Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 11.12.2019, Az.: 6 A 4815/17

Alkoholhändler; Beruf; bestimmte soziale Gruppe; gemeinsamer Hintergrund; Irak; völkerrechtskonforme Auslegung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
11.12.2019
Aktenzeichen
6 A 4815/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69926
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Zur (völkerrechtskonformen) Auslegung des Verfolgungsgrundes der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (Art. 10 Abs. 1 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU).
2. Ein gemeinsamer Hintergrund, der nicht verändert werden kann (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a) Var. 2 AsylG), kann aus sonstigen, d.h. nicht biologisch bzw. genetisch determinierten Gründen vorliegen.
3. Im Einklang mit der Auffassung des Hohen Flüchtlings-kommissars der Vereinten Nationen kann ein nicht veränderbarer gemeinsamer Hintergrund bestehen aufgrund einer historischen Bindung, des Berufs oder der sozialen Stellung, insbesondere durch einen früheren vorübergehenden oder freiwilligen Status, der aufgrund seiner „historischen Permanenz“ nicht geändert werden kann.
4. Die Beantwortung der Frage, ob ein gemeinsamer Hintergrund nicht verändert werden kann, ist abhängig von dem kulturellen und sozialen Kontext, in dem der Betreffende lebt.

Tenor:

Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Kläger die Klage zurückgenommen haben.

Im Übrigen wird die Beklagte verpflichtet, dem Kläger zu 1) die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen.

Sie wird ferner verpflichtet, dem Kläger zu 2) die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen unter der Bedingung, dass der Verpflichtungsausspruch in Bezug auf den Kläger zu 1) rechtskräftig wird.

Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 19. Mai 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Die Kläger tragen 1/4, die Beklagte trägt 3/4 der Kosten des Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Dem jeweiligen Vollstreckungsschuldner bleibt nachgelassen, die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abzuwenden, sofern nicht der jeweilige Vollstreckungsgläubiger Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollsteckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

Die Kläger, irakische Staatsangehörige arabischer Volks- und schiitischer Glaubenszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Der im Jahr 1984 geborene Kläger zu 1) reiste gemeinsam mit seinem Sohn, dem im Jahr 2011 geborenen Kläger zu 2), eigenen Angaben zufolge im November 2015 aus dem Irak aus. Im Dezember 2015 reisten sie auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein, wo sie in einer Außenstelle des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) Asylanträge stellten.

Der Kläger zu 1) erklärte in seiner Anhörung beim Bundesamt, er stamme aus der Stadt Basra in der gleichnamigen Provinz. Dort lebe noch seine Mutter. Sein Vater sei kurz nach seiner Ausreise aus dem Irak verstorben. Im Irak hielten sich noch seine Schwester und sein Bruder auf. Eine weitere Schwester lebe in Deutschland. Zu seinem beruflichen Werdegang erklärte er, nach Abschluss des Abiturs von 2008 bis 2012 seinen vierjährigen Wehrdienst absolviert zu haben. Im Anschluss habe er bis Oktober 2015 als Baggerfahrer gearbeitet, zuletzt bei einer italienischen Baufirma.

Zu den Gründen seiner Ausreise erklärte der Kläger zu 1), dass schiitische Milizionäre ihn bedroht und angegriffen hätten, weil er Alkohol verkauft habe. Im Rahmen seiner Tätigkeit bei der besagten italienischen Baufirma habe er viele Freundschaften mit Angestellten aus anderen Ländern aufgebaut. Diese hätten ihn auf die Idee gebracht, in der Firma Alkohol zu verkaufen. Sie hätten sich nämlich nicht getraut, draußen Aktivitäten zu unternehmen, insbesondere einzukaufen, zumal es im Irak schwierig sei, alkoholische Getränke zu erwerben. Er habe den Alkohol in einem bestimmten Viertel von Basra gekauft und in der Firma weiterverkauft. Dies sei so lange gut gegangen, bis ihn schiitische Milizionäre deshalb Anfang des Monats Mai 2015 angegriffen hätten.

An dem betreffenden Tag sei er in der Mittagspause mit dem Auto nachhause gefahren. Dort hätten ihn drei aus einem Pick Up aussteigende Personen angesprochen, welche er aufgrund ihrer auffälligen Kleidung sofort als Anhänger der al-Tayyār al-Sadri (d.h. der Mahdi-Armee) identifiziert habe. Die Männer hätten ihm gesagt, dass sie genau wüssten, er verkaufe Alkohol an Fremde. Er sei mit ihnen in eine verbale Auseinandersetzung geraten, welche damit geendet habe, dass sie ihn geschlagen und ihm das gesamte Geld weggenommen hätten, was er bei sich geführt habe. Die Mitglieder dieser Gruppierung, so der Kläger zu 1), würden nur vorgeben, sich an die Scharia zu halten, tatsächlich aber würden sie selbst die einfachsten Prinzipien der Religion missachten und seien zudem kriminell. Außerdem würden die Anhänger der Mahdi-Armee Fremde hassen und hätten beispielsweise nach der US-Invasion Jagd auf Iraker gemacht, die als Dolmetscher für das US-Militär gearbeitet hätten.

Die Mitglieder dieser Gruppierung hätten überdies seinem Vater gedroht, der ihn, seine Frau und seinen Sohn daraufhin aus dem gemeinsamen Haus geworfen habe. Er, d.h. der Kläger zu 1), gehe dabei davon aus, dass ihn sein Vater einerseits fortgeschickt habe, weil dieser sehr konservativ und gläubig sei, aber auch, weil er Angst gehabt habe, in den Konflikt hineingezogen zu werden. Allerdings habe er Probleme gehabt, unmittelbar eine Wohnung zu finden. Deshalb habe er seine Frau und seinen Sohn zu ihrer Familie nach Bagdad geschickt und habe fortan in der (bewachten) Firma geschlafen. Er habe sich wegen der Bedrohung durch die Mahdi-Armee auch nicht mehr getraut, die Firma zu verlassen. Dort habe er weiterhin Alkohol an Ausländer verkauft. Er habe einen Freund kontaktiert, der ihm Bestellungen geliefert habe, allerdings nicht direkt in die Firma. Kontakte mit der Mahdi-Armee habe er bis zu seiner Ausreise nicht mehr gehabt, weil er sich in der Firma versteckt habe. Der Firma habe er nichts von der Bedrohung durch die Islamisten erzählt, da er befürchtet habe, dass sie ihm kündigen würde, um selbst keine Probleme mit der Gruppierung zu bekommen. Er habe sich auch nicht getraut, Anzeige zu erstatten, weil das Kaufen sowie der Verkauf von Alkohol strafbar seien.

Der weitere Grund, weshalb er den Irak verlassen habe, sei der Tod seiner Frau gewesen, welche im August 2015 auf einem Bagdader Marktplatz durch eine Bombenexplosion gestorben sei. Nach ihrem Tod habe er das Leben im Irak gehasst. Er habe auch nicht zu ihrer Beerdigung gehen dürfen, denn er habe mit ihrer Familie im Streit gestanden, weil er Alkohol verkauft habe. Sein Schwiegervater habe seinen Sohn, den Kläger zu 2), zurück zu seinen Eltern gebracht. Er habe dann seine in Deutschland lebende Schwester kontaktiert, seine Stelle bei der Firma zum Ende des Oktober 2015 gekündigt und sei im November 2015 ausgereist. Im Falle seiner Rückkehr in den Irak, so der Kläger zu 2) abschließend, befürchte er, von den Angehörigen der Mahdi-Armee umgebracht zu werden.

Mit Bescheid vom 19. Mai 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Anerkennung als Asylberechtigte (Nr. 2) ab und erkannte den Klägern weder die Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) noch den subsidiären Schutzstatus (Nr. 3) zu. Überdies stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nach § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) nicht vorliegen (Nr. 4) und drohte die Abschiebung der Kläger in den Irak an (Nr. 5). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 6). Zur Begründung führte der mit dem Anhörenden nicht identische Entscheider im Wesentlichen aus, der Kläger zu 2) könne sich nicht auf ein flüchtlingsrechtlich relevantes Verfolgungsmerkmal berufen. Nach Bewertung des gesamten Sachverhalts sei der Kläger zu 2) Opfer kriminellen Unrechts geworden, was sich auch daran zeige, dass er die Mahdi-Armee als „kriminelle Bande“ bezeichnet habe. Eine weitergehende Gefahr, Opfer erneuter Übergriffe zu werden, sei zu verneinen, denn es habe sich um einen einmaligen Vorgang gehandelt.

Gegen diesen Bescheid hat der Kläger am 31. Mai 2017 Klage erhoben. Zur Begründung wiederholt und vertieft er sein bisheriges Vorbringen. Nach Beendigung seines Wehrdienstes im Jahr 2012 habe er für eine kurze Zeit bei einer koreanischen Firma gearbeitet, dann bei einer irakischen, im Anschluss dann von April 2014 bis Oktober 2015 bei der besagten italienischen Baufirma. Monatlich habe er ca. 800,00 US-Dollar verdient. Da es ihm gestattet gewesen sei, an die überwiegend europäischen und asiatischen Mitarbeiter der Firma Alkohol zu verkaufen, habe er durch diese Nebentätigkeit monatlich ca. 500,00 bis 600,00 US-Dollar verdient. Nachdem sich rumgesprochen habe, dass er alkoholische Getränke an ausländische Mitarbeiter verkaufe, hätten unbekannte Angreifer ihn angehalten, geschlagen und dabei mitgeteilt, dass sie im Namen der Scharia die Morallosigkeit der Gesellschaft unterbinden wollten. Auch sein näheres arabisches Umfeld hätte sich deshalb von ihm distanziert. Angesichts dieser Bedrohungslage habe er keine Möglichkeit mehr für sich gesehen, im Irak zu leben.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 27. Februar 2019 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen, dieser hat den Klägern mit Beschluss vom 4. April 2019 Prozesskostenhilfe bewilligt.

In der mündlichen Verhandlung haben die Kläger erklärt, die Klage zurückzunehmen, soweit sie ursprünglich auch die Anerkennung als Asylberechtigte beantragt haben.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 19. Mai 2017 zu verpflichten,

1. den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

2. hilfsweise, ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

3. hilfsweise, festzustellen, dass in ihrer Person Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 Satz 1 AufenthG vorliegen.

Die Beklagte hat schriftsätzlich beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Das Verfahren ist nach § 92 Abs. 3 S. 1 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO) nach der teilweisen Klagerücknahme mit der Kostenfolge des § 155 Abs. 2 VwGO einzustellen.

Die im Übrigen aufrechterhaltene Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und in dem aus dem Tenor ersichtlichen Umfang begründet. Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 11. November 2019 über die Klage zu entscheiden, obgleich kein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 VwGO).

Die Kläger haben gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 19. Mai 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt die Kläger in ihren Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

1.

Der Kläger zu 1) hat gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge (BGBl. 1953 II S. 559, 560; Genfer Flüchtlingskonvention) ist, wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person des Klägers zu 1) erfüllt.

Eine „begründete Furcht“ vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 – 10 C 23.12, juris Rn. 19). Der hierin verankerte Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 – 9 C 14.89, juris; Urteil vom 01.06.2011 – 10 C 25.10, juris; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, juris, Rn. 32).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs ist das Gericht im vorliegenden Fall aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass die für die Verfolgung des Klägers zu 1) sprechenden Umstände bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht haben als die dagegensprechenden Umstände. Dem Kläger zu 1) droht im Falle seiner Rückkehr in den Irak aus individuellen, an seine Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG, d.h. wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG) sowie wegen der ihm zugeschriebenen Religion (§ 3b Abs. 1 Nr. 2, Abs. 2 AsylG).

Der erstmals in Art. 1 A Nr. 2 S. 1 Var. 4 der Genfer Flüchtlingskonvention genannte Verfolgungsgrund der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe wird von der Konvention weder definiert noch inhaltlich vorausgesetzt. Er ist vielmehr entwicklungsoffen zu verstehen und kann zudem kumulativ neben einem anderen Verfolgungsgrund vorliegen. Unter Zugrundelegung der Struktur der Definition des Flüchtlingsbegriffs in der Genfer Flüchtlingskonvention darf der Begriff der bestimmten sozialen Gruppe umgekehrt jedoch nicht dergestalt ausgelegt werden, dass die anderen vier Konventionsgründe überflüssig werden, also als „Sammelbecken“ für alle Personen, die Verfolgung befürchten. Insbesondere lässt sich eine bestimmte soziale Gruppe nicht ausschließlich dadurch definieren, dass ihre Mitglieder Zielscheibe von Verfolgung sind; umgekehrt können die Handlungen der Verfolger dazu dienen, eine bestimmte soziale Gruppe in einer Gesellschaft zu identifizieren (UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz: „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 7. Mai 2002, S. 2, Rn. 1-4, S. 5, Rn. 14).

Während die Ansätze zur Begründung einer bestimmten sozialen Gruppe in Civil-Law-Rechtsordnungen weniger klar ausdifferenziert sind, haben sich in der staatlichen Praxis der Common-Law-Rechtsordnungen zwei Interpretationen herauskristallisiert (hierzu auch: Marx, ZAR 6/2005, S. 177 (179 f.)). Die erste, welche den Begriff der „geschützten Merkmale“ („protected characteristics“) bzw. „Unveräußerlichkeit“ in den Mittelpunkt stellt, prüft, ob die Gruppe durch eines der nachfolgenden Attribute definiert ist, d.h. (1) ein angeborenes, unveränderliches Merkmal aufweist, alternativ (2) einen früheren vorübergehenden oder freiwilligen Status, der aufgrund seiner „historischen Permanenz“ nicht geändert werden kann oder (3) eine Eigenart oder Bindung, welche für die Würde des Menschen so grundlegend ist, dass Mitglieder nicht gezwungen werden sollten, sie aufzugeben. In Anwendung dieser Interpretation sind Gerichte beispielsweise zu dem Schluss gelangt, dass Frauen, sexuelle Minderheiten oder Familien eine bestimmte soziale Gruppe bilden (UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz: „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 7. Mai 2002, S. 3, Rn. 5 f.; vgl. bzgl. alleinstehender Frauen: VG Hannover, Urteil vom 07.10.2019 – 6 A 5999/17, juris, Rn. 24 f.; bzgl. Familien oder Stämmen: Urteil vom 10.10.2019 – 6 A 4392/17, juris Rn. 26; Urteil vom 10.07.2019 – 6 A 2610/17, juris Rn. 31 f.; bzgl. sexueller Minderheiten: Urteil vom 18.11.2019 – 6 A 4557/17, juris Rn. 21; jeweils m.w.N.). Demgegenüber stellt ein weiter gefasster Interpretationsansatz darauf ab, ob eine Gruppe ein gemeinsames Merkmal teilt, dass sie zu einer erkennbaren Gruppe macht oder sie von der Gesellschaft insgesamt unterscheidet (sog. „Ansatz der sozialen Wahrnehmung“; z.B. High Court of Australia, 190 CLR 225 (1997) – A. v. MIMA). In Bezug auf unveräußerliche oder unverzichtbare Merkmale führt diese Definition zu denselben Ergebnissen wie der erstgenannte Ansatz. Sie ist jedoch insofern weiter gefasst, als sie beispielsweise Vereinigungen als soziale Gruppe anerkennen kann, deren gemeinsame Charakteristik in der betreffenden Gesellschaft weder unveräußerlich bzw. unabänderlich noch grundlegend für die menschliche Würde ist, beispielsweise die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Klasse oder die Ausübung eines bestimmten Berufs (UNHCR, a.a.O., S. 3 f., Rn. 7, 9, 13; Marx, ZAR 6/2005, S. 177 (180); siehe auch: Hecht/Koch, in: Kluth/Hund/Maaßen, Zuwanderungsrecht, 2. Auflage 2017, § 5, Rn. 166).

Der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen hat vor dem Hintergrund dieser unterschiedlichen Definitionen vorgeschlagen, zur Vermeidung von Schutzlücken beide Ansätze in einer Definition zu kombinieren. Als bestimmte soziale Gruppe soll hiernach eine Gruppe von Personen zu verstehen sein, die neben ihrem Verfolgungsrisiko ein weiteres gemeinsames Merkmal aufweisen oder von der Gesellschaft als eine Gruppe wahrgenommen werden. Dieses Merkmal, so der Hohe Flüchtlingskommissar, werde oft angeboren sein, unabänderlich oder in anderer Hinsicht prägend für die Identität, das Bewusstsein oder die Ausübung der Menschenrechte (UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz: „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 7. Mai 2002, S. 4, Rn. 10 f.).

Die Richtlinie 2004/83/EG (Richtlinie 2004/83/EG des Rates vom 29. April 2004 über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, und über den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. Nr. L 304 v. 30.09.2004, S. 12) hat demgegenüber in ihrer Definition der bestimmten sozialen Gruppe in Art. 10 Abs. 1 lit. d) den Ansatz der geschützten Merkmale und denjenigen der sozialen Wahrnehmung zumindest sprachlich miteinander verknüpft (Hruschka/Löhr, NVwZ 2009, S. 205 (208); Müller, Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, 2014, S. 191 f.). Entsprechendes gilt für die Neufassung in Art. 10 Abs. 1 lit. d) der Richtlinie 2011/95/EU (sog. Qualifikationsrichtlinie; Richtlinie 2011/95/EU des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. Dezember 2011 über Normen für die Anerkennung von Drittstaatsangehörigen oder Staatenlosen als Personen mit Anspruch auf internationalen Schutz, für einen einheitlichen Status für Flüchtlinge oder für Personen mit Anrecht auf subsidiären Schutz und für den Inhalt des zu gewährenden Schutzes, ABl. Nr. L 337 v. 20.12.2011, S. 9), auf der auch die gesetzliche Definition in § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 1 AsylG basiert. Hiernach gilt eine Gruppe insbesondere dann als eine bestimmte soziale Gruppe, wenn die Mitglieder dieser Gruppe angeborene Merkmale oder einen gemeinsamen Hintergrund, der nicht verändert werden kann, gemein haben oder Merkmale oder eine Glaubensüberzeugung teilen, die so bedeutsam für die Identität oder das Gewissen sind, dass der Betreffende nicht gezwungen werden sollte, auf sie zu verzichten (lit. a), und die Gruppe in dem betreffenden Land eine deutlich abgegrenzte Identität hat, da sie von der sie umgebenden Gesellschaft als andersartig betrachtet wird (lit. b).

Während zum Teil – unter Ausblendung des Tatbestandsmerkmals „insbesondere“ – davon ausgegangen wird, dass beide Varianten stets kumulativ vorliegen müssen (z.B. VG Weimar, Urteil vom 27.02.2019 – 7 K 20954/16, juris Rn. 33), befürworten andere Stimmen zur Vermeidung von Schutzlücken eine völkerrechtskonforme Auslegung der Qualifikationsrichtlinie, wie sie auch der Hohe Flüchtlingskommissar vorgeschlagen hat, d.h. eine alternative Anwendung beider Tatbestandsvarianten, indem das Wort „und“ als „oder“ zu lesen sei (UNHCR, Kommentar zur Richtlinie 2004/83/EG, März 2005, Kommentar zu Art. 10, S. 20; zustimmend: House of Lords, Fornah and K v. SSHD, [2006] UKHL 46 (18 October 2006), § 16, per Lord Bingham, § 118, per Lord Brown, abrufbar unter: https://www.refworld.org/pdfid/ 4550a9502.pdf; Pelzer/Pennington, Asylmagazin 5/2006, S. 4 (5); Hruschka/Löhr, NVwZ 2009, S. 205 (208); Müller, Die Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, S. 193-195). Zur Begründung wird u.a. verwiesen auf Erwägungsgrund 3 und 4 der Richtlinie 2011/95/EU, wonach sich das Gemeinsame Europäische Asylsystem auf eine „uneingeschränkte und umfassende“ Anwendung der Genfer Flüchtlingskonvention stütze, die einen „wesentlichen Bestandteil des internationalen Rechtsrahmens für den Schutz von Flüchtlingen“ darstelle. Dass der (europäische) Gesetzgeber andere Definitionen der bestimmten sozialen Gruppe nicht habe ausschließen wollen, verdeutliche sich auch vor dem Hintergrund des Art. 3 in Verbindung mit Erwägungsgrund 12 der Richtlinie 2011/95/EU. Hiernach enthalte die Qualifikationsrichtlinie nur Mindestnormen, d.h. in den Worten der Kommission zu Art. 10 Abs. 1 der Richtlinie 2004/83/EG: „eine nichterschöpfende Liste von Anhaltspunkten […], die bei der Prüfung der Verfolgungsgründe berücksichtigt werden müssen (Kommission, Bericht an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Richtlinie 2004/83/EG, 16. Juni 2010, KOM(2010)314 endg, S. 9).

Welchem dieser beiden Auslegungsansätze zu Art. 10 Abs. 1 lit. d) der Qualifikationsrichtlinie bzw. § 3b Abs. 1 Nr. 4 HS 1 AsylG zu folgen ist, kann im vorliegenden Fall offenbleiben. Auch unter Zugrundelegung des enger gefassten Tatbestandsverständnisses, wonach beide Varianten kumulativ vorliegen müssen, stellen Alkoholverkäufer zumindest auf dem der irakischen Zentralregierung unterstehenden Herrschaftsgebiet eine bestimmte soziale Gruppe dar (vgl. hierzu auch: VG Hannover, Urteil vom 27.06.2019 – 6 A 4916/17, juris Rn. 29; BayVGH, Beschluss vom 08.02.2013 – 13a ZB 12.30468, abrufbar unter: https://www.asyl.net/rsdb/M20438/, a.A.: VG Berlin, Urteil vom 16.04.2019 – 25 K 234.17 A, juris Rn. 30; OVG Sachsen, Urteil vom 29.04.2014 – A 4 A 104/14, abrufbar unter: https://www.asyl.net/rsdb/m21963/, Rn. 24).

In Bezug auf die Auslegung des Tatbestandsmerkmals des § 3b Abs. 1 Nr. 4 lit. a) AsylG, d.h. der angeborenen Merkmale oder eines gemeinsamen, nicht veränderbaren Hintergrunds, ist dabei zu berücksichtigen, dass dieser bereits dem Gesetzeswortlaut zufolge nicht nur genetisch determinierte Kriterien erfasst (z.B. das Geschlecht oder die soziale Abstammung). Im Einklang mit den Ausführungen des Hohen Flüchtlingskommissars, die als Hilfe bei der Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft nach Art. 1 der Genfer Flüchtlingskonvention dienen (Erwägungsgrund 22 der Qualifikationsrichtlinie), können Merkmale im Sinne des dargestellten restriktiven Auslegungsansatzes auch „aus anderen Gründen unabänderlich sein (etwa aufgrund einer historischen Bindung, des Berufs oder der sozialen Stellung)“, insbesondere „durch einen früheren vorübergehenden oder freiwilligen Status, der aufgrund seiner historischen Permanenz nicht geändert werden kann“ (UNHCR, Richtlinien zum Internationalen Schutz: „Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe“ im Zusammenhang mit Artikel 1 A (2) des Abkommens von 1951 bzw. des Protokolls von 1967 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge, 7. Mai 2002, S. 3, Rn. 6). Die Beantwortung der Frage, ob die geschützten Merkmale nicht verändert werden können, ist dabei abhängig von dem kulturellen und sozialen Kontext, in dem der Betreffende lebt (Marx, ZAR 6/2005, S. 177 (179) m.w.N.). Dass die (unabänderliche) Zuschreibung sozialer Merkmale für die Bestimmung der Flüchtlingseigenschaft relevant sein kann, verdeutlicht in diesem Zusammenhang auch die Regelung des § 3b Abs. 2 AsylG. Nicht zuletzt hat die Kommission in der Begründung ihres ursprünglichen Entwurfs zur Richtlinie 2004/83/EG hervorgehoben, die Formulierung in Art. 10 Abs. 1 lit. d) sei „relativ allgemein gehalten“ und „umfassend auszulegen“, um das Entstehen von Schutzlücken zu verhindern. Darüber hinaus sei die Formulierung der bestimmten soziale Gruppe derart auszulegen, dass sie auch Gruppen von Personen umfasse, die nach dem Gesetz als „minderwertig“ oder Menschen „zweiter Klasse“ gelten würden, wodurch die Verfolgung durch Privatpersonen oder sonstige nichtstaatliche Akteure stillschweigend geduldet werde; ferner Gruppen, gegenüber denen der Staat in diskriminierender Weise vom Gesetz Gebrauch mache und bei denen er sich weigere, das Gesetz zu ihrem Schutz anzuwenden (Kommission, Vorschlag für eine Richtlinie des Rates über Mindestnormen für die Anerkennung und den Status von Drittstaatsangehörigen und Staatenlosen als Flüchtlinge oder als Personen, die anderweitig internationalen Schutz benötigen, KOM(2001) 510, endg, 12. September 2001, S. 24 f.; Marx, ZAR 6/2005, S. 177 (179).

Die vorgenannten Voraussetzungen sind in Bezug auf Alkoholhändler zumindest auf dem der irakischen Zentralregierung unterstehenden Herrschaftsgebiet erfüllt. Eine ehemalige bzw. fortdauernde berufliche Tätigkeit als Alkoholhändler stellt im Hinblick auf die damit einhergehende gravierende und dauerhafte gesellschaftliche Stigmatisierung einen nicht mehr veränderbaren Hintergrund dar, wobei die irakische Gesellschaft die Betroffenen nicht nur als andersartig im Sinne einer abgrenzbaren Identität betrachtet, sondern darüber hinaus sogar als gesellschaftlichen Fremdkörper (vgl. VG Hannover, Urteil vom 27.06.2019 – 6 A 4916/17, juris Rn. 29). Hiermit einher geht eine besondere Verletzlichkeit bzw. Anfälligkeit gegenüber den in § 3a AsylG bezeichneten Verfolgungshandlungen.

Alkoholhändler sind im Irak gegenwärtig (zumindest) auf dem der irakischen Zentralregierung unterstehenden Herrschaftsgebiet mit einem spürbaren gesellschaftlichen Stigma behaftet, mit dem ein erhebliches Risiko einhergeht, Opfer gewaltsamer Übergriffe religiöser Extremisten zu werden. Dies gilt ungeachtet des Umstandes, dass nach Erkenntnissen der Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahr 2014 der Irak in Bezug auf den Pro-Kopf-Konsum von Alkohol weltweit Platz 12 unter den 22 arabischen Ländern belegt (Kurdistan24, Artikel vom 29. Juni 2019, „Iraqi Sunni leader calls on Baghdad to ban alcohol sales“). Nach einer langjährigen Toleranz des Alkoholhandels in den 70er und 80er Jahren kommt es ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel seit Beginn der 1990er Jahre zu einer religiös motivierten gesellschaftlichen Ausgrenzung von Alkoholhändlern und zu gewaltsamen Übergriffen auf diese. Nach der irakischen Niederlage im Zweiten Golfkrieg begann Saddam Hussein in den frühen 90er Jahren aus machtpolitischem Kalkül damit, den Verkauf von Alkohol streng zu regulieren, den öffentlichen Alkoholkonsum zu untersagen und religiöse Ansprachen an die Mitglieder der säkularen Ba’ath-Partei sowie die übrige Bevölkerung zu halten. Einer weiterhin gültigen gesetzlichen Regelung aus dem Jahr 2001 zufolge setzt die Erteilung einer Lizenz als Alkoholverkäufer voraus, dass der Bewerber älter als 21 Jahre, irakischer Staatsangehöriger und nicht muslimischen Glaubens ist. Nach dem Sturz Saddam Husseins im Jahr 2003 erlebte das Alkoholgeschäft einerseits einen schwunghaften Aufstieg, andererseits waren Alkoholverkäufer eine der ersten Gruppen, die insbesondere in den Jahren nach 2006 tödlichen Angriffen von religiösen Extremisten ausgesetzt waren, welche sich dem Ziel verschrieben hatten, alle Lebensbereiche des irakischen Staates dem islamischen Recht zu unterwerfen (VG Hannover, Urteil vom 27.06.2019 – 6 A 4916/17, juris Rn. 30-38 m.w.N.)

In den letzten Jahren erlebte der Irak einen weiteren deutlichen Rückschritt in Bezug auf die Akzeptanz des Alkoholkonsums seitens der schiitischen Mehrheitsgesellschaft und der sunnitischen Bevölkerungsminderheit. Der öffentliche Verkauf von Alkohol sieht sich nach Auskunft des Sachverständigen Mark Lattimer gegenüber dem European Asylum Support Office aus April 2017 gegenwärtig einer deutlichen Missbilligung durch weite Teile der irakischen Gesellschaft ausgesetzt. Der Vorwurf, ein Alkoholverkäufer zu sein, behafte jemanden mit einem Stigma aus Gründen der ethnischen oder religiösen Identität. Es gebe einige Gemeinschaften, welche mit dieser Praxis in Verbindung gebracht würden, z.B. Christen und Kakai (Ahl-e Haqq), was als Grund für ihre Verfolgung angegeben worden sei. In manchen Fällen werde der Vorwurf des Alkoholhandels als bloße Unterstellung genutzt, um Menschen zum Wegzug zu bewegen oder zur Aufgabe ihres Grundeigentums zu veranlassen (EASO, Country of Origin Information Report: Iraq. Targeting of Individuals, März 2019, S. 85 f.).

Aufgrund einer parlamentarischen Initiative schiitischer Islamisten, welche eine Regelung über das Verbot des Verkaufs von Alkohol in einem Gesetzesentwurf mit Bestimmungen über kommunale Gebietskörperschaften getarnt hatten, beschloss das irakische Parlament im Oktober 2016 überdies überraschend und ohne nähere Beratung ein landesweites Verbot des Imports, der Produktion und des Verkaufs von Alkohol, wobei noch unklar ist, wie effektiv das Verbot tatsächlich landesweit durchgesetzt wird. Während beispielsweise der Gouverneur der Provinz Salah ad-Din im Juli 2018 alle Alkoholläden schließen ließ und die Behörden Ramadis, der Hauptstadt der Provinz al-Anbar, im Dezember 2018 die Ausgabe von Verkaufslizenzen zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung und Moral“ stoppten, hatte die Regierung der kurdischen Autonomieregion demgegenüber bereits kurz nach Verabschiedung des Gesetzes bekräftigt, das Alkoholverbot in den kurdischen Territorien weder anzuwenden noch durchzusetzen. Ebenso ordnete die örtliche Gesundheitsbehörde in Bagdad noch im März 2019 unter Verhängung hoher Bußgelder die zeitlich begrenzte Schließung zahlreicher Cafés und Restaurants mit der Begründung an, diese wiesen nicht die „notwendigen Lizenzen“ für den Ausschank von Alkohol auf (VG Hannover, Urteil vom 27.06.2019 – 6 A 4916/17, juris Rn. 33 m.w.N.; Kurdistan24, Artikel vom 29. Dezember 2018, „Iraqi city halts new liquor licenses to preserve ‘public morals‘“; Kurdistan24, Artikel vom 17. Oktober 2019, „Unkown attackers target Baghdad liquor shop“). Im Juni 2019 forderte zudem der Großmufti Sheikh Abdul Mahdi al-Sumaidaie, die höchste religiöse Autorität der irakischen Sunniten, den irakischen Innenminister unter Appellation an seinen islamischen Glauben dazu auf, sämtliche Alkoholshops in Bagdad zu schließen (Kurdistan24, Artikel vom 29. Juni 2019, „Iraqi Sunni leader calls on Baghdad to ban alcohol sales).

Zugleich wird aus den vorliegenden Erkenntnismitteln ersichtlich, dass Alkoholverkäufer nicht allein deshalb stigmatisiert werden, weil sie – wie im Regelfall – Angehörige der christlichen oder yezidischen Minderheit im Irak sind (a.A.: VG Berlin, Urteil vom 16.04.2019 – 25 K 234.17 A, juris Rn. 30), sondern, weil sie von islamisch-konservativen, vornehmlich schiitischen Glaubensvorstellungen abweichen, wobei zum Teil aus diesem isolierten Umstand auf eine religiöse Zugehörigkeit des Betreffenden zum Christen- oder Yezidentum geschlossen wird. Nach Auskunft eines weiteren Sachverständigen gegenüber dem European Asylum Support Office gehören Alkoholhändler zudem gemeinsam mit LGBT-Personen und Christen zu einer der fünf großen Gruppen, welche schwerpunktmäßig von schiitischen Milizen angegriffen werden, d.h. derjenigen Gruppe, deren Verhalten im Widerspruch zu schiitischen Glaubensvorstellungen steht. Auch das jüngst verhängte Alkoholverkaufsverbot wird in der Bevölkerung nicht lediglich als islamisch-fundamentalistisch motivierte Aktion gegen religiöse Minderheiten gedeutet, sondern zugleich als Maßnahme gegen säkulare muslimische Iraker (VG Hannover, Urteil vom 27.06.2019 – 6 A 4916/17, juris Rn. 37 m.w.N.).

Importeure und Verkäufer von Alkohol sahen sich hiernach auch in den letzten Jahren weiterhin gewaltsam Angriffen der vornehmlich schiitischen Milizen der Volksmobilisierungseinheiten (al-Haschd asch-Schaʿbī bzw. Popular Mobilisation Forces/PMF-Milizen) ausgesetzt, zum Teil mit expliziter Billigung der schiitischen Gemeinschaft, und müssen mit massiver Diskretion bzw. unter erheblichen Sicherheitsvorkehrungen agieren. Angriffe auf Alkoholhändler gehen daneben auch von Anhängern des „Islamischen Staates“ (IS) aus (EASO, Country of Origin Information Report: Iraq. Targeting of Individuals, März 2019, S. 84, 86; VG Hannover, Urteil vom 27.06.2019 – 6 A 4916/17, juris Rn. 38; jeweils m.w.N.). Als langjährige Zentren der (tödlichen) Übergriffe gelten die Städte Bagdad und Basra, wobei die Täter zum Teil in Uniformen der irakischen Sicherheitskräfte auftraten (EASO, Country of Origin Information Report: Iraq. Targeting of Individuals, März 2019, S. 85 f.; The Daily Telegraph, Artikel vom 10. Mai 2003, „Murder of Catholics selling alcohol raises fundamentalist fears“; The New York Times, Artikel vom 19. Februar 2004, „The Struggle For Iraq: Basra; Killings of Vendors in Iraqi City Drive Alcohol Sales Off Streets“; Worldview, Artikel vom 27. Juli 2004, „Iraq: Alcohol Sellers Detained“; Asia News, Artikel vom 28. Oktober 2016, „Gunmen kill a Christian shopkeeper in Basra, the first victim of Iraq’s anti-alcohol law“).

Unter Berücksichtigung der vorgenannten Erkenntnisquellen führt allerdings auch eine Tätigkeit als Alkoholhändler nur dann zu einer Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe im Sinne des § 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG, wenn sie dem Betreffenden als nachhaltiges soziales Stigma anhaftet, weil er diese Tätigkeit nicht nur kurzfristig-gelegentlich ausgeübt hat, sondern als eine auf Dauer angelegte Tätigkeit zur Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage (VG Hannover, Urteil vom 27.06.2019 – 6 A 4916/17, juris Rn. 39; vgl. zu diesem Kriterium im Kontext des Art. 12 Abs. 1 GG: Ruffert, in: BeckOK Grundgesetz, hrsg. v. Epping/Hillgruber, Stand: Mai 2019, Art. 12 GG, Rn. 40 m.w.N.).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs droht dem Kläger zu 1) im Falle seiner Rückkehr in den Irak aufgrund seiner Zugehörigkeit zur bestimmten sozialen Gruppe der Alkoholhändler Verfolgung im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 1, Abs. 3 AsylG durch die schiitische PMF-Miliz Mahdi-Armee.

Die diesbezügliche Aussage des Klägers zu 1) in der mündlichen Verhandlung enthielt hinreichende Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines erlebten Geschehens sprechen. Er schilderte das Geschehen insbesondere im Kerngeschehen logisch konsistent, mit einem erheblichen quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen sowie unter Angabe nicht verstandener Handlungselemente sowie räumlich-zeitlicher Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Zudem wiesen die Schilderungen des Klägers auch die nötige Konsistenz zu seiner vorherigen Aussage beim Bundesamt auf. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf die ausführliche Sitzungsniederschrift verwiesen.

Es steht hiernach insbesondere zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass der Kläger zu 1) der vorgenannten bestimmten sozialen Gruppe unterfällt, weil er die Tätigkeit als (nebenberuflicher) Alkoholhändler als eine auf Dauer angelegte Tätigkeit zur Schaffung und Erhaltung einer Lebensgrundlage ausübte, da er diese in der Zeit von September/Oktober 2014 bis Oktober 2015 wahrnahm und hierbei Einnahmen von durchschnittlich 500,00 bis 600,00 US-Dollar erzielte. Der Kläger zu 1) ist auch mit dem sozialen Stigma behaftet, welches mit einer Tätigkeit als Alkoholhändler im Irak einhergeht, da ihn im Jahr 2015 Angehörige der schiitischen Miliz Mahdi-Armee zweifelsfrei als Alkoholverkäufer identifizierten, zur Strafe körperlich misshandelten und unter Todesdrohungen Lösegeld von seiner Familie erpressten.

In diesem Zusammenhang hat der Kläger zu 1) glaubhaft dargetan, dass er – entgegen der kursorischen Protokollierung seiner Anhörung beim Bundesamt – nicht nur einmal, sondern zweimal von Anhängern der Mahdi-Armee bedroht wurde (siehe zu dieser Gruppierung: VG Hannover, Urteil vom 25.07.2019 – 6 A 2971/17, juris Rn. 34 ff.). Beim ersten Mal hätten ihn drei mit Kalashnikow-Schnellfeuergewahren bewaffnete Milizionäre Ende April 2015 zuhause während seiner Mittagspause konfrontiert, als er gerade in sein Auto habe einsteigen wollte. Die traditionell bekleideten Männer, welche in einem schwarzen Pickup vorgefahren seien, hätten ihn geschlagen und getreten sowie ihm gesagt, dass der Verkauf von Alkohol „ḥarām“ sei. Außerdem hätten sie ihm Geld und sein Handy weggenommen sowie sein Auto durchsucht. Die Männer hätten ihm gesagt: „Wenn du das wiederholst, wirst Du getötet. Du bist schuld; das ist ein Delikt!“ Nachdem er versprochen habe, dass er es nicht wieder tun werde, hätten sie von ihm abgelassen, nicht jedoch, ohne noch eine letzte Drohung auszusprechen.

Der zweite Vorfall, so der Kläger zu 1) im Rahmen seiner glaubhaften Ausführungen in der mündlichen Verhandlung, habe sich ca. eine Woche später zugetragen, als er gerade mit einem der zwei Firmenwagen mit einer Alkohollieferung auf dem Rückweg von der Al-Bashar-Straße gewesen sei. In der Nähe der Brücke Al Tanioma, gerade außer Reichweite der dort befindlichen polizeilichen Kontrollposten, hätten ihn die Insassen desselben Pickups zum Anhalten gezwungen. Die drei Männer, von denen er zwei vom letzten Vorfall wiedererkannt habe, hätten ihn auf frischer Tat ertappt, d.h. Bier und Whiskey in seinem Auto gefunden. Sie hätten ihn in ihr Auto einsteigen lassen, ihn mitgenommen und seien zum Haus seines Vaters gefahren, der im Ort eine angesehene Person gewesen sei. Diesem hätten sie gesagt: „Wir töten deinen Sohn, wenn Du kein Lösegeld zahlst!“ Sein Vater habe dann 80.000 Dollar Lösegeld zahlen müssen, wobei es in derartigen Fällen, so der Kläger zu 1), keine Garantie gebe, dass die Angelegenheit damit geregelt sei. Hierzu habe sein Vater ein Grundstück verkaufen müssen, das er selbst geerbt habe. Anschließend habe sein Vater ihn und seine Familie aus dem Haus geworfen. Mangels Wohnung habe er seine Frau und seinen Sohn, den Kläger zu 2), nach Bagdad geschickt, wo sie sich bis zum Tod seiner Frau im August 2015 aufgehalten hätten. Er selbst habe sich in der Zwischenzeit dauerhaft auf dem Gelände der italienischen Baufirma versteckt, weil es dort Wachtürme sowie eine Sicherheitsfirma gebe, die das Gelände bewache. Dort habe er mit Hilfe eines Freundes weiterhin Alkohol an Mitarbeiter verkauft, wenn auch in größeren zeitlichen Abständen als zuvor.

Die Verfolgung, welche dem Kläger zu 1) in Anbetracht seines Verhaltens im Falle einer Rückkehr in den Irak weiterhin droht, lässt sich entgegen der Feststellungen im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamts auch nicht als bloßes kriminelles Unrecht abtun. Zum einen ist gerade die Mahdi-Armee ausweislich der dargestellten Erkenntnismittellage dafür bekannt, aus religiösen Gründen Alkoholhändler anzugreifen. Zum anderen kombiniert die Mahdi-Armee (ebenso wie die Mehrzahl der PMF-Milizen) politisch oder religiös motivierte Verfolgungshandlungen beliebig mit Methoden der organisierten Kriminalität, d.h. Raubüberfällen, Morden, Vergewaltigungen und Schutzgelderpressungen, oftmals bei gleichzeitigem Innehalten hochrangiger Positionen im irakischen Sicherheitsapparat (VG Hannover, Urteil vom 25.07.2019 – 6 A 2971/17, juris Rn. 45; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 07.05.2019 – A 3 K 2973/17, juris Rn. 41; jeweils m.w.N.).

Die dem Kläger widerfahrene Verfolgung ist zudem flüchtlingsrechtlich beachtlich im Sinne des § 3c AsylG. Die Mahdi-Armee stellt als in den Dachverband der Volksmobilisierungseinheiten eingegliederte Miliz ein staatliches Organ im weiteren Sinne gemäß § 3c Nr. 1 AsylG dar (vgl. VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/16, juris LS, Rn. 41 ff.; VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 07.05.2019 – A 3 K 2973/17, juris Rn. 71; a.A.: VG Göttingen, Urteil vom 08.11.2018 – 2 A 292/17, juris LS 3, Rn. 40). Zum einen ist es für die Zurechnung zur staatlichen Sphäre ausreichend, dass sich der Staat der betreffenden Personen oder Gruppierung zur Herrschaftsausübung bedient, wie es bei PMF-Milizen aufgrund deren staatlicher Finanzierung und logistischer Förderung seit Juni 2014 der Fall ist. Zum anderen ist eine asylrechtlich relevante Verantwortlichkeit des Staates für Verfolgungsmaßnahmen (privater) Dritter nicht nur in dem Fall anzunehmen, in dem diese Verfolgungsmaßnahmen auf Anregung des Staates zurückgehen oder doch dessen Unterstützung oder einvernehmliche Duldung genießen. Übergriffe sind vielmehr auch dann einem Staat zurechenbar, wenn der an sich schutzwillige Staat, wie das ungleiche Kräfteverhältnis der regulären irakischen Sicherheitskräfte zu den militärisch überlegenen PMF-Milizen verdeutlicht, zur Verhinderung von Verfolgungsmaßnahmen prinzipiell und auf gewisse Dauer außerstande ist, weil er das Gesetz des Handelns an andere Kräfte verloren hat und seine staatlichen Sicherheits- und Ordnungsvorstellungen nicht mehr durchzusetzen vermag.

Für eine Einordnung der PMF-Milizen als staatliche Organisationen spricht nicht zuletzt, dass Muqtada al-Sadr, der Anführer der Mahdi-Armee, mit seiner Liste Sairoon („Wir marschieren“) im Mai 2018 die irakische Parlamentswahl gewann und im Juni 2018 eine Koalitionsvereinbarung mit der zweitplatzierten Fatah Allianz schloss, welche aus Kata’ib Hezbollah, Asa’ib Ahl al-Haqq (AAH), der Badr Organisation und anderen einflussreichen schiitischen PMF-Milizen besteht. Hiermit korrespondierend kürten Sadr und der Chef der Fatah Allianz, Hadi al-Amiri, nach der Wahl den schiitischen Politiker Adil Abdul-Mahdi zum Ministerpräsidenten. Dieser verkündete zu Beginn des Juli 2019, dass alle PMF-Milizen nunmehr als untrennbarer Teil der regulären irakischen Streitkräfte operieren sollen, womit die Gruppierungen offiziellen staatlichen Schutz genießen, ohne dass hiermit effektive Einflussmöglichkeiten des irakischen Staates auf ihr Wirken einhergehen (VG Hannover, Urteil vom 25.07.2019 – 6 A 2971/17, juris Rn. 39, 48 m.w.N.). Im September 2019 verfügte zudem der Leiter der PMF, Abu Mahdi al-Muhandis, die Etablierung einer eigenen „Luftwaffe“ der PMF (Radio Farda, Artikel vom 6. September 2019, „Pro-Iran Militia in Iraq Announces Formation of ‚Air Force‘“).

Dem Kläger zu 1) steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr auch kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung (s. etwa: VG Hannover, Urteil vom 12.11.2018 – 6 A 6923/16, juris Rn. 52 ff.) an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Auch der Hohe Flüchtlingskommissar der Vereinten Nationen weist in einer Auskunft aus April 2018 darauf hin, dass interne Fluchtalternativen im Irak in Anbetracht der gegenwärtigen Sicherheitslage und humanitären Verhältnisse allenfalls in Ausnahmefällen gegeben seien, wobei im Falle der Stadt Bagdad zusätzlich die schlechte Sicherheitslage und der erhebliche Einfluss schiitischer PMF-Milizen zu berücksichtigen sei (UNHCR, Auskunft vom 25. April 2018 gegenüber dem VG Sigmaringen zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16 –, S. 2; ebenso: Deutsche Orient-Stiftung, Auskunft zum Beweisbeschluss vom 19. Oktober 2017 – A 1 K 5641/16, 22. November 2017, S. 5 f.).

Im Übrigen, d.h. die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft selbständig tragend, droht dem Kläger zu 1) im Falle einer Rückkehr in den Irak zudem mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit religiöse Verfolgung, d.h. gewaltsame Übergriffe durch private Akteure, da ihn Mitglieder seiner Familie und seines Stammes wahrheitswidrig (§ 3b Abs. 2 AsylG) beschuldigen, zum Christentum konvertiert zu sein und seine in Deutschland lebende Schwester zum Christentum bekehrt zu haben (zu den Risiken einer Konversion vom Islam zum Christentum siehe: VG Hannover, Urteil vom 11.11.2019 – 6 A 612/17, juris Rn. 32 ff. m.w.N.).

Nach Erkenntnissen des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (UNHCR) und der christlichen Hilfsorganisation Open Doors führt eine öffentliche Konversion zum Christentum im Irak wahrscheinlich zu Ausgrenzung und/oder Gewalt durch die Gemeinschaft, die Familie des Betroffenen oder seinen Stamm (zum Stammesbegriff: VG Hannover, Urteil vom 11.06.2018 – 6 A 7435/16, juris Rn. 43; Jabar, Der Stamm im Staat, 18. Juli 2003, S. 11), ferner durch islamistische bewaffnete Gruppen. Konvertiten würden ihre Konversion in Anbetracht der ihnen gegenüber weit verbreiteten Feindseligkeit geheim halten, zumal Familien und Stämme die Konversion eines ihrer Mitglieder wahrscheinlich als Verletzung ihrer kollektiven „Ehre“ ansähen. Sie würden riskieren, ihre Erbschaftsrechte zu verlieren sowie das Recht auf und die Mittel für eine Eheschließung (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Rechtliche Folgen bei Konversion eines Sunniten zu christlicher Gemeinschaft […] [a-11036], 26. Juli 2019).

Nach einer Auskunft des European Asylum Support Office aus Juli 2017 geht man im Irak davon aus, dass eine Person in eine Religion hineingeboren werde und diese bis zu ihrem Tod behalte. Nicht nur im Islam, sondern auch in anderen Religionsgemeinschaften im Irak werde der Abfall vom Glauben nicht nur als Beleidigung empfunden, sondern auch als unnatürlich angesehen (ACCORD, Anfragebeantwortung zum Irak: Rechtliche Folgen bei Konversion eines Sunniten zu christlicher Gemeinschaft […] [a-11036], 26. Juli 2019). Im Islam ist dieses dem Umstand geschuldet, dass dieser seinen geschichtlichen Ursprüngen zufolge keine Trennung zwischen Staats- und Glaubensgemeinschaft kennt. Seinem Wesen und seiner geschichtlichen Herkunft nach ist der strafbare Abfall vom Islam somit gleichbedeutend mit politischem Hochverrat (ausführlich zu diesem Begriffsverständnis: German Institute of Global and Area Studies (GIGA), Institut für Nahost-Studien, Stellungnahme vom 2. April 2007 an das Verwaltungsgericht Aachen im Verfahren 4 K 605/05.A, S. 1 ff.). Nach dem Recht der Scharia zu ahndende Tabubrüche sind dabei gemäß weitverbreiteter Auffassung jedenfalls Handlungen, welche eine Stoßrichtung gegen die Gemeinschaft der Gläubigen des Islam entfalten und diese verkleinern. Dies betrifft insbesondere vom Islam abgefallene Personen, die missionarische Tätigkeiten entfalten oder solche, die sich aus religiös motivierten Gründen gegen die Glaubens-/Staatsgemeinschaft wenden (GIGA, a.a.O., S. 4-6; VG Hannover, Urteil vom 11.11.2019 – 6 A 612/17, juris Rn. 39).

Diese Erkenntnisse zum Risiko von zum Christentum konvertierenden Muslimen, Opfer gewaltsamer Übergriffe durch Stammesangehörige oder sonstige Dritte zu werden, finden ihre sachliche Entsprechung im vorliegenden Fall.

Der Kläger zu 1) hat in der mündlichen Verhandlung glaubhaft geschildert und durch Vorlage eines Fotoalbums nachgewiesen, dass seine in Deutschland lebende Schwester sich in Deutschland taufen lassen und zudem kirchlich geheiratet hat. Er selbst, so der Kläger zu 1), habe auch großes Interesse an anderen Religionen, habe seine Schwester regelmäßig in die Kirche begleitet und sei auch bei ihrer Taufe und Hochzeit zugegen gewesen. Nachdem Freundinnen seiner Schwester diese Bilder in sozialen Netzwerken im Internet verbreitet hätten, hätten im Irak lebende Verwandte ihm „als männlichen Aufpasser“ die Schuld an der Konversion seiner Schwester gegeben. Dies treffe insbesondere auf seinen Bruder zu, wobei er, der Kläger zu 1), vermute, dass sein Bruder ihn mit diesem Vorwurf vor allem um seinen Anteil am Erbe ihres zwischenzeitlich verstorbenen Vaters habe bringen wollen. Sein Onkel väterlicherseits, der nach dem Tod seines Vaters die Position des Stammesoberhaupts übernommen habe, habe ihn als „Murtad“ bezeichnet, das heißt als Abtrünnigen vom Islam, der bestraft werden müsse. Als Strafe hierfür, so der Kläger zu 1), sehe der Islam den Tod vor. Diesen Vortrag erachtet der Einzelrichter auch deshalb als glaubhaft, weil die dem Kläger zu 1) nunmehr zugeschriebene Konversion zum Christentum nahtlos an seine soziale Wahrnehmung als Alkoholhändler anknüpft, wird dieser Beruf im Irak doch vorwiegend von Christen und Angehörigen anderer religiöser Minderheiten ausgeübt.

Soweit dem Kläger zu 1) hiernach religiös motivierte Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG durch Private drohen, sind diese mangels effektiven staatlichen bzw. polizeilichen Rechtsschutzes gemäß § 3c Nr. 3 AsylG beachtlich. Nach den Erkenntnissen des Auswärtigen Amtes und des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl ist die irakische Polizei nämlich nicht in der Lage, landesweit den Schutz der Bürger zu gewährleisten. Personelle Unterbesetzung, mangelnde Ausbildung sowie mangelndes rechtsstaatliches Bewusstsein vor dem Hintergrund einer über Jahrzehnte gewachsenen Tradition von Unrecht und Korruption auf allen Ebenen sind hierfür die Hauptursachen (AA, Bericht über die asyl- und abschiebungsrelevante Lage in der Republik Irak (Stand: Dezember 2018), 12. Januar 2019, S. 8 f.; BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation: Irak, 20. November 2018 (letzte Kurzinformation eingefügt am 9. April 2019), S. 39). Ohnehin existiert kein Polizeigesetz, womit die individuellen Befugnisse einzelner Polizisten zum (Nicht-)Handeln sehr weitgehend sind. In Anbetracht der offenen Ablehnung, welche Konvertiten in weiten Teil der irakischen Gesellschaft erleiden, gilt dieser (negative) Befund erst recht für den Kläger zu 1).

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigen-schaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG bestehen nicht.

2.

Der Kläger zu 2) hat als zum Zeitpunkt der Asylantragstellung (§ 14a Abs. 1, Abs. 2 AsylG) minderjähriges Kind des Klägers zu 1) ebenfalls einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (§ 26 Abs. 2, Abs. 5 S. 1, S. 2 AsylG).

Der unanfechtbaren Anerkennung des Stammberechtigten, die nach § 26 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 5 AsylG für die Gewährung von Familienschutz erforderlich ist, steht dabei die rechtskräftige gerichtliche Verpflichtung des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge zur Anerkennung des Stammberechtigten gleich (vgl. BVerwG, Urteil vom 05.05.2009 – 10 C 21/08, NVwZ 2009, S. 1308). Die in § 26 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 2 AsylG normierte Voraussetzung, dass die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft für den Stammberechtigten, d.h. den Kläger zu 1), unanfechtbar bzw. rechtskräftig geworden sein muss, berücksichtigt das Gericht im vorliegenden Fall dadurch, dass die Beklagte lediglich verpflichtet wird, die positive Entscheidung bezüglich des Klägers zu 2) unter der aufschiebenden Bedingung des Eintritts der Rechtskraft des den Kläger zu 1) betreffenden Teils des vorliegenden Urteils auszusprechen. Auf diese Weise wird der Eintritt der Voraussetzungen des zu erteilenden Verwaltungsakts gewährleistet. Anders als ein auflösend bedingter Urteilstenor steht dies mit dem Prozessrecht im Einklang (VG Freiburg (Breisgau), Urteil vom 12.12.2017 – A 6 K 5424/17, juris Rn. 32 m.w.N.).

3.

Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsan-drohung ist hinsichtlich der Bezeichnung des Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8/07, BVerwGE 129, 251).

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 Auf-enthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

4.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.