Verwaltungsgericht Hannover
Beschl. v. 04.12.2019, Az.: 12 B 1932/19

Abstand; Altenwohn- und Pflegeheim; angemessener Abstand; anlagenbezogene Faktoren; Bewohner; Gebot der; Nachbarwiderspruch; nachträgliche Anordnungen; nachvollziehende Abwägung; Publikumsverkehr; Seveso-III-Richtlinie; störende Anlage; Störfall-Verordnung; Störfallbetrieb; vorhabenbezogene Faktoren; öffentlich genutztes Gebäude; Öffentlichkeit

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
04.12.2019
Aktenzeichen
12 B 1932/19
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2019, 69886
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Die im Baurecht vorherrschende Rechtsauffassung, dass sich in der Regel ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot nur dann begründen lässt, wenn ein neues störempfindliches Bauvorhaben in der Nachbarschaft eines bestehenden "störenden" Betriebs für diesen weitere Einschränkungen zur Folge haben wird und dass sich dann, wenn nicht mit einer Verschärfung der Anforderungen an den bestehenden Betrieb zu rechnen ist, das Bauvorhaben gegenüber dem Betrieb auch nicht als rücksichtslos darstellt, ist in Fällen, in denen der störende Betrieb in den Anwendungsbereich der Störfall-Verordnung fällt, inzwischen überholt.

Tenor:

Der Antrag wird abgelehnt.

Die Antragstellerin trägt die Kosten des Verfahrens.

Die außergerichtlichen Kosten der Beigeladenen sind erstattungsfähig.

Der Wert des Streitgegenstandes wird auf 20.000,00 € festgesetzt.

Gründe

I.

Die Antragstellerin wendet sich gegen eine Baugenehmigung, die die Antragsgegnerin der Beigeladenen für den Neubau und Betrieb eines Altenwohn- und Pflegeheims erteilt hat.

Die Antragstellerin ist Inhaberin eines Betriebs zur Herstellung von Spezialpapieren und Verpackungen. Der Betriebsbereich E. in F., A-Straße, Flurstück 103/1 der Flur 34 der Gemarkung F., unterfällt der 12. Verordnung zur Durchführung des Bundesimmissionsschutzgesetzes – Störfall-Verordnung –. Das Betriebsgelände hat eine Größe von insgesamt 384.000 qm und liegt nordwestlich der Innenstadt von F. im rechtsseitigen Flusstal der Leine; auf dem Gelände wird seit mehr als 200 Jahren Papier hergestellt. Im März 2018 erstellte der G. im Auftrag der Antragstellerin ein Gutachten zur Verträglichkeit des Betriebsbereichs E. in Bezug auf die angrenzende Bebauung. Nach dem Gutachten ist der das Gefahrenpotential bestimmende Stoff in dem Betrieb Schwefeldioxid. Dieser wird einmal wöchentlich mit einem Eisenbahnkesselwagen angeliefert, in einer Abfüllhalle entladen und von dort durch eine im Freien verlaufende Rohrleitung zum Tanklager geleitet. Der gesamte Vorgang dauert etwa vier Stunden. Nach den Feststellungen des G. ergibt sich um die Rohrleitung ein angemessener Sicherheitsabstand von 800 m. In diesem Abstand liegen östlich des Betriebsgeländes Wohngebiete, der Bahnhof und die Altstadt von F. mit kommunalen Einrichtungen sowie die Fußgängerzone.

Unter dem 19.02.2019 erteilte die Antragsgegnerin der Beigeladenen eine Baugenehmigung für den Neubau und Betrieb eines Altenwohn- und Pflegeheims mit 102 Einzelzimmern, 17 Kfz-Einstellplätzen und einem separaten Gebäude zur Unterbringung der Abfallbehälter auf dem Grundstück in F., H. 3, Flurstücke 43/1 und 56/1 der Flur 6 der Gemarkung F.. Das Baugrundstück liegt etwa 650 bis 750 m von der im Freien verlaufenden Rohrleitung entfernt und damit innerhalb des vom G. festgestellten angemessenen Abstands, weshalb die Antragsgegnerin zuvor unter dem 04.02.2019 die nach Art. 13 der Richtlinie 2012/18/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 04.07.2012 (Seveso-III-Richtlinie) notwendige Abwägungsentscheidung getroffen hatte. Grundlage der Entscheidung war unter anderem eine gutachterliche Stellungnahme des G. vom September 2018 zur Verträglichkeit des geplanten Bauvorhabens mit dem Betriebsbereich E.. In dem Gutachten, das Gegenstand der Baugenehmigung ist, wird ausgeführt, dass eine insgesamt eher erhöhte Schutzbedürftigkeit des Vorhabens vorliege, die sich allerdings ausnahmsweise durch ergänzende vorhabenseitige technische und organisatorische Maßnahmen reduzieren lasse. Aufgrund der Lage des Vorhabens im äußeren Viertel des angemessenen Abstands sowie des nur einmal wöchentlich über etwa vier Stunden auftretenden Gefahrenpotentials könne dadurch eine Situation erzielt werden, bei der der vergleichsweise hohen Schutzbedürftigkeit nur noch ein vergleichsweise geringes Gewicht beizumessen sei. In dem Gutachten wird dazu insbesondere vorgeschlagen, einen Kommunikationsweg zwischen der städtischen Polizei oder Feuerwehr und dem Altenwohn- und Pflegeheim festzulegen sowie sämtliche Aufenthaltsbereiche im Heim mit einer Sprachalamierungsanlage auszurüsten. Die im Einzelnen vorgeschlagenen Maßnahmen sind Inhalt der Baugenehmigung geworden.

Die Antragstellerin legte unter dem 20.03.2019 Widerspruch gegen die Baugenehmigung ein und beantragte zugleich die Aussetzung der sofortigen Vollziehung. Diesen Aussetzungsantrag lehnte die Antragsgegnerin unter dem 25.03.2019 ab.

Die Antragstellerin hat am 15.04.2019 um vorläufigen Rechtsschutz nachgesucht.

Mit Bescheid vom 30.04.2019, zugestellt am 02.05.2019, hat die Antragsgegnerin den Widerspruch der Antragstellerin zurückwiesen. Die Antragstellerin hat daraufhin am 31.05.2019 Klage gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung erhoben.

Sie trägt vor, soweit die Antragsgegnerin mit der nachvollziehenden Abwägung sowie mit Nebenbestimmungen in der Baugenehmigung versucht habe, den störfallspezifischen Risiken des Vorhabens innerhalb des angemessenen Sicherheitsabstands Rechnung zu tragen, dürften diese Erwägungen nicht ausreichen, um annehmen zu können, dass das Vorhaben zulässig sei. So erschienen die vom G. in seiner sachverständigen Stellungnahme dargestellten Maßnahmen als nicht ausreichend. Es sei zu berücksichtigen, dass sich in dem geplanten Objekt ein hoher Anteil besonders mobilitätseingeschränkter Personen aufhalten werde, was im Gefahrenfall erhebliche Auswirkungen hätte. Es müsse sichergestellt werden, dass alle sich im Objekt aufhaltenden Personen rechtzeitig sicher untergebracht werden könnten, damit keine Person im Gefahrenfall in Kontakt mit der Außenluft gerate. So erscheine fraglich, ob gerade ein Vorhaben der in Rede stehenden Art innerhalb des angemessenen Sicherheitsabstands realisiert werden müsse. Auch seien den Sachverständigen des G. die einrichtungsfremden Besucher bei ihrer Stellungnahme aus dem Blick geraten. Wenn das Betreuungspersonal im Alarmfall im Wesentlichen die pflegebedürftigen Personen zu versorgen habe, seien die Besucher nicht entsprechend betreut. Fälschlich ginge die Antragsgegnerin auch davon aus, dass sich die Schutzbedürftigkeit eines Vorhabens mit der Entfernung zum störfallrelevanten Betriebsbereich reduziere. Vielmehr bleibe die Schutzbedürftigkeit eines Vorhabens selbst bei größer werdendem Abstand gleichbleibend hoch. Richtig sei, dass aufgrund des angemessenen Sicherheitsabstands erhebliche Schwierigkeiten bestünden, schutzwürdige Vorhaben in der Innenstadt von F. zuzulassen. Dies sei aber keine Folge des seit Jahrhunderten bestehenden Nebeneinanders ihres Betriebs und der Innenstadt, sondern eine Folge der geänderten Gefährdungseinschätzung durch die Seveso-III-Richtlinie und deren Umsetzung im deutschen Recht. Damit solle gerade die Zulassung solcher Vorhaben in einem angemessenen Abstand eingeschränkt werden, die zu einem größeren Teil durch die Öffentlichkeit genutzt würden bzw. einen allgemeinen Publikumsverkehr erwarten ließen. Um ein öffentlich genutztes Gebäude im Sinne der Seveso-III-Richtlinie handele es sich schon, wenn dieses auch einem Publikumsverkehr diene, wobei es auf eine bestimmte Kundenfrequenz nicht ankomme. Da das Vorhaben der Beigeladenen über ein Restaurant, sechs Besuchertoiletten und über 12 Stellplätze für Besucher verfügen solle, solle es offensichtlich auf einen entsprechenden Publikumsverkehr eingerichtet sein. Aufgrund der erteilten Genehmigung könne nicht ausgeschlossen werden, dass sie, die Antragstellerin, in ihrem eigenen Betrieb mit strengeren Auflagen und Anforderungen nach dem Bundesimmissionsschutzgesetz oder der Störfall-Verordnung rechnen müsse. So führe die Antragsgegnerin aus, dass für die Zulassung des Bauvorhabens der Beigeladenen in der nachvollziehenden Abwägung spreche, dass sie, die Antragstellerin, mit einfachen Mitteln ihre Betriebsabläufe optimieren könne, indem sie die Rohrleitung auf eine doppelwandige Leitungsführung umrüste. Insoweit bestehe eine latente Wahrscheinlichkeit der nachträglichen Anordnung zur Umrüstung, wenn das Bauvorhaben realisiert werde.

Die Antragstellerin beantragt,

die aufschiebende Wirkung ihrer Klage gegen die Baugenehmigung der Antragsgegnerin vom 19.02.2019 für das Bauvorhaben „Neubau eines Altenwohn- und Pflegeheims mit 102 Einzelzimmern sowie mit 17 Kfz-Einstellplätzen und einem separaten Gebäude zur Unterbringung der Abfallbehälter“ auf dem Grundstück H. 3 in F., Flur 6, Flurstücke 43/1 und 56/1 anzuordnen.

Die Antragsgegnerin beantragt,

den Antrag abzulehnen.

Sie trägt vor, fraglich sei, ob die Antragstellerin durch die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung in eigenen Rechten betroffen sei. Die Antragstellerin könne sich nicht darauf berufen, dass sich allein aufgrund des neu hinzutretenden Vorhabens der Beigeladenen ihr immissionsschutzrechtlicher Status verändere. Der Betrieb der Antragstellerin könne für sich das Argument der zeitlichen Priorität in Anspruch nehmen und müsse auch im Hinblick auf die in ihrem Betriebsumfeld bereits vorhandenen Vorbelastungen nicht befürchten, dass es nur aufgrund der Neuzulassung des Vorhabens der Beigeladenen zu nachträglichen betriebseinschränkenden Anordnungen komme. Für die Ermittlung des angemessenen Abstands zwischen dem Betrieb der Antragstellerin und dem Bauvorhaben der Beigeladenen habe sie, die Antragsgegnerin, auf das Gutachten des G. vom März 2018 zurückgreifen können. Dem festgestellten Abstandserfordernis habe sie im Rahmen der nachvollziehenden Abwägung Rechnung getragen. Außerdem habe sie ihrer Abwägung das Gutachten des G. vom September 2018 zugrunde gelegt. Das Gutachten habe die konkrete Konfliktsituation zwischen dem Betrieb der Antragstellerin und dem Bauvorhaben gewichtet. Dabei sei berücksichtigt worden, dass das Bauvorhaben im Randbereich des angemessenen Abstands liege, ein hoher Publikumsverkehr nicht zu erwarten sei und die anwesenden Personen sich überwiegend im Gebäude aufhielten. Das den Abstandswert bedingende Gefahrenpotential trete nur einmal pro Woche auf und dann auch nur tagsüber, wenn in dem geplanten Altenwohn- und Pflegeheim deutlich mehr Betreuungskräfte anwesend seien als nachts. Personen mit einer nur eingeschränkten Handlungs- und Einsichtsfähigkeit stünden geschulte Pflege- und Betreuungspersonen zur Seite. Die Schutzbedürftigkeit des Vorhabens lasse sich durch technische und organisatorische Maßnahmen reduzieren. Für die Zulassung des Bauvorhabens streite zusätzlich der Umstand, dass die Antragstellerin mit einfachen Mitteln eine Optimierung ihrer Betriebsabläufe vornehmen könnte. Durch die Benutzung einer doppelwandigen Rohrleitung zum Abfüllen des Schwefeldioxids könnte der Abfüllvorgang technisch so optimiert werden, dass sich der Sicherheitsabstand auf 650 m reduzieren und das Bauvorhaben außerhalb der Abstandszone liegen würde. Diese freiwillige Optimierungsmöglichkeit sei auch abwägungsrelevant, weil im Rahmen der vorzunehmenden nachvollziehenden Abwägung das Gebot der gegenseitigen Rücksichtnahme zum Tragen komme.

Die Beigeladene stellt keinen Antrag.

Sie trägt vor, dass das zu ihrem Bauvorhaben geplante Restaurant kein öffentliches Restaurant, sondern der Speisesaal für die Bewohner sei. Es sei auch nicht zu beanstanden, dass der G. sich vorrangig mit den zukünftigen Bewohnern des Altenwohn- und Pflegeheims befasst habe. Die möglichen Besucher würden kein zusätzliches Risikopotential darstellen, da die beliebtesten Besuchszeiten in den späten Nachmittagsstunden und an den Wochenenden lägen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und der beigezogenen Verwaltungsvorgänge Bezug genommen. Sämtlicher Akteninhalt war Gegenstand der Entscheidungsfindung.

II.

Der Antrag hat keinen Erfolg.

Er ist gemäß § 80 Abs. 5, § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO zwar zulässig, aber unbegründet.

Im Rahmen einer Entscheidung nach § 80 Abs. 5, § 80a Abs. 3 Satz 2 VwGO bedarf es einer Abwägung der gegenseitigen Interessen der Beteiligten. Maßgeblich ist dabei, wenn sich ein Antragsteller gegen die einem Beigeladenen erteilte Baugenehmigung wendet, ob das private Interesse des Antragstellers an der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs oder das Interesse des Beigeladenen an der sofortigen Ausnutzung der ihm erteilten Baugenehmigung überwiegt. Dabei sind die Erfolgsaussichten des in der Hauptsache eingelegten Rechtsbehelfs von besonderer Bedeutung. Ein überwiegendes Interesse des Antragstellers an der Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Rechtsbehelfs ist in der Regel nur dann anzunehmen, wenn bereits die im Eilverfahren allein mögliche und gebotene summarische Überprüfung ergibt, dass die angegriffene Genehmigung voraussichtlich dessen Rechte verletzt. Umgekehrt überwiegt bei voraussichtlicher Rechtmäßigkeit der Genehmigung in der Regel das Interesse des Beigeladenen an der sofortigen Ausnutzung der ihm erteilten Genehmigung.

Vorliegend überwiegt das Interesse der Beigeladenen, denn die ihr erteilte Baugenehmigung vom 19.02.2019 stellt sich als voraussichtlich rechtmäßig dar.

Das Vorhaben erweist sich als planungsrechtlich zulässig. Es verstößt insbesondere nicht gegen planungsrechtliche, nachbarschützende Gebot der Rücksichtnahme.

Welche Anforderungen sich aus dem Gebot der Rücksichtnahme im Einzelnen ergeben, hängt maßgeblich davon ab, was dem Rücksichtnahmebegünstigten einerseits und dem Rücksichtnahmeverpflichteten andererseits nach Lage der Dinge zuzumuten ist (BVerwG, Urteil vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 32; Hess. VGH, Urteil vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 23; BayVGH, Beschluss vom 24.04.2014 - 15 ZB 13.1167 -, juris Rdnr. 13). Zur Rücksichtnahme ist nicht nur derjenige verpflichtet, der Störungen verursacht, sondern auch derjenige, der ein schutzbedürftiges Vorhaben in der Nachbarschaft einer störenden Anlage errichtet. Nicht nur Vorhaben, von denen unzumutbare Belästigungen oder Störungen ausgehen, sondern auch solche, die sich unzumutbaren Belästigungen oder Störungen aussetzen, können gegen das Rücksichtnahmegebot verstoßen (BayVGH, Beschluss vom 24.04.2014 - 15 ZB 13.1167 -, juris Rdnr. 13).

Entgegen der Ansicht der Antragsgegnerin lässt sich vorliegend eine Verletzung des Rücksichtnahmegebots jedoch nicht bereits damit verneinen, dass das Bauvorhaben der Beigeladenen für den Betrieb der Antragstellerin keine Einschränkungen in Form nachträglicher Anordnungen zur Folge haben wird.

Die im Baurecht vorherrschende Rechtsauffassung, dass sich in der Regel ein Verstoß gegen das Rücksichtnahmegebot nur dann begründen lässt, wenn ein neues störempfindliches Bauvorhaben in der Nachbarschaft eines bestehenden „störenden“ Betriebs für diesen weitere Einschränkungen zur Folge haben wird und dass sich dann, wenn nicht mit einer Verschärfung der Anforderungen an den bestehenden Betrieb zu rechnen ist, das Bauvorhaben gegenüber dem Betrieb auch nicht als rücksichtslos darstellt, ist in Fällen, in denen der störende Betrieb in den Anwendungsbereich der Störfall-Verordnung fällt, inzwischen überholt (anders noch OVG NRW, Beschluss vom 21.02.2012 - 2 B 15/12 -, juris Rdnr. 9; VG Ansbach, Urteil vom 23.02.2017 - AN 9 K 16.00764 -, juris Rdnr. 38; VG Düsseldorf, Beschluss vom 16.12.2011 - 25 L 581/11 -, juris 2. Orientierungssatz und Rdnr. 34).

Nach einem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (vom 15.09.2011 - C-53/10 -, juris) und einem daran anschließenden Urteil des Bundesverwaltungsgerichts (vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 13ff.), jeweils noch zu dem entsprechenden Art. 12 der Seveso-II-Richtlinie, verlangt Art. 13 der Seveso-III-Richtlinie, dass die Risiken der Zulassung eines öffentlich genutzten Gebäudes in der Nachbarschaft eines Störfallbetriebs ungeachtet etwaiger Vorbelastungen gebührend gewürdigt werden. Für eine richtlinienkonforme Handhabung des Gebots der Rücksichtnahme ist deshalb zu prüfen, ob das zuzulassende Vorhaben einen „angemessenen“ Abstand im Sinne der Richtlinie einhält und falls dies nicht der Fall ist, ob es ausnahmsweise trotzdem zugelassen werden kann (Hess. VGH, Urteil vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 24).

Bei dem Betriebsbereich I. Mill} der Antragstellerin handelt es sich unstreitig um einen sogenannten Störfallbetrieb.

Auch spricht Überwiegendes dafür, dass das Bauvorhaben der Beigeladenen ein öffentlich genutztes Gebäude im Sinne der Seveso-III-Richtlinie darstellt.

Unter öffentlich genutzten Gebäuden sind auch privatwirtschaftlich genutzte Gebäude zu verstehen, wenn diese geeignet und dazu bestimmt sind, von der Öffentlichkeit – d.h. einem prinzipiell unbeschränkten Personenkreis – aufgesucht zu werden. Die Nutzung wird als öffentlich angesehen, wenn ein allgemeiner Publikumsverkehr im Sinne eines unkontrollierten Stroms von Besuchern stattfindet mit der Begründung, dass es nicht möglich ist, die Besucher für die Störfallrisiken zu sensibilisieren und Verhaltensregeln einzuüben (vgl. Hess. VGH, Urteil vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 26; vgl. auch Schoen in Landmann/Rohmer, UmweltR Band III, Loseblatt Stand 01.06.2019, Rdnr. 113 zu § 50 BImSchG; Oerder, Schwertner, Wörheide, BauR 2018, S. 436 (439)). Unabhängig von der tatsächlichen Anzahl der Besucher soll es darauf ankommen, dass das Gebäude von einem größeren Teil der Öffentlichkeit benutzt werden kann, weil es über einen für den öffentlichen Verkehr zugänglichen Bereich verfügt (Schoen in Landmann/Rohmer, UmweltR Band III, Loseblatt Stand 01.06.2019, Rdnr. 113 zu § 50 BImSchG; vgl. auch Oerder, Schwertner, Wörheide, BauR 2018, S. 436 (439f.)). Vereinzelt wird allerdings für Alten- und Pflegeheimen kein Publikumsverkehr angenommen (Oerder, Schwertner, Wörheide, BauR 2018, S. 436 (440)).

Das von der Beigeladenen geplante Altenwohn- und Pflegeheim lässt ein gewisses Maß an Publikumsverkehr erwarten. Zum einen ist mit Besuchern für die ständigen Bewohner des Heims zu rechnen, zum anderen ist ausweislich der Betriebsbeschreibung, die Gegenstand der Baugenehmigung geworden ist, geplant, in dem Gebäude auch Kurzzeitpflege anzubieten, also Menschen ausschließlich tagsüber stundenweise zur Pflege aufzunehmen. Darüber hinaus soll das Restaurant – entgegen dem Vortrag der Beigeladenen – ausweislich der Betriebsbeschreibung (Blatt 13 des Genehmigungsvorgangs) nicht nur für Bewohner, sondern auch für Senioren der näheren Umgebung geöffnet sein.

Die Frage, ob das Bauvorhaben der Beigeladenen ein öffentlich genutztes Gebäude und damit ein Schutzobjekt der Seveso-III-Richtlinie ist, kann allerdings im Ergebnis offenbleiben, da sich auch bejahendenfalls das Vorhaben der Beigeladenen nicht als rücksichtslos darstellt. Offen bleibt damit ebenfalls die sich anschließende Frage, ob neben dem zu erwartenden Publikumsverkehr auch die ständigen Bewohner dem besonderen Schutz der Richtlinie unterfallen. Dies lässt sich – auch wenn die Antragstellerin und der G. davon ausgehen – nicht zweifelsfrei bejahen, da ein einzelnes Wohngebäude mit seinen Bewohnern nicht Schutzobjekt der Richtlinie ist (so auch Oerder, Schwertner, Wörheide, BauR 2018, S. 436 (438)). Nach dem Wortlaut der Richtlinie unterfallen ihrem Schutz lediglich neue „Wohngebiete“.

Das Altenwohn- und Pflegeheim hält zu dem Störfallbetrieb der Antragstellerin entweder einen angemessenen Abstand im Sinne der Seveso-III-Richtlinie ein oder es ist – bei Nichteinhalten des Abstands – ausnahmsweise zuzulassen und stellt sich deshalb nicht als rücksichtslos dar.

Der Begriff des angemessenen Abstands ist im Unionsrecht nicht geregelt. Damit obliegt es den zuständigen nationalen Genehmigungsbehörden und Gerichten, den Abstand in jedem Einzelfall anhand aller relevanten störfallspezifischer Faktoren festzulegen (BVerwG, Urteil vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 16; nachfolgend Hess. VGH, Urteil vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 29). Dabei genügt es nicht, für einen Störfallbetrieb einen Sicherheitsabstand zu ermitteln, der für alle Vorhaben im Umfeld des Betriebs gilt. Erforderlich ist vielmehr, für jedes schutzbedürftige Objekt anhand von anlagen- und vorhabenbezogenen störfallspezifischen Faktoren einen angemessenen Sicherheitsabstand festzulegen. Als störfallspezifische Faktoren sind unter anderem auch die Art der Tätigkeit der neuen Ansiedlung und die Intensität der öffentlichen Nutzung zu berücksichtigen. Auch besondere bauliche Anforderungen an das an den Störfallbetrieb heranrückende Vorhaben sind einzustellen, wenn mit ihnen mögliche Schadensfolgen beeinflusst werden können (BVerwG, Urteil vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 18; nachfolgend Hess. VGH, Urteil vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 30, 61; Oerder, Schwertner, Wörheide, BauR 2018, S. 436 (444f.)).

Zwar ergibt sich zunächst aus den anlagenbezogenen störfallspezifischen Faktoren für den Betriebsbereich E. ein Sicherheitsabstand von 800 m um die im Freien liegende Rohrleitung, mit der das Schwefeldioxid von der Abfüllhalle zum Tanklager geleitet wird. Insoweit besteht kein Anlass, an den Feststellungen des G. in seinem Gutachten vom März 2018 zu zweifeln. Insbesondere ist an dieser Stelle irrelevant, ob die Antragstellerin die im Freien verlaufende Rohrleitung als doppelwandige Leitung ertüchtigen und dadurch den vom G. festgestellten Sicherheitsabstand auf 650 m reduzieren könnte, da ihr diese Ertüchtigung zumindest nach Auffassung der Beteiligten nicht aufgegeben werden kann. Bei der Bemessung des angemessenen Abstands sind nur solche technischen Maßnahmen zur Verminderung des Unfallrisikos zu berücksichtigen, die dem Betreiber des Störfallsbetriebs aufgegeben werden können (BVerwG, Urteil vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 18; Hess. VGH, Urteil vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 47).

Der Abstand von 800 m dürfte unter Berücksichtigung der vorhabenbezogenen Faktoren jedoch so weit zu reduzieren sein, dass das Bauvorhaben der Beigeladenen, dessen Grundstück 650 bis 750 m entfernt vom Störfallbetrieb der Antragstellerin liegt, einen angemessenen Abstand wahrt. Das von der Beigeladenen geplante Altenwohn- und Pflegeheim lässt – unabhängig davon, ob es sich um ein öffentliches Gebäude im Sinne der Richtlinie handelt – zum einen keinen besonders großen Besucherverkehr erwarten und zum anderen die Annahme zu, dass etwaige Besucher ganz überwiegend keiner Gefahr eines möglichen Störfalls ausgesetzt sein werden. Ein Altenwohn- und Pflegeheim zeichnet sich nicht durch große Besucherströme aus. Es ist mit deutlich weniger Besuchern zu rechnen als beispielsweise bei einem Gebäude der öffentlichen Verwaltung, einem Kino oder einem Einzelhandelsmarkt (vgl. zu einem Gartencenter Hess. VGH, Urteil vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 68). Dementsprechend sind für das Vorhaben der Beigeladenen auch lediglich 12 Besucherparkplätze geplant. Zu berücksichtigen ist als vorhabenbezogener Faktor darüber hinaus, dass sich sowohl etwaige Besucher als auch die Bewohner des Heims ganz überwiegend im Gebäude aufhalten werden. Die überwiegende Zahl der Besucher sucht im Gebäude einen Bewohner des Heimes auf und wird sich mit diesem in dessen Zimmer, im Speisesaal oder in anderen Räumen des Gebäudes aufhalten. Einige der Bewohner werden gar nicht in der Lage sein, Wege nach draußen zu absolvieren. Auch sind die Außenanlagen des Altenwohn- und Pflegeheims nicht so ausgelegt, dass sich viele Bewohner – oder Besucher – gleichzeitig dort aufhalten können. In den Aufenthaltsräumen im Gebäude können Bewohner und Besucher gleichermaßen durch die zu installierende Sprachalamierungsanlage, welche in der Nebenbestimmung Nr. 52 der Baugenehmigung vorgesehen ist, erreicht werden. Darüber hinaus werden Besuche erfahrungsgemäß ganz überwiegend in den späten Nachmittagsstunden und an den Wochenenden stattfinden und damit zumindest teilweise zu Zeiten, in denen das Störfallrisiko nicht besteht, weil eine Anlieferung des Schwefeldioxids an einem Samstag oder Sonntag ausgeschlossen sein dürfte. Soweit das Restaurant des Heims auch für Senioren aus der näheren Umgebung geöffnet sein wird, gilt gleichermaßen, dass diese Besucher sich im Speisesaal aufhalten werden, wo sie mittels der Sprachalamierungsanlage erreicht werden können. Außerdem sind weitere Maßnahmen als Nebenbestimmungen in die Baugenehmigung aufgenommen worden, die zur Gefahrenreduzierung beitragen werden. Nach Nr. 50 ist die ein direkter Kommunikationsweg zwischen Polizei oder Feuerwehr und einer Stelle in dem Altenwohn- und Pflegeheim festzulegen, der bei Eintritt eines Störfalls eine zügige Information sicherstellt. Nach Nr. 51 ist der gebäudebezogene Alarmplan und die Brandschutzordnung um den Alarmfall „Gefahr von Außen“ zu ergänzen. Nach Nr. 53 sind Ersteinweisungen und Wiederholungsunterweisungen des Personals in die störfallbedingten Gefahren zwingend erforderlich und die notwendigen, detailliert festzuschreibenden Abläufe in einem Ereignisfall regelmäßig zu üben. Schließlich sind nach Nr. 54 in dem Altenwohn- und Pflegeheim Ausstattungsmaterialien und Hilfsmittel von mindestens einem Tagesbedarf vorzuhalten, um bei Eintritt eines Störfalls über einige Stunden „bei geschlossenem Gebäude“ die Versorgung sicherstellen zu können.

Selbst wenn das Bauvorhaben der Beigeladenen den angemessenen Abstand zum Störfallbetrieb der Antragstellerin nicht einhalten sollte, folgt aus einer nachvollziehenden Abwägung, dass es nicht rücksichtslos im bauplanungsrechtlichen Sinne ist.

Zwar wird mit jedem Vorhaben, das den angemessenen Abstand zu einem Störfallbetrieb unterschreitet, der störfallrechtlich unerwünschte Zustand weiter verfestigt. Gleichwohl zwingt Art. 13 Abs. 1 der Seveso-III-Richtlinie nicht dazu, den angemessenen Abstand zum alleinigen Genehmigungskriterium zu machen und Neuansiedlungen in der Nachbarschaft eines Störfallbetriebs damit ausnahmslos abzulehnen. Eine Unterschreitung des angemessenen Abstands zu einem Störfallbetrieb ist vielmehr ausnahmsweise zulässig, wenn die Gemengelage nicht erstmals geschaffen wird und im Einzelfall hinreichend gewichtige nicht störfallspezifische Belange – insbesondere solche sozialer, ökologischer und wirtschaftlicher Art – für die Zulassung des Vorhabens streiten (BVerwG, Urteil vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 22ff.; nachfolgend Hess. VGH, Urteil vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 63f.).

Die Gemengelage aus dem Störfallbetrieb der Antragstellerin und der Innenstadt von F. östlich des Betriebsgeländes besteht offenkundig bereits sehr lange, weshalb Art. 13 der Seveso-III-Richtlinie die Möglichkeit einer nachvollziehenden Abwägung eröffnet.

Eine solche Abwägungsentscheidung hat die Antragsgegnerin unter dem 04.02.2019 getroffen mit dem für das Gericht nachvollziehbaren Ergebnis, das Vorhaben der Beigeladenen ausnahmsweise zuzulassen. Die Bedenken der Antragstellerin bleiben auf das Ergebnis ohne Einfluss.

Bei der wertenden Entscheidung, ob ein schutzwürdiges Vorhaben innerhalb des angemessenen Abstands zu einem Störfallbetrieb zugelassen werden kann, ist dem Abstandserfordernis in spezifischer Weise Rechnung zu tragen. Es bedarf einer nachvollziehenden Abwägung und damit einem Vorgang der Rechtsanwendung, dem eine auf den Einzelfall ausgerichtete Gewichtsbestimmung zugrunde liegen muss, die der vollen gerichtlichen Kontrolle unterliegt. Dabei ist die Abwägung auf einen bipolaren Interessenausgleich ausgerichtet, bei dem städtebauliche oder sonstige öffentliche Gründe unberücksichtigt bleiben müssen. Gegenüber zu stellen sind lediglich das in der Richtlinie zum Ausdruck kommende Interesse, die Folgen eines möglichen Störfalls zu begrenzen und die für die Ansiedlung des Vorhabens sprechenden Belange des Bauherrn (vgl. BVerwG, Urteil vom 20.12.2012 - 4 C 11.11 -, juris Rdnr. 26; Hess. VGH, Urteil vom 11.03.2015 - 4 A 654/13 -, juris Rdnr. 66).

Dementsprechend ist zunächst die von der Antragsgegnerin behauptete Möglichkeit der Antragstellerin, mit einfachen Mitteln eine Optimierung ihrer Betriebsabläufe vorzunehmen und durch die Benutzung einer doppelwandigen Rohrleitung zum Abfüllen des Schwefeldioxids den Sicherheitsabstand auf 650 m zu reduzieren, nicht mit abzuwägen. Auf der Seite des Interesses an einer Folgenbegrenzung lassen sich nur risikomindernde Maßnahmen in die Abwägung einstellen, die dem Störfallbetrieb aufgegeben werden können. Das aber ist nach übereinstimmender Auffassung der Beteiligten nicht der Fall.

Danach ist in die Abwägung für das Interesse der Folgenbegrenzung die Tatsache einzustellen, dass nach Verwirklichung des Vorhabens der Beigeladenen im Falle eines Störfalls ein weiteres Gebäude in F. von den möglichen Auswirkungen betroffen sein wird. Diese Tatsache ist allerdings bei Berücksichtigung der Art des Bauvorhabens nicht besonders schwer zu gewichten. Insoweit ist auf die obigen Ausführungen zu den vorhabenspezifischen Faktoren bei der Bestimmung des angemessenen Abstands zu verweisen, die an dieser Stelle in die Abwägung eingestellt werden müssten, wenn der angemessene Abstand ausschließlich anhand der anlagenspezifischen Faktoren – und damit auf 800 m – festzulegen sein sollte.

Demgegenüber überwiegt das wirtschaftliche Interesse der Beigeladenen. Alleiniger Unternehmenszweck der Beigeladenen ist der Bau und der Betrieb von Altenwohn- und Pflegeheimen. Sie hat das Vorhabengrundstück erworben, um das geplante Bauvorhaben dort zu errichten und trägt unwidersprochen vor, dass es in F. keinen alternativen Standort für das Altenwohn- und Pflegeheim gibt. Zusätzlich ist weder vorgetragen noch für das Gericht ersichtlich, dass das Vorhabengrundstück gewinnbringend anderweitig genutzt werden könnte, weshalb die Beigeladene das Grundstück gar nicht oder nur mit Verlust wieder verkaufen könnte.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Kosten der notwendig Beigeladenen sind gemäß § 162 Abs. 3 VwGO erstattungsfähig.

Die Streitwertfestsetzung beruht auf § 63 Abs. 2 Satz 1 GKG. Die Höhe des Streitwertes folgt aus § 53 Abs. 2 Nr. 2, § 52 Abs. 1 GKG und berücksichtigt Nr. 8 d) der Streitwertannahmen der Bausenate des Niedersächsischen Oberverwaltungsgerichts (NdsVBl. 2002, S. 192).