Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 15.08.2018, Az.: S 2 U 61/17
Gewährung einer Rente nach einer Minderung der Erwerbsfähigkeit (MdE) i. H. v. 30 v.H.
Bibliographie
- Gericht
- SG Lüneburg
- Datum
- 15.08.2018
- Aktenzeichen
- S 2 U 61/17
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2018, 33318
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlage
- § 56 Abs. 1 SGB VII
Tenor:
- 1.)
Der Bescheid der Beklagten vom 19.12.2016 und der Widerspruchsbescheid vom 23.05.2017 werden aufgehoben.
- 2.)
Die Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger aufgrund der anerkannten Berufskrankheit nach der Ziffer 4103 der Anlage 1 zur BKV ab dem 01.06.2016 eine Rente nach einer MdE i. H. v. 30 % zu gewähren.
- 3.)
Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu erstatten.
Tatbestand
Die Beteiligten streiten um die Gewährung einer Rente.
Der im Jahr 1937 geborene Kläger stammt aus der Türkei. Seit 1965 hält er sich in der Bundesrepublik Deutschland auf. Von 1965 - 1971 war er in verschiedenen Werftbetrieben, wo zum Teil eine Asbestexposition bestand, beschäftigt. Von 1981 - 1997 arbeitete er als selbständiger Gastronom in Lüneburg.
Am 20.05.2005 erstattete der behandelnde Lungenarzt H. die ärztliche Anzeige über das Vorliegen einer Berufskrankheit nach der Ziffer 4103 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung (hier: BK 4103). Beim Kläger würde eine chronische Pleuritis mit Einblutungen bestehen. Aufgrund des Zusammenhangsgutachtens von I. vom 31.08.2005 erkannte die Beklagte mit Bescheid vom 28.09.2006 beim Kläger eine BK 4103 an. Bei der Anerkennung sei die Tätigkeit als Tischler in der Firma J. vom 29.03.1965 - 31.05.1966 berücksichtigt worden. Als Folgen der Berufskrankheit wurden anerkannt:
- teils verkalkende Plaques des Brustfells (Pleuraplaques) links
sowie Pleuraverdickung rechts i. S. einer Pleuraasbestose
ohne Einschränkung der Lungenfunktion.
Die Erkrankung sei nicht behandlungsbedürftig und habe keine rentenberechtigende Minderung der Erwerbsfähigkeit (= MdE) zur Folge. Ansprüche auf Leistungen wegen der Berufskrankheit würden nicht bestehen (Bl. 7 der Akte der Beklagten (= BA)). Der Bescheid wurde bestandskräftig.
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Vom 24.04.2009 - 05.05.2009 befand sich der Kläger zur stationären Behandlung im Klinikum K., wo am 27.04.2009 eine retropubische radikale Prostataektomie mit regionaler Lymphadenektomie durchgeführt wurde.
Im Pflegegutachten des Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung Niedersachsen (= MDKN) vom 07.08.2012 wurde festgestellt, dass beim Kläger seit Juni 2012 die Pflegestufe 1 bestehen würde (Bl. 199 BA). Er würde alleine leben und von vier Pflegepersonen, die sich jeweils unter 14 Stunden pro Woche um ihn kümmern würden, betreut. Der Zeitaufwand für die Grundpflege und die hauswirtschaftlichen Versorgung würde insgesamt 11 Stunden und 19 Minuten/Woche betragen. Es wurde ausgeführt, dass der Positionswechsel vom Liegen zum Sitzen und umgekehrt mühsam sei. Das Gangbild mit Hilfsmittel sei vornübergebeugt, kleinschrittig und verlangsamt. Die Greiffunktionen und die Koordination seien aber zielsicher. Die Visusminderung sei mit Brille korrigiert, das Hören, die Sprache und das Sprachverständnis seien uneingeschränkt. Im Bereich des Nervensystems, der Psyche und der Alltagskompetenz würden keine Einschränkungen bestehen. Der Kläger sei zu allen Qualitäten orientiert und können sich selbstständig beschäftigen.
Mit dem Bescheid vom 14.03.2013 stellte das niedersächsische Landesamt für Soziales, Jugend und Familie einen Grad der Behinderung (= GdB) von 100 sowie das Merkzeichen G fest. Die Erkrankung der Prostata wurde mit einem Einzel-GdB von 80, die Lungenfunktionseinschränkungen mit einem Einzel-GdB von 30, das degenerative Wirbelsäulenleiden mit einem Einzel-GdB von 20 und der Diabetes Typ 2 mit einem Einzel-GdB von 10 bewertet (Bl. 217 BA).
Im Bericht vom 14.03.2014 führte H. aus, dass beim Kläger "eine chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung - formal eine COPD mit Schweregrad 2 -, eine anerkannte BK 4103, ein nicht insulinpflichtiger Diabetes mellitus Typ 2 und der Folgezustand des Prostatakarzinoms" vorliegen würden. Der Kläger würde unter der aktuellen atemwegsspezifischen Medikation zurechtkommen.
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Im Bericht vom 01.06.2016 führte H. aus, dass die fibrosierenden Veränderungen der Lunge bei bekannter Asbestose im Verlauf deutlich zugenommen hätten. Als Korrelat hierzu würde eine Abnahme der Funktionskapazität der Lungen bestehen. Eine bereits im Juli 2015 festgestellte restriktive Ventilationseinschränkung würde unverändert fortbestehen. Insgesamt sei von einer Zunahme der Folgen der BK 4103 auszugehen, sodass eine Neubewertung sinnvoll sei.
Unter dem 17.10.2016 erstattete L. im Auftrag der Beklagten ein Zusammenhangsgutachten. Darin wurde zunächst darauf hingewiesen, dass der Kläger die Praxis unter Benutzung von öffentlichen Verkehrsmitteln und eines Taxis erreicht habe, sich mit einem Rollator fortbewegen würde und in der Beweglichkeit und Mobilität sehr eingeschränkt und kurzatmig sei. Bei zügigerem Gehen oder beim Reden sei er schnell außer Atem, beim tiefen Einatmen habe er Bauchschmerzen. Sein Gesamtbefinden habe sich in den letzten Jahren sehr verschlechtert. In mehreren Messungen sei jetzt eine pathologische Einschränkung der Vitalkapazität festgestellt worden. Diese restriktive Ventilationsstörung sei auf die Asbestinhalationsfolgen zurückzuführen. Es sei somit eine wesentliche Änderung eingetreten. Die MdE sei ab dem 31.05.2016 mit 30 % einzuschätzen. Es gebe keine Hinweise, dass bereits im Jahr 2006 eine völlige und dauernde Erwerbsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Unfallversicherung (= gUV) vorgelegen habe.
Mit dem Schreiben vom 16.10.2016 teilte die Beklagte L. mit, dass "nach der neueren Rechtsprechung" für die Beurteilung der völligen Erwerbsunfähigkeit i. S. der gUV stets auf den Leistungsfall, d. h. den Zeitpunkt, ab dem Funktionseinschränkungen in rentenberechtigendem Maße bestehen würden, abzustellen sei. Es werde um Mitteilung gebeten, ob der Kläger am 31.05.2016 völlig erwerbsunfähig gewesen sei.
Mit dem Schreiben vom 24.10.2016 teilte L. der Beklagten mit, dass unabhängig von der beruflichen Asbestexposition eine Erkrankung i. S. eines Prostatakarzinoms mit der Notwendigkeit der Versorgung mit einem suprapubischen Blasenkatheter bestanden habe. Außerdem seien eine Schmerzsymptomatik im Bereich der Wirbelsäule sowie der Knie, ein Diabetes mellitus und eine chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung bekannt. Eine wesentliche Obstruktion habe allerdings zum Zeitpunkt der gutachterlichen Untersuchung nicht vorgelegen. Bei der Beurteilung, ob eine völlige Erwerbsunfähigkeit vorgelegen habe, seien alle Krankheiten des Versicherten zu berücksichtigen, an denen er vor Eintritt des Leistungsfalls gelitten hat oder leidet. Es sei nicht zu erkennen, dass der Kläger noch über einen nennenswerten Rest einer auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt verwertbaren Erwerbsfähigkeit verfügen würde. Unter Berücksichtigung der bekannt gewordenen Einschränkungen und des sich im Rahmen der gutachterlichen Untersuchung darstellenden eingeschränkten Belastungsvermögen sei somit festzustellen, dass der Kläger zum Zeitpunkt des erstmaligen MdE-Beginns bereits völlig erwerbsunfähig gewesen sei.
Mit dem Bescheid vom 19.12.2016 stellte die Beklagte fest, dass der "Versicherungsfall" der BK 4103 am 31.05.2016 eingetreten sei, da an diesem Tag erstmals eine Behandlungsbedürftigkeit aufgrund der BK-Folgen bestanden habe. Außerdem wurden nachstehende Berufskrankheitenfolgen anerkannt:
- radiologisch nachgewiesene, asbesttypische Veränderungen der Pleura (Rippenfell) sowie in den basalen unteren Abschnitten der Lunge mit Einschränkung der statischen Lungenfunktionsparameter, vereinbar mit einer mittelgradigen restriktive Ventilationsstörung (Verringerung des Fassungsvermögens der Lunge für Luft).
Außerdem wurde festgestellt, dass folgenden Gesundheitsstörungen keine BK-Folgen sind:
- Prostatakarzinom (bösartige Tumorerkrankung des Drüsengewebes der Vorsteherdrüse) mit der Notwendigkeit einer suprapubischen (oberhalb des Schambeins gelegenen) Blasenkatheterversorgung,
- eine behandlungsbedürftige chronisch-obstruktive Atemwegserkrankung,
- eine bestehende Schmerzsymptomatik im Bereich der Wirbelsäule und der Knie sowie
- ein Diabetes mellitus.
Die Gewährung einer Rente wurde abgelehnt. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die BK 4103 keine rentenberechtigende MdE zur Folge habe, weil der Kläger aufgrund der genannten, unabhängig von der BK vorliegenden Erkrankungen zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls bereits völlig erwerbsunfähig gewesen sei.
Mit dem hiergegen erhobenen Widerspruch wurde geltend gemacht, dass der Kläger zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls noch in der Lage gewesen sei, einfachere Tätigkeiten zu verrichten. Der Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 23.05.2017 zurückgewiesen. Darin wurde ergänzend ausgeführt, dass beim Kläger bereits im Juni 2012 ein GdB von 100 festgestellt worden sei. Nach den vorliegenden Unterlagen sei nicht davon auszugehen, dass er noch in der Lage sei, in gewisser Regelmäßigkeit einen nennenswerten Verdienst auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt zu erzielen.
Hiergegen hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 06.06.2017 beim Sozialgericht (= SG) Lüneburg Klage erhoben und geltend gemacht, dass der Kläger trotz seiner multiplen Erkrankungen noch einzelne leichte Arbeiten in ausreichendem Umfang erledigen könne. Im Schriftsatz vom 19.11.2017 hat die Beklagte die Ansicht vertreten, dass im Gegensatz zur Rechtslage beim Arbeitsunfall aufgrund der Vorschrift des § 9 Abs. 5 SGB VII bei Berufskrankheiten für die Frage der völligen Erwerbsunfähigkeit nicht auf den Versicherungsfall, sondern immer auf den Zeitpunkt des Leistungsfalls abzustellen sei. Die Beklagte habe somit für die Frage des Vorliegens der völligen Erwerbsminderung den 31.05.2016 herangezogen, da an diesem Tag erstmalig eine rentenberechtigende MdE festgestellt worden sei.
Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,
- 1.)
den Bescheid der Beklagten vom 19.12.2016 und den Widerspruchsbescheid vom 23.05.2017 aufzuheben,
- 2.)
Die Beklagte zu verurteilen, dem Kläger aufgrund der anerkannten Berufskrankheit nach der Ziffer 4103 der Anlage 1 zur BKV eine Rente nach einer MdE i. H. v. 30 % zu gewähren.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Entscheidung wurden die Gerichtsakten und die Akten der Beklagten zugrunde gelegt. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Die angefochtenen Entscheidungen der Beklagten sind rechtswidrig und waren aufzuheben, da der Kläger ab dem 01.06.2016 einen Anspruch auf die Gewährung einer Rente nach einer MdE i. H. v. 30 % hat.
Gem. § 56 Abs. 1 SGB VII wird eine Rente gewährt, wenn die MdE aufgrund des Versicherungsfalls mindestens 20 % beträgt. Dabei ist der Grundsatz der abstrakten Schadensbemessung zu beachten. Dies bedeutet, dass mit der Rente weder ein Vermögensschaden noch eine Einkommenseinbuße ausgeglichen wird. Es kommt insbesondere auch nicht darauf an, ob ein Verletzter mit den Unfallfolgen weiterhin seine bisherige Tätigkeit ausüben kann. Das versicherte Rechtsgut ist vielmehr der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit auf dem allgemeinen Arbeitsmarkt (vgl. Bereiter-Hahn/Mertens, gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar, § 56 SGB VII, Rz. 10). Nach den überzeugenden Ausführungen von Dr. O. besteht beim Kläger aufgrund der anerkannten BK 4103 grundsätzlich eine MdE i. H. v. 30 %. Dies ist zwischen den Beteiligten auch unstreitig.
Allerdings kann nach ständiger Rechtsprechung des Bundessozialgerichts (= BSG) eine MdE nicht mehr eintreten, wenn zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls bereits völlige Erwerbsminderung bestand: War der Verletzte schon zum Zeitpunkt des Arbeitsunfalls dauernd völlig erwerbsunfähig, sodass er keine Erwerbsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens mehr hatte und keinen nennenswerten Verdienst mehr erzielen konnte, dann ist es schon begrifflich ausgeschlossen, dass sich der durch den Arbeitsunfall hervorgerufene Gesundheitsschaden noch zusätzlich durch einen unfallbedingten Verlust an Erwerbsmöglichkeiten auf dem Gesamtgebiet des Erwerbslebens auswirken kann; es fehlt dann an einer MdE infolge des Arbeitsunfalls im Sinne des § 581 Abs. 1 S. 1 RVO (BSGE 70, 177 = SGb 1992, 616, 617 [BSG 17.03.1992 - 2 RU 20/91]). Diese Grundsätze haben sich auch mit dem Inkrafttreten des SGB VII nicht geändert.
Völlige Erwerbsunfähigkeit im Sinn der gUV ist allerdings nicht mit der Erwerbsunfähigkeit im Sinne der gesetzlichen Rentenversicherung gleichzusetzen. Auch der GdB nach dem Schwerbehindertenrecht erlaubt grundsätzlich keine Aussage darüber, ob eine völlige Erwerbsunfähigkeit i. S. der gUV vorliegt. Die Anforderungen sind insoweit strenger. Sie liegt erst vor, wenn die Fähigkeit fehlt, trotz Nutzung aller nach seinen Kenntnissen und Fähigkeiten gegebenen Arbeitsmöglichkeiten im gesamten Wirtschaftsleben noch einen nennenswerten Verdienst zu erzielen (BSGE 17, 160 [BSG 29.06.1962 - 2 RU 159/61]). Dies ist nicht gegeben, wenn Verdienstmöglichkeiten durch einfache Schreib- und Büroarbeiten an mehreren Tagen in der Woche für einige Stunden z. B. nur in Heimarbeit möglich sind. Auf die tatsächliche Aussicht, eine solche Stelle zu erhalten, kommt es nicht an (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Kommentar zu Unfallversicherung § 56 SGB VII: 10.08., m. w. N.). Im vorliegenden Fall ist es fraglich, ob beim Kläger zum Zeitpunkt des vom Beklagten angenommenen Leistungsfalls vom 31.05.2016 eine solche Leistungseinbuße vorlag. Zwar konnte sich der Kläger zu diesem Zeitpunkt nur eingeschränkt mittels eines Rollators fortbewegen, wobei aufgrund der Lungenfunktionseinschränkungen zusätzlich eine Kurzatmigkeit bestand. Allerdings war er zu diesem Zeitpunkt immer noch in der Lage, alleine und selbstständig mittels öffentlichen Verkehrsmittel und Taxi zum Untersuchungstermin von K. nach M. zu fahren und in ausreichender Weise mit dem Gutachter zu kommunizieren. Aus den Feststellungen des Pflegegutachtens lässt sich entnehmen, dass beim Kläger keine Einschränkungen der Greifformen, der Koordination, der Sprache und des Sprachverständnisses sowie des Hörens vorlagen und keine Anzeichen für Gesundheitsstörungen im Bereich der Nerven und der Psyche vorhanden waren. Es bestand insbesondere keine Einschränkung der Alltagskompetenz. Hinzu kommt, dass L. für seine Beurteilung der völligen Erwerbsunfähigkeit den Gesamtzustand des Klägers bei seiner Untersuchung gewürdigt hat. Zur Beurteilung der völligen Erwerbsunfähigkeit vor dem Versicherungsfall hätte er jedoch die Folgen der Berufskrankheit und die damit verbundenen Funktionseinschränkungen unberücksichtigt lassen müssen, da diese zum versicherten Risiko zählen. Die Folgen der anerkannten BK, die L. immer in mit einer MdE von 30 % bewertet hat, waren jedoch im vorliegenden Fall für den Gesamtzustand besonders gravierend, da sie für die Kurzatmigkeit des Klägers sowie für die Schmerzen beim Einatmen hauptverantwortlich sind. Demgegenüber konnten wesentliche Einschränkungen aufgrund der früher festgestellten Obstruktion zum Zeitpunkt der gutachterlichen Untersuchung durch L. nicht festgestellt werden. Es bestehen daher erhebliche Zweifel, ob der Kläger tatsächlich nicht mehr in der Lage gewesen ist, einfache Schreib- und Büroarbeiten (bspw. Übersetzertätigkeiten) an mehreren Tagen in der Woche für einige Stunden in Heimarbeit zu verrichten.
Allerdings müssen diese Fragen im vorliegenden Fall nicht vertieft werden, da die Beklagte für die Frage der völligen Erwerbsunfähigkeit in unzutreffender Weise auf den Zeitpunkt des Leistungsfalls, d. h. auf den 30.05.2016, abgestellt hat. Nach der Rechtsprechung des BSG ist es jedoch - insbesondere im Bereich des Berufskrankheitenrechts - erforderlich, zwischen Versicherungsfall einerseits und Leistungsfall andererseits zu unterscheiden: Die Regelung in § 551 Abs. 3 RVO - bzw. jetzt § 9 Abs. 5 SGB VII - bestimmt nur den Leistungsfall, für den allein - und nicht nur auch zugleich für den Versicherungsfall - der Beginn der Krankheit im Sinn der Krankenversicherung oder der Beginn der MdE wesentlich ist. Indessen entspricht es dem einheitlichen Zweck der gUV, den Eintritt eines Gesundheitsschadens, der unter diesen Voraussetzungen oder infolge eines Arbeitsunfalls entstanden ist, als den Versicherungsfall in der gUV zu begreifen. Darunter kann im Sozialversicherungsrecht grundsätzlich das Ereignis im Leben des Versicherten verstanden werden, dass bei seinem Eintritt spezifische Nachteile und Gefährdungen für den Versicherten mit sich bringt, gegen die die Versicherung Schutz gewähren soll. (BSG, Urt. v. 27.07.1989 - 2 RU 54/88). Dieses Ereignis wurde beim Kläger jedoch bereits mit der Feststellung der Asbestose durch den Bescheid vom 28.09.2006 bestimmt, auch wenn die Beklagte später - terminologisch unrichtig - im angefochtenen Bescheid vom 19.12.2016 den 30.05.2016 als "Versicherungsfall" bezeichnet hat. Gemeint war insoweit offensichtlich der Leistungsfall. Der Versicherungsfall der BK 4103 dürfte hier mit der Feststellung der Asbestose, d. h. spätestens mit der Begutachtung durch N. (31.08.2005) eingetreten sein.
Weiterhin hat das BSG in bereits seit langem entschieden, dass für die Frage, ab wann eine völlige Erwerbsunfähigkeit im Sinn der gUV vorliegt, auf den Versicherungsfall und nicht auf den Leistungsfall, d. h. den Beginn der MdE, abzustellen ist (BSGE 70, 177 ff. [BSG 17.03.1992 - 2 RU 20/91]). Sofern der Verletzte vor dem Arbeitsunfall noch nicht völlig erwerbsunfähig war (individuelle Erwerbsfähigkeit), "richtet sich die Haftung des Unfallversicherungsträgers aufgrund des Arbeitsunfalls in dem Entschädigungsverhältnis zum Verletzten ausschließlich aber auch ein für alle Mal, d. h. für die ganze Dauer des Entschädigungsverhältnisses, nach dem Gesundheitsschaden, den der Arbeitsunfall hervorgerufen hat. Alle, aber auch nur diejenigen Gesundheitsstörungen die das Unfallereignis wesentlich bedingt hat, muss der Unfallversicherungsträger nach Maßgabe ihrer späteren Verbesserung oder Verschlimmerung entschädigen Dagegen sind spätere unfallunabhängige nach Schäden von der Entschädigungspflicht aus geschlossen, selbst wenn sie sich auf die Arbeitsunfallfolgen dahingehend auswirken, dass sie die unfallbedingte MdE verstärken. Vermag also ein unfallbedingter Nachschaden nicht zu einer Erhöhung der unfallbedingten MdE führen, so kann es einer solchen Erhöhung auch nicht entgegenstehen, wenn sich die Unfallfolgen wesentlich verschlimmert haben. Es ist deshalb schon im Ansatz rechtlich verfehlt, für die Bemessung der unfallbedingten MdE zu prüfen, ob im Vergleich zu den Verhältnissen im Zeitpunkt des erstmaligen Auftretens der unfallbedingten MdE der Verletzte schon unfallunabhängig völlig erwerbsunfähig war. Stattdessen ist der Vergleich auf die Verhältnisse im Zeitpunkt des Arbeitsunfalls abzustellen." In diesem Zusammenhang ist zu beachten, dass nach dem Recht bzw. der Terminologie der RVO auch eine Berufskrankheit als Arbeitsunfall anzusehen war (§ 551 Abs. 1 S. 1 RVO) und somit diese Entscheidung auch die Berufskrankheiten umfasst. Zum Zeitpunkt des o. g. Versicherungsfalls bestanden wiederum nach dem Gutachten O. keine Anhaltspunkte für eine völlige Erwerbsunfähigkeit des Klägers.
Eine "neuere Rechtsprechung" zu dieser Thematik, wie sie die Beklagte im Anschreiben an L. suggeriert hat, konnte sie auch auf mehrfache Nachfrage nicht benennen. Die Kammer kann nun keine triftigen Gründe erkennen, bei einer identischen Ausgangslage (keine MdE zum Zeitpunkt des Versicherungsfalls/völlige Erwerbsminderung zum Zeitpunkt der erstmaligen MdE) von den für den Arbeitsunfall höchstrichterlich aufgestellten Grundsätzen für den Fall einer Berufskrankheit zu Ungunsten des Versicherten abzuweichen. Nach der Rechtsprechung des BSG entspricht es vielmehr dem einheitlichen Zweck der gUV, den Eintritt eines Gesundheitsschadens, der infolge eines Arbeitsunfalls entstanden ist, als den Versicherungsfall in der gUV zu begreifen. Darunter kann den Sozialversicherungsrecht grundsätzlich das Ereignis im Leben des Versicherten verstanden werden, dass bei seinem Eintritt spezifische Nachteile und Gefährdungen für den Versicherten mit sich bringt, gegen den die Versicherung Schutz gewähren soll (BSG, Urt. v. 27.07.1989 - 2 RU 54/88). Es ist daher durch nichts gerechtfertigt, einem Versicherten diesen Schutz bei einer späteren Verschlimmerung der Folgen des Versicherungsfalls durch die Berufung auf eine später eingetretene völlige Erwerbsunfähigkeit, zu entziehen. Gerade der vorliegende Fall zeigt, dass die Parallelentwicklungen der unfallunabhängigen und unfallunabhängigen gesundheitlichen Verschlechterungen oft nicht einfach auseinanderzuhalten sind. Auch aus Gründen der Rechtssicherheit ist daher für hier streitgegenständliche Frage auf den Versicherungsfall abzustellen.
Aus § 9 Abs. 5 SGB VII kann die Beklagte keine für sie günstigeren Schlussfolgerungen ableiten. Die Vorschrift hat folgenden Wortlaut.
Soweit Vorschriften über Leistungen auf den Zeitpunkt des Versicherungsfalls abstellen, ist bei Berufskrankheiten auf dem Beginn der Arbeitsunfähigkeit oder Behandlungsbedürftigkeit oder wenn dies für den Versicherten günstiger ist, auf dem Beginn der rentenberechtigenden Minderung der Erwerbsfähigkeit abzustellen.
In dieser Norm wird jedoch nur der maßgebliche Zeitpunkt für den Beginn und die Berechnung von Leistungen festgelegt, wobei dies alternativ erfolgen kann, was für den Versicherten günstiger ist. Dieses Günstigkeitsprinzip beruht auf der Erwägung, dass es bei Berufskrankheiten für den Eintritt des schädigenden Ereignisses nur fiktive Zeitpunkte gibt. Für den spät an einer BK-Erkrankten soll der bestmögliche Risiko- oder Schadensausgleich für die durch die BK-bedingte Einkommenseinbuße erreicht werden (BSGE 73, 1 ,4). Beim günstigsten Vergleich ist nicht schematisch auf das frühere Datum, sondern auf das wirtschaftlich günstigere Gesamtergebnis unter Berücksichtigung der tatsächlich zu erbringenden Leistungen abzustellen (BSGE 26, 230 [BSG 28.04.1967 - 2 RU 42/66]; Bereiter/Hahn-Mertens: § 9 Rz. 8, 11).
Wenn nun aber nach der Rechtsprechung des BSG durch die Anwendung von § 9 Abs. 5 SGB VII stets die für den Versicherten günstigste Lösung herausgearbeitet werden muss, darf dies nach Auffassung der Kammer nicht dazu führen, dass unter Berufung auf das Günstigkeitsprinzip die für den Versicherten wirtschaftlich schlechteste Lösung, d. h. im vorliegenden Fall sogar die Ablehnung der Rente, von Unfallversicherungsträger ausgewählt wird. Dies widerspricht nicht nur dem Zweck der Vorschrift, sondern auch der Auslegungsregel des § 2 Abs. 2 SGB I, wonach sicherzustellen ist, dass bei der Auslegung der Vorschriften des SGB die sozialen Rechte möglichst weitgehend verwirklicht werden. Vor diesem Hintergrund wird angeregt, dass die Beklagte ihren grundsätzlichen Umgang mit Fällen dieser Art überdenkt.
Ergänzend wird darauf hingewiesen, dass sich aus der Berufskrankheitenanzeige von H. vom 20.05.2005 gleichwohl auch Hinweise für eine seinerzeitige Behandlungsbedürftigkeit der BK 4103 ergeben haben, da er eine chronische Pleuritis mit Einblutungen diagnostiziert hatte. Selbst bei (korrekter) Anwendung des § 9 Abs. 5 SGB VII hätte daher die Beklagte zunächst klären müssen, ob bereits im Jahr 2005 eine Behandlungsbedürftigkeit der BK 4103 bestanden hat und danach - entsprechend dem Günstigkeitsprinzip - ihre Entscheidung ausrichten müssen. Die Entscheidung der Beklagten ist daher auch in sich nicht stimmig.
Da L. eine rentenberechtigende MdE erstmalig ab dem 31.05.2016 festgestellt hat, steht dem Kläger in analoger Anwendung von § 72 Abs. 1 Nr. 2 SGB VII (Bereiter-Hahn/Mehrtens, a. a. O., § 72 SGB VII, 5.3) ab dem 01.06.2016 eine Rente nach einer MdE i. H. v. 30 % zu.
Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG.