Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 11.05.2000, Az.: 6 A 60/00
Berlin-Tegel; Einreiseweg; Luftweg; Syrien
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 11.05.2000
- Aktenzeichen
- 6 A 60/00
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2000, 41209
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 26a AsylVfG
Tenor:
Die Beklagte wird verpflichtet, die Kläger als Asylberechtigte anzuerkennen. Insoweit wird der Bescheid des Bundesamtes für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge vom 22. Dezember 1998 aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens mit Ausnahme der durch die Anrufung des unzuständigen Gerichts ausgelösten Verfahrenskosten, die die Kläger tragen. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe des festgesetzten Vollstreckungsbetrages abwenden, sofern nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leisten.
Tatbestand:
Die Kläger sind syrische Staatsangehörige. Sie reisten nach eigenen Angaben am 22. November 1998 auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland ein und beantragten ihre Anerkennung als Asylberechtigte.
Zur Begründung dieses Begehrens trugen sie vor:
Er (Kläger zu 1) sei Flüchtlingshelfer in den Flüchtlingslagern der Türkei, Syriens und des Iraks gewesen. Mit Spendengeldern habe er humanitäre Hilfe für irakische und syrische Kurden und Assyrer geleistet und sie bei ihrer Flucht in die Türkei unterstützt. Wegen dieser Aktivitäten sei er wiederholt verhaftet worden und habe seine Arbeitsstelle verloren. Zuletzt sei er im Jahre 1998 für mehrere Monate inhaftiert gewesen. Im Oktober 1998 habe nach einer Hausdurchsuchung durch die syrische Sicherheitspolizei eine erneute Vernehmung und eine mögliche weitere Verhaftung gedroht. Deshalb sei er mit Unterstützung von Verwandten aus Syrien ausgereist. Seine Aktivitäten als Flüchtlingshelfer könne ein Mitarbeiter der Assyrischen Union Berlin e.V. namens bestätigen. Er habe Herrn S. zwar erst nach seiner Einreise persönlich kennen gelernt; Herr S. habe jedoch von 1990 bis 1998 von Berlin aus die Aktivitäten der Assyrischen Union koordiniert und mit ihm zusammengearbeitet. Er und sein Sohn seien mit der Fluggesellschaft ONUR AIR am 22. November 1998 von Antalya nach Berlin-Tegel eingereist und gegen 8.20 Uhr oder 8.25 Uhr gelandet. Am Abend des 21. November 1998 habe er Herrn S. auf dessen Anrufbeantworter mitgeteilt, dass sie am nächsten Morgen in Berlin-Tegel eintreffen würden, was dieser bestätigen könne.
Bei seiner Anhörung vom 16. Dezember 1998 vor dem Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge führten die Kläger zu ihrem Einreiseweg ergänzend aus:
Am 20. November 1998 seien sie von Schleppern über die syrische Grenze in die Türkei und dann nach Antalya gebracht worden. Von dort aus seien sie am Morgen des 22. November 1998 um 6.00 Uhr mit dem Flugzeug abgeflogen nach Berlin-Tegel, wo sie gegen 8.20 Uhr gelandet seien. Weil dieser Tag ein Feiertag gewesen sei, habe sie keiner abgeholt. Mit dem Taxi seien sie zu dem assyrischen Verein in Berlin gefahren worden. Von einem Imbissstand in der Nähe des assyrischen Vereins habe er ein Mitglied dieser Organisation anrufen lassen. Dieser habe sie mit zu sich nach Hause geholt. Abends seien sie erneut zum Büro des Vereins gegangen. Dort hätten sie getroffen.
Mit Bescheid vom 22. Dezember 1998 lehnte das Bundesamt für die Anerkennung ausländischer Flüchtlinge den Asylantrag als unbegründet ab und stellte fest, dass die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG hinsichtlich Syrien gegeben seien.
Gegen den am 30. Dezember 1998 zugestellten Bescheid haben die Kläger am 13. Januar 1999 beim Verwaltungsgericht Stade Klage erhoben. Im Hinblick darauf, dass die Kläger erst mit Wirkung vom 14. Januar 1999 der Stadt Cuxhaven zugewiesen worden waren, hat das Verwaltungsgericht Stade mit Beschluss vom 08. Februar 1999 den Rechtsstreit an das örtlich zuständige Verwaltungsgericht Braunschweig verwiesen.
Zur Begründung der Klage tragen die Kläger vor:
Ihre Anträge auf Anerkennung als Asylberechtigte seien mit der Begründung abgelehnt worden, für ihre Einreise auf dem Luftweg keinerlei Unterlagen vorlegen zu können. Zu den Einzelheiten der Einreise hätten sie bereits nähere Angaben gemacht. Bei der Anhörung vor dem Bundesamt seien keine weiteren Einzelheiten von ihnen gefordert worden. Andernfalls hätten sie die Angaben entsprechend präzisiert. Von der Berliner Flughafengesellschaft hätten sie eine Bestätigung der Ankunftszeiten nicht erhalten können, weil ihnen von dieser Stelle keine Auskunft erteilt werde. Herr S. könne jedoch als Zeuge bestätigen, dass er, der Kläger zu 1), am Abend des 21. November 1998 auf den Anrufbeantworter der Assyrischen Union Berlin e.V. gesprochen und für den folgenden Morgen seine Ankunft auf dem Flughafen Berlin-Tegel angekündigt habe.
Die Kläger beantragen,
die Beklagte zu verpflichten, sie als Asylberechtigte anzuerkennen, und den Bescheid des Bundesamtes vom 22. Dezember 1998 insoweit aufzuheben.
Die Beklagte beantragt unter Bezugnahme auf die Ausführungen in dem angefochtenen Bescheid,
die Klage abzuweisen.
Das Verwaltungsgericht hat mit Verfügung vom 21. Mai 1999 eine Auskunft der Bundesgrenzschutzinspektion Berlin-Tegel zu der Flugverbindung von Antalya nach Berlin-Tegel am 22. November 1998 sowie zu den Flugzeiten eingeholt. Mit einer weiteren Verfügung vom 16. Februar 2000 hat das Gericht außerdem eine Auskunft der Berliner Flughafen GmbH zu den Örtlichkeiten des Flughafens Tegel in Berlin sowie zu den Abläufen bei der Abfertigung ankommender Fluggäste eingeholt. Hinsichtlich der Einzelheiten der Auskünfte wird auf die Stellungnahme des Bundesgrenzschutzamtes Berlin vom 30. Juni 1999 sowie auf die Auskünfte der Berliner Flughafen GmbH vom 07. und 13. März 2000 Bezug genommen.
Der Kläger zu 1) ist in der mündlichen Verhandlung zu den Einzelheiten seiner Einreise in die Bundesrepublik Deutschland ergänzend angehört worden. Hinsichtlich seiner Angaben wird auf die Sitzungsniederschrift verwiesen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakte, auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie auf die den Beteiligten bekannte Liste der Erkenntnismittel zu Asylverfahren syrischer Staatsangehöriger verwiesen. Diese Unterlagen waren ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand des Verfahrens.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage ist begründet. Die Kläger haben einen Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte. Der Bescheid des Bundesamtes vom 22. Dezember 1998 ist deshalb als rechtswidrig aufzuheben, soweit er diesem Begehren entgegensteht.
Das Gericht folgt den Ausführungen des Bundesamtes im Bescheid vom 22. Dezember 1998 darin, dass das Vorbringen der Kläger die Annahme einer politischen Verfolgung begründet und damit die Voraussetzungen eines Abschiebungsschutzes nach § 51 Abs. 1 AuslG erfüllt. Der Kläger zu 1) ist wegen seiner humanitären Aktivitäten zugunsten irakischer und syrischer Kurden und Assyrer wiederholt verhaftet sowie gefoltert worden; eine erneute Verhaftung mit der Gefahr weiterer Folter stand vor seiner Flucht aus Syrien unmittelbar bevor. Seinem ältesten Sohn, dem Kläger zu 2), ist aufgrund des bei den Nachforschungen der syrischen Sicherheitskräfte nach seinem Vater und des bei der anschließenden gemeinsamen Flucht Erlebten, das eine psychotherapeutische Behandlung notwendig gemacht hat, ebenfalls - wegen der Gefahr sippenhaftähnlicher Maßnahmen gegen ihn - Abschiebungsschutz zuerkannt worden. Diese in dem angefochtenen Bescheid getroffenen Feststellungen sind bestandskräftig geworden und nicht Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung. Da die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 AuslG, soweit es die Anknüpfung an asylerhebliche Merkmale betrifft, denen des Art. 16a Abs. 1 GG gleich sind, besteht für die Kläger außerdem ein Anspruch auf Anerkennung als Asylberechtigte, sofern sie nicht auf dem Landweg, sondern - ohne die Möglichkeit der Unterbrechung der Reise in einem "sicheren Drittstaat" i.S.d. § 26a Abs. 2 AsylVfG - auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind. Hiervon geht das Gericht nach dem Ergebnis der eingeholten Auskünfte und den von den Klägern in der mündlichen Verhandlung gemachten Angaben zu den Einzelheiten ihres Reisewegs aus.
Nach den §§ 15 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 und 25 Abs. 1 Satz 1 und 2 AsylVfG ist der Asylbewerber gehalten, die erforderlichen Angaben über seinen Reiseweg zu machen und seinen Pass vorzulegen (§ 15 Abs. 2 Nr. 4 AsylVfG). Bei einer Einreise auf dem Luftweg hat er seinen Flugschein und etwaige sonstige Unterlagen über seinen Reiseweg nach Deutschland vorzulegen (§ 15 Abs. 2 Nr. 5, Abs. 3 Nr. 3 und 3 AsylVfG). Sofern der Ausländer nicht im Besitz der erforderlichen Reisepapiere ist, hat er an der Grenze oder bei der Grenzbehörde auf dem Flughafen um Asyl nachzusuchen (§§ 13 Abs. 3 Satz 1, 18 f. AsylVfG). Kommt der Asylbewerber diesen Mitwirkungspflichten nicht oder nur teilweise nach und steht die behauptete Einreise auf dem Luftweg deshalb nicht eindeutig fest, ist es Sache des Gerichts, erforderlichenfalls den Sachverhalt von Amts wegen weiter aufzuklären und im Rahmen seiner Überzeugungsbildung alle Umstände zu würdigen (§§ 86 Abs. 1, 108 Abs. 1 VwGO). Dabei hat das Gericht auch zu berücksichtigen, dass und aus welchen Gründen die gesetzlich vorgesehene Mitwirkung des Asylbewerbers bei der Feststellung seines Reisewegs unterblieben ist (vgl. hierzu: BVerwG, Urt. vom 29.06.1999, AuAS 1999, 260).
Die gerichtliche Aufklärungspflicht findet allerdings dort ihre Grenze, wo das Vorbringen des Ausländers keinen tatsächlichen Anlass zu weiterer Sachaufklärung bietet. Dies ist generell dann der Fall, wenn der Asylbewerber unter Verletzung der ihn treffenden Mitwirkungspflichten seine Gründe für eine ihm drohende politische Verfolgung nicht unter Angabe genauer Einzelheiten schlüssig schildert. Ob bei einer vom Asylbewerber behaupteten, aber nicht belegten Einreise auf dem Luftweg weitere Ermittlung durch das Gericht anzustellen sind, ist eine Frage der Ausübung tatrichterlichen Ermessens im Einzelfall. Ein Anlass zu weiterer Aufklärung ist beispielsweise dann zu verneinen, wenn der Asylbewerber keine nachprüfbaren Angaben zu seiner Einreise gemacht hat und es damit an einem Ansatzpunkt für weitere Ermittlungen fehlt. Macht der Asylbewerber dagegen hierzu einzelne Angaben, so hat das Gericht diese zu berücksichtigen. Es kann in diesem Zusammenhang frei würdigen, dass und aus welchen Gründen der Asylbewerber mit falschen Papieren nach Deutschland eingereist ist, dass und warum er Reiseunterlagen, die für die Feststellung seines Reisewegs bedeutsam sind, nach seiner Ankunft in Deutschland aus der Hand gegeben hat und schließlich, dass und weshalb er den Asylantrag nicht bei seiner Einreise an der Grenze, sondern Tage oder Wochen später an einem anderen Ort gestellt hat (BVerwG, Urt. vom 29.06.1999, aaO.).
Im Rahmen der Überzeugungsbildung ist das Gericht aus Rechtsgründen nicht daran gehindert, die Angaben des Asylbewerbers auch ohne Beweisaufnahme als wahr anzusehen. In den Fällen, in denen der Asylbewerber die Weggabe wichtiger Beweismittel behauptet und damit ein Fall einer selbst geschaffenen Beweisnot vorliegt, ist das Vorbringen allerdings besonders kritisch und sorgfältig zu prüfen. Den Asylsuchenden trifft insoweit zwar keine Beweisführungspflicht; das Gericht kann jedoch bei der Feststellung des Reisewegs die behauptete Weggabe von Beweismitteln wie bei einer Beweisvereitelung zu Lasten des Asylbewerbers würdigen. Eine solche Würdigung liegt umso näher, je weniger plausibel die Gründe erscheinen, die für das beweiserschwerende Verhalten angeführt werden. Insbesondere der pauschale Vortrag der Weggabe von Flugunterlagen kann danach ebenso wie eine Weigerung oder das Unvermögen, mit der Flugreise in Zusammenhang stehende Fragen (z.B. nach den Namen in den benutzten gefälschten Pässen) zu beantworten, den Schluss rechtfertigen, dass die Einreise über einen Flughafen nur vorgespiegelt wird. Bei nicht ausräumbaren Zweifeln an der behaupteten Einreise auf dem Luftweg scheidet eine Anerkennung als Asylberechtigter aufgrund der Drittstaatenregelung aus. Ist das Gericht nicht davon überzeugt, dass der Asylbewerber auf dem Luftweg eingereist ist, kann es gleichzeitig aber auch nicht die Überzeugung von einer Einreise auf dem Landweg gewinnen, ist die Nichterweislichkeit der behaupteten Einreise auf dem Luftweg festzustellen und eine Beweislastentscheidung zu treffen. Bleibt in einem solchen Fall der Einreiseweg unaufklärbar, trägt der Asylbewerber die materielle Beweislast für seine Behauptung, ohne Berührung eines sicheren Drittstaats nach Art. 16a Abs. 2 GG, § 26a AsylVfG auf dem Luft- oder Seeweg nach Deutschland eingereist zu sein (BVerwG, Urt. vom 29.06.1999, aaO., m.w.N.).
Nach Maßgabe dieser Grundsätze hat das Gericht die Überzeugung gewonnen, dass die Kläger auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland eingereist sind. Die Angaben der Kläger zu den Einzelheiten ihrer Einreise auf dem Luftweg sind in wesentlicher Hinsicht durch die Auskünfte des Bundesgrenzschutzamtes und der Berliner Flughafen GmbH bestätigt worden. Die ergänzende Befragung des Klägers zu 1) in der mündlichen Verhandlung hat keine Anhaltspunkte dafür ergeben, dass die Kläger entgegen dieser Erkenntnislage auf dem Landweg nach Deutschland eingereist sind. Der Kläger zu 1) hat im Zusammenhang und hinsichtlich der wesentlichen Anhaltspunkte für eine Einreise über den Flughafen Berlin-Tegel ohne insistierende Befragung Angaben über die Örtlichkeiten gemacht, die eine eigene Wahrnehmung solcher Einzelheiten bei einer tatsächlich durchgeführten Einreise auf dem Luftweg voraussetzen. In diesem Fall kommt dem Umstand, dass ihnen eine Vorlage der Flugunterlagen nicht (mehr) möglich ist, keine maßgebliche Bedeutung zu. Die hierfür vom Kläger zu 1) gegebene Begründung, dass die Einreise mit einem auf eine andere Person ausgestellten gültigen deutschen Reisepass erfolgt ist und die Flugscheine eine Identifizierung des Passinhabers ermöglicht hätten, macht das Herausgabeverlangen des Schleppers auch in Bezug auf diese Unterlagen plausibel. Nach alledem geht das Gericht davon aus, dass die Kläger tatsächlich unter Verwendung von gefälschten Unterlagen, die sie nach ihrer Ankunft aus der Hand gegeben haben, auf dem Luftweg in die Bundesrepublik Deutschland gelangt sind. Mit dem Eintritt der Rechtskraft dieser Entscheidung in Bezug auf den Kläger zu 1) liegen außerdem die Voraussetzungen des § 26 Abs. 2 AsylVfG (Familienasyl) bei dem Kläger zu 2) vor.
Der Klage ist deshalb mit der Kostenfolge aus den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG zu entsprechen. Hinsichtlich der Kostenlast für die mit der Anrufung des unzuständigen Gerichts verbundenen Mehrkosten beruht die Kostenentscheidung auf § 83 Satz 1 VwGO i.V.m. § 17b Abs. 2 GVG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.