 €.

Die Gebührenermittlung erfolgt anhand einer Gebührentabelle des Bundeskartellamtes in der zzt. gültigen Fassung vom Dezember 2009. Hiernach wird der Mindestgebühr von 2.500 € eine Ausschreibungssumme von bis zu 80.000 € zugeordnet und dem regelmäßigen Höchstwert von 50.000 € eine Ausschreibungssumme von 70 Mio. € (höchste Summe der Nachprüfungsfälle 1996 - 1998) gegenübergestellt. Dazwischen wird interpoliert.

Nach dem Angebot der Antragstellerin legt die Vergabekammer dessen den Wert von netto xxxxxx € zugrunde. Die Optionen sind inhaltlich nicht bestimmt, weil der Umfang der Nachlieferung unklar bleibt. Sie können daher in diesem Fall nicht zu 50 % des angenommenen Wertes hinzugerechnet werden. Hinzu kommt die Umsatzsteuer von 19 %. Somit beträgt der Verfahrenswert xxxxxx € brutto. Dieser Betrag entspricht dem mutmaßlichen Interesse der Antragstellerin am Auftrag.

Bei einer Vergabesumme von xxxxxx € brutto ergibt sich eine Gebühr in Höhe von xxxxxx €. Diese Gebühr schließt einen durchschnittlichen sachlichen und personellen Aufwand ein. Gutachterkosten oder Kosten durch Zeugenvernehmungen in der mündlichen Verhandlung sind nicht angefallen.

Die in Ziffer 4 des Tenors verfügte Kostenlast folgt aus § 182 Abs. 3 Satz 1 GWB. Danach hat ein Beteiligter, soweit er im Nachprüfungsverfahren unterliegt, die Kosten zu tragen. Der Begriff der Kosten umfasst sowohl die Gebühren, als auch die Auslagen der Vergabekammer. Da Antragstellerin und Antragsgegner in der Hauptsache jeweils teilweise unterliegen, haben beide auch anteilig die Kosten zu tragen. Eine Kostenteilung ist vorliegend angemessen.

Der Antragsgegner ist jedoch von der Entrichtung seines Gebührenanteils gemäß § 182 Abs. 1 Satz 2 GWB i. V. m. § 8 Abs. 1 Nr. 3 BVerwKostG persönlich befreit (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 13.07.2005, Az.: 13 Verg 9/05; OLG Dresden, Beschluss vom 25. 01. 2005, Az.: WVerg 0014/04). Zwar ist das BVerwKostG mit Wirkung vom 15.08.2013 aufgehoben worden, jedoch ist es aufgrund der starren Verweisung aus § 182 Abs. 1 Satz 2 GWB auf das BVerwKostG in der Fassung vom 14.08.2013 hier weiter anzuwenden. Inhaltlich entspricht die dortige Regelung § 8 BGebG.

Gemäß Ziffer 5 des Tenors hat die Antragstellerin dem Antragsgegner die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Aufwendungen gemäß § 182 Abs. 4 Satz 1 GWB zu 1/2 zu erstatten. Die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts ist erforderlich.

Ebenso hat der Antragsgegner der Antragstellerin die zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung entstandenen notwendigen Aufwendungen gemäß § 182 Abs. 4 Satz 1 GWB zu 1/2 zu erstatten. Auch hier war die Hinzuziehung eines Rechtsanwalts erforderlich.

Hier gilt zunächst das zu Ziffer 4. des Tenors Ausgeführte. Die anwaltliche Vertretung der Antragstellerin ist regelmäßig im Vergabenachprüfungsverfahren erforderlich. So hat dies die Vergabekammer auch im zum streitgegenständlichen Vergabeverfahren geführten Nachprüfungsverfahren VgK-53/2020 bestandskräftig entschieden.

Die anwaltliche Vertretung des Auftraggebers im Nachprüfungsverfahren gehört nicht grundsätzlich zu den notwendigen Aufwendungen zur zweckentsprechenden Rechtsverfolgung oder Rechtsverteidigung. Grundsätzlich ist der Auftraggeber gehalten, im Rahmen seiner Möglichkeiten vorhandenes juristisch geschultes Personal auch im Nachprüfungsverfahren einzusetzen. Auftragsbezogene Rechtsfragen aus dem Bereich der VgV oder EU-VOB/A wird regelmäßig das mit der Vergabe betraute Personal sachkundig beantworten können, so dass die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes regelmäßig nicht notwendig sein wird, wenn der öffentliche Auftraggeber in einer ex ante zu Beginn eines Nachprüfungsverfahrens (vgl. OLG Frankfurt, Beschluss vom 30.07.2013 - 11 Verg 7/13) zu erstellenden Prognose zu dem Ergebnis gelangt, dass auftragsbezogene Fragen Gegenstand des Nachprüfungsverfahrens sein werden (vgl. OLG Düsseldorf, Beschluss vom 28.01.2011, Verg 60/10; OLG Celle, Beschluss vom 09.02.2011, 13 Verg 17/10; OLG Karlsruhe, Beschluss vom 16.06.2010, 15 Verg 4/10; OLG München, Beschluss vom 11.06.2008, Verg 6/08, und vom 28.02.2011, Verg 23/10; OLG Dresden, Beschluss vom 14.11.2012 - Verg 8/11). Andererseits ist das Vergaberecht eine komplexe Rechtsmaterie mit Vorschriften aus sowohl nationalem Recht als auch dem Europarecht, die nicht immer im Gleichklang stehen. Soweit der Gegenstand des Nachprüfungsverfahrens daher hauptsächlich rechtliche Probleme des GWB umfasst, ist im Einzelfall die anwaltliche Vertretung des Antragsgegners durchaus angemessen.

Hier ist der die Antragsgegner vertretende Landesbetrieb die landesweit zuständige, zentrale Vergabestelle für Dienst- und Lieferverträge. Er sollte daher grundsätzlich personell ausreichend aufgestellt sein, um vergaberechtliche Fragen selbst bearbeiten zu können. Diese Auffassung vertritt die Vergabekammer regelmäßig auch gegenüber den Vergabestellen der landeseigenen Bau- und Straßenbauverwaltungen.

Bei dem Antragsgegner fehlt allerdings nach dem Kenntnisstand der Vergabekammer bisher eine ausreichende Personalausstattung, um schwierige Verfahrensfragen mit eigenem Personal zu lösen. Daher wurde ihm in der Vergangenheit die Hinzuziehung anwaltlicher Unterstützung als notwendig anerkannt (vgl. OLG Celle, Beschlüsse vom 19.03.2019, 13 Verg 7/18 und 13 Verg 1/19). Rechtlich handelt es sich um eher überdurchschnittlich schwierig gelagerte Fragen zum Verfahrensrecht in GWB und VgV. Der Auftragswert, das dringende Sicherungsbedürfnis der Polizeibediensteten und die erhebliche Dauer des bisherigen Vergabeverfahrens begründen hier zusätzlich eine besondere Bedeutung für den Auftraggeber und rechtfertigen in der Gesamtschau die Hinzuziehung eines Bevollmächtigten (vgl. VK Bund, Beschluss vom 10.06.2021 - VK 1-34/21, "Sturmgewehr").

Die Hinzuziehung eines Rechtsanwaltes war daher für den Antragsgegner insbesondere unter dem Gesichtspunkt der Waffengleichheit in diesem Einzelfall als notwendig anzuerkennen (vgl. OLG Celle, Beschluss vom 19.03.2019, 13 Verg 1/19; Beschluss VgK Niedersachsen, Beschluss vom 31.01.2012, VgK-58/2011; Beschluss vom 18.09.2012 VgK 36/2012).

Die Antragstellerin wird aufgefordert, innerhalb einer Frist von einem Monat nach Rechtskraft dieses Beschlusses den Betrag von xxxxxx € unter Angabe des Kassenzeichens

xxxxx

auf folgendes Konto zu überweisen:

xxxxxx

IV. Rechtsbehelf

...

Gause
Peter
Woll