Sozialgericht Lüneburg
Urt. v. 15.08.2018, Az.: S 2 U 118/15

Anerkennung des Versicherungsfalls einer Leibesfrucht i.R. der gesetzlichen Unfallversicherung

Bibliographie

Gericht
SG Lüneburg
Datum
15.08.2018
Aktenzeichen
S 2 U 118/15
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2018, 33317
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Tenor:

  1. 1)

    Die Bescheide der Beklagten vom 10.12.2013 und vom 19.11.2015 sowie die Widerspruchsbescheide vom 06.07.2015 und vom 15.06.2016 werden aufgehoben.

  2. 2.)

    Die Beklagte wird verpflichtet, den Bescheid vom 22.06.1995 zurückzunehmen.

  3. 3.)

    Es wird festgestellt, dass beim Kläger eine Berufskrankheit gem. § 12 SGB VII vorliegt.

  4. 4.)

    Es wird festgestellt, dass die beim Kläger bestehende Kiefer-Lippen-Gaumenspalte, Folge dieser Berufskrankheit ist.

  5. 5.)

    Die Beklagte wird verurteilt, dem Kläger die notwendigen außergerichtlichen Kosten zu einem Drittel zu erstatten.

  6. 6.)

    Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.

Tatbestand

Streitig ist die Anerkennung eines Versicherungsfalls gem. § 12 Siebtes Buch Sozialgesetzbuch (= SGB VII), d. h. der Versicherungsfall einer Leibesfrucht.

Der Kläger wurde am H. geboren (Bl. 8 der Akte der Beklagten (= BA) alt) und kam mit einer Kiefer-Lippen-Gaumenspalte zur Welt.

Zur beruflichen Schadstoffexposition der Mutter des Klägers:

Die im Jahr 1932 geborene Mutter des Klägers (hier: I.) war vom 18.01.1954 - 18.03.1954 im Hamburger Zweigwerk der FaJ. als Packerin bzw. Chemiewerkerin beschäftigt. In der betrieblichen Berufskrankheitenanzeige vom 21.11.1994 führte das Unternehmen aus, dass aufgrund des nur 2 Monate dauernden Einsatzes keine Angaben über die konkrete Tätigkeit von I. möglich seien. Sie sei als Hilfsarbeiterin im Abpackbetrieb beschäftigt gewesen. Allgemein lasse sich feststellen, dass dort Klein- und Kleinstgebinde von Hand mit kleinen Schaufeln abgefüllt worden seien. Neben T-Säure- und Hexal-Formulierungen seien auch Pflanzenschutzmittel, die von Fremdfirmen bezogen worden seien, abgefüllt worden. Auch der Umgang mit TCDD (= 2.3.7.8.-Tetrachlordibenzo-p-Dioxin) sei nicht sicher, da I. auch ausschließlich Hexal-Formulierungen abgefüllt haben könnte (Bl. 13 BA alt).

Am 06.07.1993 wurde das Blut von I. durch das Ergo-Institut untersucht. Dabei ergab sich für TCDD ein Wert von 10,4 pg/g-Blutfett (= ppt) und für ß-HCH (= Hexachlorcyclohexan) ein solcher von 4,6 ppt (Bl. 10, 11 BA alt). Die von der Beklagten auf das Jahr 1954 vorgenommene Rückrechnung der TCDD-Exposition ergab einen Wert von 495 ppt (Bl. 10 BA alt). Demgegenüber geht der Prozessbevollmächtigten des Klägers unter Berufung auf die Stellungnahme von K. vom 24.04.2018 von einem zurückgerechneten Wert zwischen 1.100 und 1.240 ppt aus (Bl. 171 der Akte des Sozialgerichts (= SG)).

Zum 1. Feststellungsverfahren:

In der im Hinblick auf I. erstatteten ärztlichen Anzeige über eine Berufskrankheit vom 06.07.1994 führte L. aus, dass bei I. Kopfschmerzen, Herzbeschwerden, sowie Störungen der Schlaf- und Merkfähigkeit vorliegen würden. Hierfür wurde eine Exposition gegenüber gesundheitsschädigenden Chemikalien bei der Abfüllung von dioxinhaltigen Präparaten angeschuldigt. Bei I. würden somit Berufskrankheiten nach den Ziffern 1302 und 1310 der Anlage 1 zur Berufskrankheiten-Verordnung vorliegen (hier: BK 1302 und BK 1310).

Am 12.07.1994 beantragte I. außerdem für den Kläger die Feststellung einer Berufskrankheit. Sie führte aus, dass sie während ihrer Tätigkeit für die Fa. M. schwanger geworden und ihr Sohn mit einem sog. Wolfsrachen geboren worden sei. Ihr sei bekannt, dass Dioxine die Mutterkuchenschranke durchbrechen und insbesondere in den ersten Entwicklungsmonaten das werdende Kind schädigen würden. Da nach ihrer Auffassung ihr Kind durch Chemikalien, denen sie in jenem Betrieb ausgesetzt gewesen sei, geschädigt worden sei, würde sie hiermit nachträglich einen Rentenantrag für ihren Sohn stellen. Der Kläger schloss sich diesem Antrag an.

In der Stellungnahme vom 27.02.1995 führte der beratende Arzt der Beklagten, N., aus, dass nach der verfügbaren Literatur ein Zusammenhang zwischen einer TCDD-Exposition bei der Mutter und einer beim Kind aufgetretenen Missbildung i. S. einer Gaumenspalte nicht wahrscheinlich sei. Die Ursache einer Kiefer-Lippen-Gaumenspalte beim Menschen sei eine Hemmung der Verwachsungen der embryonalen Gaumenfortsätze in der 6. - 7. Schwangerschaftswoche. Ursache hierfür könnten sowohl ein genetischer Defekt als auch toxische Faktoren i. S. einer Embryopathie sein. Da es sich bei Dioxin um ein hochwirksames Gift handeln würde, sei theoretisch eine solche embryopathische Störung vorstellbar. Dies sei im Tierversuch mit Mäusen eindeutig erwiesen. Bei allen anderen untersuchten Spezies sei jedoch keine signifikante Erhöhung struktureller Abnormitäten festgestellt worden. Auch beim Menschen sei ein solcher Zusammenhang nicht nachgewiesen. Weder aus den Studien des Seveso-Unfalls vom 10.07.1976 noch aufgrund der verschiedenen Vietnam-Studien würde sich eine erhöhte Missbildungsrate ergeben (Bl. 16 BA). In der Stellungnahme vom 10.05.1995 schloss sich die staatliche Gewerbeärztin O. dieser Auffassung an (19 BA alt).

Mit dem Bescheid vom 22.06.1995 lehnte die Beklagte die Anerkennung einer Berufskrankheit beim Kläger ab. Der Verfügungssatz lautete folgendermaßen:

Eine Schädigung im Sinne einer BK 1310 bezüglich der bei Ihnen bestehenden Gaumenspalte im Zusammenhang damit, dass ihre Mutter während eines Teils ihrer Schwangerschaft bei der Firma C. H. P., Q., tätig gewesen ist (§ 555 a Reichsversicherungsordnung (= RVO)), liegt bei ihnen nicht vor.

Zur Begründung wurde ausgeführt, dass die bei I. die durchgeführte Dioxinanalyse im Jahr 1993 einen Wert ergeben habe, der nur geringen über dem Höchstwert der sog. unbelasteten Normalgruppe liegen würde. Im Übrigen hätten die gehörten Sachverständigen ausgeführt, dass aufgrund der gegenwärtigen wissenschaftlichen Erkenntnisse keine erhöhte Anzahl von Missbildungen der Kinder nach einer Dioxin-Exposition der Mütter festgestellt worden seien. Der Bescheid wurde seinerzeit nicht angefochten.

Zum 2. Feststellungsverfahren:

Am 02.09.2013 erstattete L. eine Berufskrankheiten-Anzeige bezüglich des Klägers im Hinblick auf eine BK 1310. Die Mutter des Klägers sei während ihrer Schwangerschaft in hohem Maße gegenüber Dioxinen ausgesetzt gewesen. Hierdurch seien beim Kläger seinerzeit ein angeborener sog. Wolfsrachen sowie nunmehr eine Darmkrebserkrankung entstanden (Bl. 1/1 BA).

In der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 17.09.2013 führte R. aus, dass sich an dem seit Mitte der 1990er-Jahre bestehenden wissenschaftlichen Erkenntnisstand nichts geändert habe. Er sehe daher keinen begründeten Verdacht auf eine Berufskrankheit, obwohl die TCDD-Exposition der Mutter unter Berücksichtigung der Latenzzeit von 39 Jahren zwischen dem Expositionsende und dem Zeitpunkt der Blutentnahme erheblich gewesen sein müsse (Bl. 2/1 BA). Dieser Ansicht hat sich die staatliche Gewerbeärztin O. zunächst angeschlossen (Bl. 5/1 BA).

Im Bescheid vom 10.12.2013 führte die Beklagte aus, dass die Voraussetzungen zur Anerkennung eines Versicherungsfalls einer Leibesfruchtschädigung nach § 12 SGB VII nicht erfüllt seien. Ein Anspruch auf Leistungen aus der gesetzlichen Unfallversicherung (= gUV) würde daher nicht bestehen. Ein entsprechender Versicherungsfall sei bereits mit dem Bescheid vom 22.06.1995 abgelehnt worden. Nach wie vor würden jedoch in der medizinischen Wissenschaft keine Erkenntnisse hinsichtlich einer fruchtschädigenden Wirkung von TCDD und/oder HCH bei Menschen vorliegen.

Im Widerspruchsverfahren teilte die staatliche Gewerbeärztin O. der Beklagten mit, dass sie ihre Stellungnahme revidieren müsse. Es solle ein toxikologisches Gutachten eingeholt werden, da nunmehr die Anerkennung einer Krebserkrankung streitig sei. Da wissenschaftliche Belege dafür existieren würden, dass TCDD die Plazentaschranke überschreiten könne, sei davon auszugehen, dass die Leibesfrucht in gleichem Maße gegenüber TCDD exponiert gewesen sei, wie seinerzeit die Mutter des Klägers. Bei Gesundheitsschäden einer Leibesfrucht würde man spontan immer nur an angeborene Schädigungen denken. In diesem Fall gehe es aber um die Einwirkung eines krebserzeugenden Stoffes, der zu Krebserkrankungen mit den für solche Erkrankungen üblichen langen Latenzzeiten führen könne.

In der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 29.01.2014 führte R. aus, dass nach einer Auswertung des derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisstands zwar TCDD-bedingte Gesundheitsstörungen des Kindes bei mütterlicher TCDD-Exposition biologisch plausibel seien, da die im Blutfett enthaltene TCDD-Belastung während der Schwangerschaft über das mütterliche Blut und nach der Geburt über die Muttermilch auf das Kind übertragen würde. Auch nach tierexperimentellen Ergebnissen sei davon auszugehen, dass TCDD die Fortpflanzung und die kindliche Entwicklung schädigt. Allerdings würden die vorliegenden epidemiologischen Daten, die überwiegend aus den Seveso-Studien sowie aus Daten von ca. 8.000 Frauen der US-amerikanischen Armee mit TCDD-Exposition während des Vietnamkriegs stammen würden, kein gehäuftes Auftreten von TCDD-bedingten Gesundheitsschäden bei Säuglingen und Kleinkindern belegen. Bei diesem Kenntnisstand dürfte es schwierig sein, im Fall des Klägers einen Kausalzusammenhang zwischen der Darmkrebserkrankung und der früheren mütterlichen TCDD-Exposition als wahrscheinlich einzustufen. Dem Kläger sollte jedoch eine Dioxin-Blutuntersuchung angeboten werden. Sollten sich dabei noch erhöhte TCDD-Werte nachweisen lassen, würde eine BK-Anerkennung in Betracht kommen (Bl. 20 BA).

Im Bericht der Firma EUROFINS vom 08.05.2015 wurde ausgeführt, dass unter Berücksichtigung von Unsicherheiten der Einstufung der ermittelten Analysedaten nicht sicher festgestellt, aber auch nicht sicher ausgeschlossen werden könne, dass in der untersuchten Probe des Klägers eine Abweichung von den sonst üblichen Konzentrationen bezüglich TCDD im Vollblut vorliegen würde (Bl. 48/10 BA). In der beratungsärztlichen Stellungnahme vom 21.05.2015 gelangte R. zu dem Ergebnis, dass die jetzt vorliegenden Blutwerte zur Dioxinbelastung keine Hinweise für eine besondere Exposition ergeben hätten, da alle Dioxinwerte unter Berücksichtigung der Altersgruppe unterhalb der ubiquitären Belastungswerte der Allgemeinbevölkerung liegen würden (Bl. 50 BA).

Der Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 06.07.2015 zurückgewiesen. Der beim Kläger festgestellte TCDD-Wert würde erheblich unter dem ubiquitären Belastungswerte der Allgemeinbevölkerung liegen. Es sei somit nicht von einer erhöhten Dioxinbelastung auszugehen. Selbst wenn man unterstellen würde, dass es aufgrund der Dioxinexposition seiner Mutter zu einer erhöhten Belastung des Klägers gekommen sei, wäre von medizinischer Seite die Frage zu klären, ob und ggf. in welcher Weise Dioxine plazentagängig seien und wie sich die Dioxine im weiteren Verlauf im Organismus von Un- und Neugeborenen verhalten würden. Hierüber würden jedoch in der medizinischen Wissenschaft keine gesicherten Erkenntnisse vorliegen.

Zum 1. Klageverfahren (S 2 U 118/15)

Hiergegen hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 05.08.2015 beim SG Lüneburg Klage erhoben (S 2 U 118/15) und unfallversicherungsrechtliche Leistungen aus § 12 SGB VII wegen einer Schädigung seiner Leibesfrucht geltend gemacht. Der Kläger habe einen Geburtsschaden in Form einer Kiefer-Lippen-Gaumenspalte. Im Jahr 2008 sei eine Darmkrebserkrankung hinzugetreten. Gem. § 12 Abs. 2 SGB VII wurde es bei einer Berufskrankheit als Versicherungsfall genügen, dass der Gesundheitsschaden der Leibesfrucht durch besondere Einwirkungen verursacht worden sei, die generell geeignet seien, eine Berufskrankheit der Mutter zu verursachen. Eine solche Schadstoffexposition habe bei I. vorgelegen, da nach der Konvention der Beklagten eine Krebserkrankung anerkennungsfähig sei, wenn eine Dioxinexposition von 200 - 300 ppt bestanden habe.

Demgegenüber vertrat die Beklagte die Auffassung, dass eine generelle fruchtschädigende Wirkung von TCDD und HCH medizinisch wissenschaftlich nicht nachgewiesen sei. Außerdem würde sich die Frage, ob ein ursächlicher Zusammenhang zwischen der Darmkrebserkrankung und einer Dioxineinwirkung bestehen würde, im Rahmen des § 12 SGB VII nicht stellen, da dessen Anwendung den Nachweis eines Gesundheitsschadens der Leibesfrucht erfordern würde. Ein erst nach der Geburt eintretender Gesundheitsschaden sei damit nicht von dieser Vorschrift erfasst (Bl. 28 ff., 34 ff SG-Akte). Schließlich sei der Gegenstand des anhängigen Verfahrens nur die beim Kläger vorliegende Darmkrebserkrankung. Hinsichtlich der ebenfalls bestehenden Kiefer-Lippen-Gaumenspalte sei bereits mit Bescheid vom 22.06.1995 ein Versicherungsfall bindend abgelehnt worden. Im Bescheid vom 10.12.2013 und dem Widerspruchsbescheid vom 06.06.2015 sei auch keine Entscheidung gem. § 44 Zehntes Buch Sozialgesetzbuch (= SGB X) im Hinblick auf den Bescheid vom 22.06.1995 getroffen worden. Das jetzige Vorbringen würde allerdings als Antrag gem. § 44 SGB X aufgefasst.

Mit dem Bescheid vom 19.11.2015 lehnte die Beklagte die Rücknahme des Bescheides vom 22.06.1995 gem. § 44 SGB X ab. Zur Begründung wurde ausgeführt, dass eine fruchtschädigende Wirkung von Dioxinen und HCH bisher wissenschaftlich nicht sicher nachgewiesen worden sei. Der hiergegen erhobene Widerspruch wurde mit dem Widerspruchsbescheid vom 15.06.2016 zurückgewiesen.

2.) Klageverfahren (S 2 U 95/16):

Hiergegen hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers am 13.06.2016 beim SG Lüneburg Klage erhoben (S 2 U 95/16). Mit dem Beschluss des SG Lüneburg vom 14.11.2016 wurden die Rechtsstreite S 2 U 118/15 und S 2 U 95/16 zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden. Führend blieb das Aktenzeichen S 2 U 118/15.

Unter dem 01.06.2017 haben die S. und T. ein Zusammenhangsgutachten erstattet. Darin haben sie zunächst darauf hingewiesen, dass in der Meta-Analyse NGO et. al (2006), in die 22 Studien hinsichtlich des im Vietnamkrieg großflächig eingesetzten, dioxinhaltigen "agent orange" eingeflossen seien, im Gesamtergebnis eine statistisch signifikante Häufung entsprechender Defekte festgestellt worden sei. Das relative Risiko sei mit 1,95, d. h. fast eine Verdoppelung, berechnet worden. Die nur für die vietnamesische Bevölkerung betreffende Auswertung habe sogar eine Verdreifachung des relativen Risikos ergeben. Auch die Studie von NOEL et al. (2015), bzgl. des Einsatzes von "agent orange" zwischen 1968 und 1979 als Herbizid auf der Insel Guam, hätte einen entsprechenden statistisch signifikanten positiv lineareren Zusammenhang aufgezeigt. Allerdings würden die genannten Studien nicht den erforderlichen strengen wissenschaftlichen Anforderungen des deutschen Unfallversicherungsrechts genügen. Zusammenfassend würden daher zwar Hinweise auf eine fruchtschädigende Wirkung von TCDD vorliegen. Eine hinreichende Wahrscheinlichkeit könne daraus jedoch nicht abgeleitet werden.

Im Schriftsatz vom 21.08.2017 hat der Prozessbevollmächtigte des Klägers zunächst darauf hingewiesen, dass der Kläger nunmehr auch an einem Oropharynx-Karzinom des Zungengrundes erkrankt sei. Im Übrigen sei das Gutachten von U. nicht verwertbar, da dieser den Kläger nicht untersucht habe. Die Ausführungen von U. am Gutachtenende "Einverstanden aufgrund eigener Untersuchung und Urteilsbildung" würde nicht den Tatsachen entsprechen. Der Kläger habe U. lediglich einmal kurz bei einem Abschlussgespräch mit Dr. X. gesehen. Es würde daher ein Verstoß gegen die §§ 404 Abs. 1 und 407 Abs. 2 ZPO vorliegen. Im Übrigen sei ein toxikologisches Gutachten einzuholen.

In der Stellungnahme vom 06.09.2017 hat U. dem Gericht mitgeteilt, dass der Kläger von ihm hinsichtlich der Fragestellung untersucht und ausführlich befragt worden sei. V. habe in seinem Auftrag die erweiterte körperliche Untersuchung sowie die vollständige Anamnese Erhebung durchgeführt sowie anschließend nach seinen Vorgaben einen Entwurf des Gutachtens erstellt. V. sei wie er selbst Facharzt für Arbeitsmedizin deren wesentliches Teilgebiet auch die Toxikologie beinhalten würde. Deshalb bestehe in der Arbeitsmedizin auch die ausreichende wissenschaftlich toxikologische Expertise.

In seinem weiteren Vorbringen hat sich der Prozessbevollmächtigte des Klägers im Wesentlichen auf Stellungnahmen von K. bezogen. Darin wurde insbesondere ausgeführt, dass die vorliegenden epidemiologischen Studien ausreichend seien, eine fruchtschädigende Wirkung von TCDD zu belegen. Es würden auch keine Zweifel an der Qualität dieser Studien bestehen.

In ergänzenden Stellungnahmen haben sowohl R. als auch die S. und T. an ihren Auffassungen jeweils festgehalten.

In der mündlichen Verhandlung haben die Beteiligten folgenden Teilvergleich geschlossen:

1.) Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass im vorliegenden Rechtsstreit nur darüber zu befinden ist, welche Berufskrankheiten bzw. welche Berufskrankheitenfolgen beim Kläger vorliegen bzw. vorlagen.

2.) Die Beteiligten sind sich darüber einig, dass die Beklagte nach rechtskräftigen Abschluss des Verfahrens unter Zugrundelegung des Antrags vom 13.09.2013 über die Gewährung von sämtlichen infrage kommenden Leistungen, insbesondere Verletztengeld, Rente, Heilbehandlung und Leistungen zur Teilhabe entscheidet.

Der Prozessbevollmächtigte des Klägers beantragt,

  1. 1.)

    die Bescheide der Beklagten vom 10.12.2013 und vom 19.11.2015 sowie die Widerspruchsbescheide vom 06.07.2015 und vom 15.06.2016 aufzuheben,

  2. 2.)

    die Beklagte zu verpflichten, den Bescheid vom 22.06.1995 zurückzunehmen,

  3. 3.)

    festzustellen, dass beim Kläger eine Berufskrankheit gem. § 12 SGB VII bzw. § 555 a RVO vorliegt,

  4. 4.)

    festzustellen, dass die beim Kläger bestehende Kiefer-Lippen-Gaumenspalte, die Darmkrebserkrankung und dass Oropharynx-Karzinom Folgen dieser Berufskrankheit sind.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Der Entscheidung lagen die Gerichtsakten sowie die Akten der Beklagten zugrunde. Auf ihren Inhalt wird Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage ist als kombinierte Anfechtungs- und Feststellungsklage zulässig (§ 54 Abs. 1 i. V. m. § 55 Abs. 1 Nrn. 1, 3 SGG). Sie ist auch teilweise begründet, soweit die Beklagte einen Versicherungsfall gem. § 12 SGB VII und die Anerkennung der beim Kläger bestehenden Kiefer-Lippen-Gaumenspalte abgelehnt hat. Die angefochtenen Bescheide waren insoweit aufzuheben. Aus diesem Grund ist die Beklagte auch verpflichtet, den Bescheid vom 22.06.1995 zurückzunehmen, soweit darin generell ein Versicherungsfall "Schädigung der Leibesfrucht" angelehnt wurde.

Obwohl die Beklagte mit dem Bescheid vom 22.06.1995 die Anerkennung der Kiefer-Lippen-Gaumenspalte als Versicherungsfall "Schädigung der Leibesfrucht" in Verbindung mit einer BK 1310 bindend abgelehnt hat, ist im vorliegenden Fall eine Anerkennung auszusprechen. Gem. § 44 Abs. 1 S. 1 SGB X muss ein Verwaltungsakt auch mit Wirkung für die Vergangenheit zurückgenommen werden, soweit sich ergibt, dass bei Erlass des Verwaltungsakts das Recht unrichtig angewandt oder von einem unrichtigen Sachverhalt ausgegangen wurde und soweit deshalb Sozialleistungen zu Unrecht nicht erbracht wurden. Im Übrigen ist ein rechtswidriger nicht begünstigender Verwaltungsakt auch nachdem er unanfechtbar geworden ist ganz oder teilweise mit Wirkung für die Zukunft zurückzunehmen. Er kann auch für die Vergangenheit zurückgenommen werden (§ 41 Abs. 2 SGB X).

Im vorliegenden Fall war zunächst streitig, ob die Beklagte mit dem Bescheid vom 10.12.2013 auch die Rücknahme des Bescheids vom 22.06.1995 abgelehnt hat. Vieles spricht dafür, dass der Bescheid vom 10.12.2013 eine solche Entscheidung enthält, da hierin auf den bindenden Bescheid vom 22.06.1995 Bezug genommen und ausgeführt wurde, dass die Anerkennung eines Versicherungsfalls nach § 12 SGB VII "nach wie vor nicht möglich sei". Eine Vertiefung dieser Problematik muss im vorliegenden Fall jedoch nicht vorgenommen werden, da die Beklagte mit dem Bescheid vom 19.11.2015 und dem Widerspruchsbescheid vom 15.06.2016 ausdrücklich über einen Antrag gem. § 44 SGB X in Bezug auf den Bescheid vom 22.06.1995 eine Entscheidung getroffen hat. Da der Prozessbevollmächtigte des Klägers hiergegen Klage erhoben hat (S 2 U 95/16) und dieses Verfahren zu dem streitgegenständlichen Verfahren (S 2 U 118/15) zur gemeinsamen Verhandlung und Entscheidung verbunden wurde, ist auch die Überprüfung des Bescheids vom 22.06.1995 Gegenstand des vorliegenden Verfahrens. Da sich die Beteiligten in der mündlichen Verhandlung außerdem im Rahmen eines Teilvergleichs darauf verständigt haben, dass die Beklagte nach rechtskräftigem Abschluss des Verfahrens unter Zugrundelegung des Antrags vom 13.09.2013 über alle infrage kommenden Leistungen erneut entscheidet (vorausgesetzt, dass ein Versicherungsfall letztinstanzlich festgestellt wird), kommt es für die Leistungsgewährung im Rahmen der Vierjahresfrist (§ 44 Abs. 4 SGB X) auch nicht darauf an, dass die Beklagte erst das Vorbringen im Klageverfahren S 2 U 118/15 als Antrag nach § 44 SGB X gewertet hat. Da unter Berücksichtigung des Antrags nach § 44 SGB X vom 13.09.2013 Leistungen frühestens ab dem 01.01.2009 zustehen können, kann es auch dahinstehen, ob es sich bei "der Schädigung der Leibesfrucht" im Sinne des § 555 a RVO einerseits und § 12 SGB VII andererseits um unterschiedliche Versicherungsfälle handelt. Dies könnte vor allem deshalb der Fall sein, weil § 555 a RVO und § 12 SGB VII unterschiedliche Tatbestandsvoraussetzungen besitzen. Während bei § 555 a RVO die Schädigung der Leibesfrucht durch einen Arbeitsunfall (oder eine Berufskrankheit (§ 551 Abs. 1 S. 1 RVO) der Mutter erfolgen muss, ist es im Rahmen des § 12 SGB VII - für den Fall einer Berufskrankheit - nicht notwendig, dass ein Versicherungsfall bei der Mutter vorgelegen hat. Vielmehr genügt es, bei einer Berufskrankheit als Versicherungsfall, dass der Gesundheitsschaden der Leibesfrucht durch besondere Einwirkungen verursacht wurde, die generell geeignet sind, eine Berufskrankheit der Mutter zu verursachen. In jedem Fall ist jedoch für die Zeit ab dem 01.01.2009, d. h. dem frühest möglichen Leistungsbeginn, § 12 SGB VII anzuwenden, da gem. § 214 SGB VII die Vorschriften des SGB VII auch für Versicherungsfälle gelten, die vor Inkrafttreten des SGB VII eingetreten sind.

Beim Kläger liegt auch ein Versicherungsfall gem. § 12 SGB VII vor. Die Vorschrift hat folgenden Wortlaut:

Versicherungsfall ist auch der Gesundheitsschaden einer Leibesfrucht infolge eines Versicherungsfalls der Mutter während der Schwangerschaft; die Leibesfrucht steht insoweit einem Versicherten gleich. Bei einer Berufskrankheit als Versicherungsfall genügt, dass der Gesundheitsschaden der Leibesfrucht durch besondere Einwirkungen verursacht worden ist, die generell geeignet sind eine Berufskrankheit der Mutter zu verursachen.

In diesem Zusammenhang ist zunächst zu beachten, dass nach dem Recht der gUV nicht jede Erkrankung als Berufskrankheit anerkannt werden kann. Gem. § 9 Abs. 1 SGB VII sind Berufskrankheiten vielmehr nur solche Krankheiten, welche in der Anlage 1 zur BKV im Einzelnen bezeichnet sind und die Versicherte infolge einer den Versicherungsschutz nach den §§ 2, 3 oder 6 begründenden Tätigkeiten erleiden (sog. Listenerkrankungen). In Betracht kommen hier im Wesentlichen eine BK 1302 sowie eine BK 1310.

Als BK 1302 sind entschädigungsfähig:

Erkrankungen durch Halogenkohlenwasserstoffe.

Unter diese Stoffgruppe fällt insbesondere HCH (Mehrtens/Brandenburg, die Berufskrankheitenverordnung, M 1302 1.2., S. 3).

Als BK 1310 sind entschädigungsfähig:

Erkrankungen durch halogenierte Alkyl-, Aryl- oder Alkylaryloxide.

Unter diese Stoffgruppe fällt insbesondere TCDD (Mehrtens Brandenburg, a. a. O., M 1310 S. 1).

Entgegen der Auffassung der Beklagten, sind im vorliegenden Fall sämtliche als Berufskrankheit geltend gemachten Erkrankungen des Klägers Streitgegenstand des vorliegenden Verfahrens, d. h. somit auch das Oropharynx-Karzinom. Bei den BKn 1302 und 1310 handelt es sich nämlich um sog. offenen "BK-Tatbestände" sodass sich deren rechtliche Überprüfung stets auf sämtliche infrage kommenden Erkrankungen bezieht.

Für die Anerkennung einer Berufskrankheit gelten in der gUV folgende Grundsätze: Während die gesundheitsschädlichen beruflichen Einflüsse (d. h. im konkreten Fall die arbeitstechnischen Voraussetzungen) und die Erkrankung als solche mit Gewissheit bewiesen werden müssen, ist für die Feststellung des Zusammenhangs zwischen den beruflichen Einwirkungen und dem Gesundheitsschaden (haftungsausfüllende Kausalität) ein hinreichender Grad von Wahrscheinlichkeit erforderlich. Dieser ist nach der Rechtsprechung erst dann erreicht, wenn bei einem vernünftigen Abwägen aller Umstände die auf eine berufliche Verursachung hinweisenden Faktoren deutlich überwiegen (vgl. BSG SozR 2200 § 548 Nr. 38). Eine Möglichkeit verdichtet sich erst dann zur Wahrscheinlichkeit, wenn nach der geltenden ärztlichen wissenschaftlichen Lehrmeinung mehr für als gegen einen Zusammenhang spricht und ernste Zweifel hinsichtlich einer anderen Verursachung ausscheiden (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar, § 8 SGB VII, Rz. 10 ff.). Die reine Möglichkeit eines solchen Zusammenhangs ist daher für eine Anerkennung nicht ausreichend (Bundessozialgericht (=BSG), Urt. v. 27.06.2000 - B 2 U 29/99 R, S. 8 f.; Urt. v. 02.05.2001 - B 2 U 16/00 R, S. 7 m. w. N.; LSG Niedersachsen, Urt. v. 25.07.2002 - L 3/9/6 U 12/00, S. 6).

Bei Anwendung dieser Kriterien sieht die Kammer die Voraussetzungen für die Anerkennung der Kiefer-Lippen-Gaumenspalte als Versicherungsfall gem. § 12 SGB VII i. V. m. einer BK 1310 als erfüllt an. Wie bereits ausgeführt, genügt es bei einer Berufskrankheit als Versicherungsfall, dass der Gesundheitsschaden der Leibesfrucht durch besondere Einwirkungen verursacht worden ist, die generell geeignet sind, eine Berufskrankheit der Mutter zu verursachen (§ 12 S. 2 SGB VII).

Diese Voraussetzung ist hier erfüllt, da selbst mit dem von der Beklagten auf das Jahr 1954 zurückgerechneten TCDD-Wert von 495 ppt, eine sehr hohe Dioxinexposition von I. bestanden hat, die in der Lage gewesen wäre, zahlreiche Erkrankungen zu verursachen. Sofern I. bspw. an einer Krebserkrankung erkrankt wäre, wäre in ihrer Person entsprechend der Konvention der Beklagten eine Anerkennung wahrscheinlich gewesen, weil hierfür bereits ein Wert von 200 - 300 ppt ausreichend gewesen wäre.

Diese Dioxinexposition hat darüber hinaus die Kiefer-Lippen-Gaumenspalte auch mit dem ausreichenden Grad der Wahrscheinlichkeit verursacht. Da entsprechend den Ausführungen von O. und Herrn R. (Stellungnahme vom 29.01.2014) wissenschaftlicher Konsens darüber besteht, dass TCDD in der Lage ist, die Plazentagrenze zu überschreiten, war auch der Kläger selbst gegenüber TCDD exponiert. Darüber hinaus hält die Kammer die wissenschaftlichen Erkenntnisse in ihrer Gesamtheit nunmehr für so weit verdichtet, dass eine fruchtschädigende Wirkung von TCDD mit überwiegender Wahrscheinlichkeit anzunehmen ist. Bereits N. hat in der Stellungnahme vom 27.02.1995 ausgeführt, dass als Ursache einer Kiefer-Lippen-Gaumenspalte auch toxische Faktoren in Betracht kommen, wobei es sich bei Dioxin um ein hochwirksames Gift handelt. Außerdem wurde im Tierversuch mit Mäusen eine entsprechende Wirkung bereits seinerzeit eindeutig bestätigt. Aus den aus Anlass des Vietnamkriegs durchgeführten Studien, insbesondere aber aus der Metaanalyse von NGO et. al (2006) ergibt sich nun, dass gerade bei der vietnamesischen Bevölkerung, die gegenüber dem TCDD-haltigen "agent orange" in besonderem Maße exponiert war, sogar eine Verdreifachung des Missbildungsrisikos festgestellt wurde. Die für die Annahme eines wahrscheinlichen Kausalzusammenhangs erforderliche Risikoverdopplung ist daher erreicht (vgl. LSG Niedersachsen-Bremen, Urt. v. 16.12.2010 - L 6 U 469/02). Zwischen den W. einerseits und K. andererseits ist nun lediglich streitig, wie diese Studien zu bewerten sind, wobei die S. und T. vor allen Dingen methodische Einwände gegen diese Studien erhoben haben, da bestimmte Parameter, wie z. B. sozioökonomische Faktoren, Infektionsraten, mütterlicher Ernährungszustand, nicht ausreichend berücksichtigt worden seien. Die Kammer hält jedoch die vom Prozessbevollmächtigten des Klägers genannten erschreckend hohen Zahlen von generationenübergreifend Geschädigten innerhalb der vietnamesischen Bevölkerung - gerade auch in Bezug auf Kiefer-Lippen-Gaumenspalten - (vgl. S. 8 des Schriftsatzes des Prozessbevollmächtigten vom 09.02.2016), für zu groß, als dass ihnen im Rahmen der Prüfung der Kausalitätsprüfung eine wesentliche Rolle abgesprochen werden könnte. In Übereinstimmung mit X. ergibt daher trotz der methodischen Einwände aufgrund der genannten Studien ein konsistentes Bild in Bezug auf eine deutliche und ausreichende Erhöhung des Risikos einer Fehlbildung i. S. einer Kiefer-Lippen-Gaumenspalte aufgrund der TCDD-Exposition der Mutter. Daher ist beim Kläger ein Versicherungsfall gem. § 12 SGB VII in Verbindung mit einer BK 1310 und als dessen Folge eine Kiefer-Lippen-Gaumenspalte anzuerkennen. Der Versicherungsfall ist der Tag der Geburt (Bereiter-Hahn/Mehrtens, Gesetzliche Unfallversicherung, Kommentar § 12 SGB VII Rz. 3).

Da sich die Kammer dem Gutachtenergebnis der Y. im Ergebnis nicht anschließt, kann es letztlich dahinstehen, ob deren Gutachten unter einem Verstoß gegen § 407 a ZPO zustande gekommen ist. Allerdings kann die Kammer im vorliegenden Fall einen solchen Verstoß nicht erkennen, da U. spätestens im Schreiben vom 06.12.2017 den Umfang und die Art der durch ihn und seine Mitarbeiter verrichteten Tätigkeiten in ausreichender Weise konkretisiert hat. Dieses Schreiben wurde im weiteren Verlauf durch den Prozessbevollmächtigten des Klägers nicht mehr relativiert, so dass der behauptete Verstoß gegen § 407 a ZPO nicht belegt ist.

Die Klage war jedoch abzuweisen, soweit der Kläger die Anerkennung seiner Darmkrebserkrankung sowie des Oropharynx-Karzinoms als Versicherungsfall gem. § 12 SGB VII geltend macht. Nach dem klaren und eindeutigen Wortlaut der Vorschrift wird hierfür ein entsprechender Gesundheitsschaden der Leibesfrucht vorausgesetzt, wobei nach der Rechtsprechung des BSG auch noch Schädigungen während des Geburtsvorganges zu berücksichtigen sind (BSGE 58, 80 ff. [BSG 30.04.1985 - 2 RU 43/84]). Demgegenüber werden Schädigungen die erst nach der Geburt, beispielsweise durch das Stillen, entstehen, von der Vorschrift nicht erfasst (Bereiter-Hahn/Mehrtens, a. a. O., § 12 SGB VII, Rz. 5, m. w. N.). Es können somit nur Gesundheitsstörungen berücksichtigt werden, die bis zum Abschluss der Geburt bei der Leibesfrucht vorgelegen haben. Dies ist jedoch bei der Darmkrebserkrankung und beim Oropharynx-Karzinom des Klägers nicht der Fall, da diese erst Jahrzehnte später entstanden sind. Für die Anerkennung als Versicherungsfall gem. § 12 SGB VII ist es insbesondere nicht ausreichend, dass der Kläger als Leibesfrucht schädigende Substanzen aufgenommen hat. Eine Krankheit im Sinn der gUV liegt vielmehr erst vor, wenn ein regelwidriger Körper- oder Geisteszustand besteht. Daher erfüllt nicht die Inkorporation eines Schadstoffs, sondern erst eine entsprechende die biologische Reaktion bzw. die Ausbildung einer Funktionsstörung die Voraussetzungen für eine Krankheit i. S. des Berufskrankheitenrechts (Schönberger/Mehrtens/Valentin, Arbeitsunfall und Berufskrankheit, 9. Aufl., S. 76; BSG, Urt. v. 27.06.2017 - B 2 U 17/15 R).

Die Kostenentscheidung beruht auf § 193 SGG. Dabei war insbesondere zu berücksichtigen, dass bei insgesamt drei geltend gemachten Erkrankungen die Klage hinsichtlich der Anerkennung einer Erkrankung erfolgreich war.