Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 03.12.2019, Az.: 6 A 3202/17

Erbil; Gericht; inländische Fluchtalternative; Irak; Kurdische Autonomieregion; Kurdistan; Polizei; Rechtsschutz; Religiöse Verfolgung

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
03.12.2019
Aktenzeichen
6 A 3202/17
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2019, 69928
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Zur Lage der christlichen Minderheit auf dem Gebiet der Kurdischen Autonomieregion
2. Zur Möglichkeit ethnischer und/oder religiöser Minderheiten, auf dem Gebiet der Kurdischen Autonomieregion polizeilichen und gerichtlichen Rechtsschutz zu erlangen

Tenor:

Die Beklagte wird verpflichtet, den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen. Der Bescheid des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge vom 30. März 2017 wird aufgehoben, soweit er dem vorgenannten Verpflichtungsausspruch entgegensteht.

Die Beklagte trägt die Kosten des gerichtskostenfreien Verfahrens.

Die Entscheidung ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte darf die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht die Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrages leisten.

Tatbestand:

Die Kläger, irakische Staatsangehörige katholischer Religions- und aramäischer Volkszugehörigkeit, begehren die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft.

Sie reisten eigenen Angaben zufolge gemeinsam mit der Mutter des Klägers zu 1), der Klägerin im Verfahren 6 A 855/17, mit dem Flugzeug im September 2015 aus dem Irak aus und am gleichen Tag in die Bundesrepublik Deutschland ein.

Zu ihren persönlichen Verhältnissen erklärten die Kläger zu 1) und 2) im Rahmen ihrer Anhörung beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (im Folgenden: Bundesamt) im November 2016, die Familie stamme aus der Provinz Erbil. Gewohnt hätten sie in der Stadt Ankawa, einer Vorstadt von Erbil, in der sehr viele aramäisch-christliche Familien lebten. Der Kläger zu 1) erklärte, im Irak würden noch weitere Angehörige seiner Großfamilie leben. Zu seinem Werdegang schilderte er, nach dem Abitur erfolgreich Jura und Betriebswirtschaft studiert und im Anschluss in einem Unternehmen gearbeitet zu haben. Seine Ehefrau, die Klägerin zu 2), gab an, sie habe nach dem Abitur einen Universitätsabschluss in Betriebswirtschaft erlangt und im Anschluss in einer Erdölfirma gearbeitet. Ihre Eltern hielten sich gegenwärtig in der Türkei auf.

Zu den Gründen seiner Ausreise erklärte der Kläger zu 1) ausweislich der Feststellungen im nicht rückübersetzten Anhörungsprotokoll des Bundesamtes, im Irak sei sein Leben aufgrund seiner christlichen Religionszugehörigkeit in Gefahr. Mitschüler und Studenten, in Einzelfällen sogar Professoren, hätten ihn im Alltag regelmäßig wegen seines christlichen Glaubens diskriminiert. Als der „Islamische Staat“ (IS) in Richtung Erbil vorgedrungen sei, habe außerdem einer ihrer Arbeitskollegen begonnen, seine Ehefrau zu belästigen. Dieser Mann habe sie ständig verfolgt und davon zu überzeugen versucht, zum Islam zu konvertieren. Im Falle einer Rückkehr sei insbesondere das Leben seiner Frau und seines Sohnes, des Klägers zu 3), in Gefahr.

Nach den Feststellungen im Protokoll ihrer Anhörung, das ebenfalls nicht rückübersetzt wurde, erklärte die Klägerin zu 2) zu ihren Ausreisegründen, als Christin und Frau sei ihr Leben im Irak sehr eingeschränkt gewesen. Die Muslime hätten sie als Ungläubige angesehen und sie daran gehindert, ihren Glauben öffentlich auszuüben, und sei es nur durch das Tragen einer Halskette mit einem Kreuz. Die Christen seien außerdem ins Visier islamistischer Gruppen und Prediger geraten. Als der IS über Mossul in Richtung Erbil vorgerückt sei, hätten sie sich dessen bisher im Verborgenen gebliebene Unterstützer zu erkennen gegeben. Ein Beispiel, so die Klägerin zu 2), sei ihr ehemaliger Arbeitskollege aus der Ölfirma gewesen. Dieser habe sich früher völlig normal verhalten, doch nach den zunehmenden militärischen Erfolgen des IS habe er sie aufgefordert, zum Islam zu konvertieren, ein Kopftuch zu tragen und ihren Mann zu verlassen. Laut dem Anhörungsprotokoll erklärte die Klägerin zu 2) diesbezüglich: „Ich war zu der Zeit schwanger und bin dann nach Hause zu meinem Mann gefahren. Auch zu Hause wurde ich dann von dem Mann beobachtet und auch bedroht.“ Sie habe sich nicht mehr getraut, alleine zum Arzt zu gehen; Familienangehörige hätten sie in den Kreissaal begleiten müssen. Als ihr Kind, der Kläger zu 3), im September 2014 zur Welt gekommen sei, habe sie im Krankenhaus von ihrem Arbeitskollegen geträumt und vor Angst geschrien. Nachdem sie mit ihrem Sohn nach Hause zurückgekehrt sei, habe die Familie ein Visum beantragt und das Land verlassen.

Mit Bescheid vom 30. März 2017 lehnte das Bundesamt den Antrag auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft (Nr. 1) sowie auf Zuerkennung des subsidiären Schutzstatus ab (Nr. 2). Zudem stellte es fest, dass Abschiebungsverbote nicht vorliegen (Nr. 3) und drohte die Abschiebung der Kläger in den Irak an (Nr. 4). Das gesetzliche Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 des Aufenthaltsgesetzes (AufenthG) befristete es auf dreißig Monate ab dem Tag der Abschiebung (Nr. 5). Zur Begründung führte der mit dem Anhörenden nicht personenidentische Entscheider u.a. aus, anders als im Zentralirak komme es auf dem Gebiet der Kurdischen Autonomieregion nicht zu einer Verfolgung von Christen. Soweit die Kläger sich auf eine Bedrohung durch Dritte beriefen, hätten sie jedenfalls die Möglichkeit besessen, sich schutzsuchend an die Polizei zu wenden. Die Behörden der Kurdischen Autonomieregion seien gewillt, private Übergriffe zu unterbinden und zu ahnden. Das Flüchtlingsrecht diene nicht dazu, jemandem einen Aufenthaltsstatus zu gewähren, der bewusst auf die Inanspruchnahme der Rechtsschutzmöglichkeiten seines Herkunftsstaates verzichte.

Gegen diesen Bescheid haben die Kläger am 13. April 2017 Klage erhoben. Zur Begründung führen sie über ihre Prozessbevollmächtigte aus, ihnen, insbesondere der Klägerin zu 2), drohe im Falle einer Rückkehr in den Irak religiöse Verfolgung. Der Mann, von dem die Klägerin zu 2) bedrängt worden sei, heiße {H.}, sei in der Firma für Logistik und Beziehungspflege zuständig gewesen und habe viele Kontakte in Regierungskreise gehabt. Anfang 2014 habe er begonnen, der Klägerin zu 2) nachzustellen und sie aufzufordern, mit ihm nach Mossul zu kommen. Nachdem sie, die Klägerin zu 2), im August 2014 ihre Arbeitstätigkeit beendet habe, habe er ihr gedroht, dass er sie überall finden werde. Die Familie habe sich nicht getraut, zur Polizei zu gehen, weil sie gefürchtet habe, gegenüber einem einflussreichen Muslim als Christen keine Hilfe zu erhalten. Nach der Ausreise der Familie habe ihr Arbeitskollege selbst beim Vater der Klägerin zu 2) nach ihr gesucht. Aus diesem Grund hätten die Eltern der Klägerin zu 2) ebenfalls den Irak in Richtung Türkei verlassen; einen Umstand, den sie in der Anhörung beim Bundesamt vor Aufregung vorzutragen vergessen habe.

Mit Schriftsatz ihrer Prozessbevollmächtigten vom 1. Dezember 2019 legte die Klägerin einen Ausdruck einer Nachricht aus einem sozialen Netzwerk vor. Hierzu gab sie an, die Nachricht im Januar 2018 von {H.} erhalten zu haben, sie jedoch erst jetzt vorlegen zu können, da sie wegen eines defekten Handys den Zugang erst wieder habe aufwändig rekonstruieren müssen. In dieser Nachricht bedrohe sie ihr ehemaliger Arbeitskollege mit dem Tod und rechtfertige dies damit, dass sie die Religion des Islam abgelehnt und damit alle Muslime beleidigt habe.

Die Kammer hat den Rechtsstreit mit Beschluss vom 10. Oktober 2019 auf den Berichterstatter als Einzelrichter übertragen, dieser hat den Klägern mit Beschluss vom 28. November 2019 Prozesskostenhilfe bewilligt.

Die Kläger beantragen,

die Beklagte unter entsprechender Aufhebung des Bescheides vom 30. März 2017 zu verpflichten,

1. den Klägern die Flüchtlingseigenschaft zuzuerkennen,

2. hilfsweise, ihnen den subsidiären Schutzstatus zuzuerkennen,

3. hilfsweise, festzustellen, dass Abschiebungsverbote gemäß § 60 Abs. 5, Abs. 7 S. 1 AufenthG vorliegen,

4. das Einreise- und Aufenthaltsverbot gemäß § 11 Abs. 1 AufenthG auf null zu befristen,

5. hilfsweise, die Beklagte zu verpflichten, über das Einreise- und Aufenthaltsverbot unter Beachtung der Rechtsauffassung des Gerichts neu zu entscheiden.

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über die der Berichterstatter gemäß § 76 Abs. 1 Asylgesetz (AsylG) anstelle der Kammer als Einzelrichter entscheidet, hat Erfolg. Sie ist zulässig und begründet. Der Einzelrichter ist dabei nicht daran gehindert, auf Basis der mündlichen Verhandlung vom 3. Dezember 2019 über die Klage zu entscheiden, obgleich kein Vertreter der Beklagten erschienen ist. Das Gericht hat die Beteiligten nämlich mit der Ladung darauf hingewiesen, dass auch in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt und entschieden werden kann (§ 102 Abs. 2 Verwaltungsgerichtsordnung (VwGO)).

1.

Die Kläger haben gegen die Beklagte einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft. Der Bescheid des Bundesamtes vom 30. März 2017, mit dem dieses Begehren abgelehnt worden ist, verletzt die Kläger in ihren Rechten und ist aufzuheben, soweit er dem vorgenannten Anspruch entgegensteht (§ 113 Abs. 5 S. 1 VwGO).

Nach § 3 Abs. 4 AsylG wird einem Ausländer, der Flüchtling nach § 3 Abs. 1 AsylG ist, grundsätzlich die Flüchtlingseigenschaft zuerkannt. § 3 Abs. 1 AsylG bestimmt dazu, dass ein Ausländer Flüchtling im Sinne des Abkommens vom 28. Juli 1951 über die Rechtsstellung der Flüchtlinge ist (BGBl. 1953 II S. 559, 560), wenn er sich aus begründeter Furcht vor Verfolgung wegen seiner Rasse, Religion, Nationalität, politischen Überzeugung oder Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe außerhalb des Landes (Herkunftsland) befindet, dessen Staatsangehörigkeit er besitzt und dessen Schutz er nicht in Anspruch nehmen kann oder wegen dieser Furcht nicht in Anspruch nehmen will. Diese Voraussetzungen für die Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft sind in der Person der Kläger erfüllt.

Eine begründete Furcht vor Verfolgung liegt vor, wenn dem Ausländer die vorgenannten Gefahren aufgrund der in seinem Herkunftsland gegebenen Umstände in Anbetracht seiner individuellen Lage tatsächlich drohen, d.h. mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit (BVerwG, Urteil vom 20.02.2013 – 10 C 23.12, juris Rn. 19). Der hierin verankerte Maßstab der beachtlichen Wahrscheinlichkeit setzt voraus, dass bei einer zusammenfassenden Würdigung des zur Prüfung gestellten Lebenssachverhalts die für eine Verfolgung sprechenden Umstände die dagegensprechenden Tatsachen überwiegen. Entscheidend ist, ob aus Sicht eines besonnen und vernünftig denkenden Menschen in der Lage des Schutzsuchenden nach Abwägung aller bekannten Umstände eine Rückkehr in das Herkunftsland als unzumutbar erscheint. Zu begutachten ist hierbei die Wahrscheinlichkeit künftiger Geschehensabläufe bei einer hypothetisch zu unterstellenden Rückkehr des Schutzsuchenden in seinen Heimatstaat (BVerwG, Urteil vom 06.03.1990 – 9 C 14.89, juris; Urteil vom 01.06.2011 – 10 C 25.10, juris; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, juris Rn. 32).

Auf Basis dieses rechtlichen Maßstabs sowie der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse ist das Gericht im vorliegenden Fall zu der Überzeugung gelangt, dass den Klägern im Falle ihrer Rückkehr in den Irak aus individuellen, an ihre Person anknüpfenden Gründen Verfolgung im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG droht. Sämtlichen Klägern droht religiöse Verfolgung (§ 3b Abs. 1 Nr. 2 AsylG), den Klägern zu 1) und 3) zudem Verfolgung wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe (§ 3b Abs. 1 Nr. 4 AsylG). Die hierfür sprechenden Umstände haben bei einer zusammenfassenden Bewertung größeres Gewicht als die dagegensprechenden Umstände.

Als Verfolgungen im Sinne des § 3 Abs. 1 AsylG gelten insbesondere Handlungen, die auf Grund ihrer Art oder Wiederholung so gravierend sind, dass sie eine schwerwiegende Verletzung der grundlegenden Menschenrechte darstellen (§ 3a Abs. 1 Nr. 1 AsylG). Gemäß § 3a Abs. 3 AsylG muss des Weiteren zwischen den in § 3 Abs.1 Nr. 1, § 3b AsylG genannten Verfolgungsgründen und den in § 3a Abs. 1, Abs. 2 AsylG als Verfolgung eingestuften Handlungen (oder dem Fehlen von Schutz vor solchen Handlungen) eine kausale Verknüpfung bestehen. Auf eine etwaige subjektive Motivation des Verfolgers kommt es dabei nicht entscheidend an. Maßgebend ist vielmehr die objektive Zielrichtung, die der betreffenden Maßnahme unter den jeweiligen Umständen ihrem Charakter nach zukommt (BVerwG, Urteil vom 19.01.2009 – 10 C 52.07, juris Rn. 22, 24; Nds. OVG, Urteil vom 27.06.2017 – 2 LB 91/17, juris Rn. 31). Für eine erkennbare objektive Zielrichtung der Maßnahme genügt es dabei, wenn ein Verfolgungsgrund nach § 3b AsylG einen wesentlichen Faktor für die Verfolgungshandlung darstellt (Bergmann/Dienelt, Ausländerrecht, 12. Auflage 2018, § 3a AsylG, Rn. 7). Für den Bereich des Asylgrundrechts nach Art. 16a Abs. 1 GG hat das Bundesverfassungsgericht diese Verknüpfung von Verfolgungshandlung und Verfolgungsgrund dahingehend konkretisiert, es sei nicht erforderlich, dass der Verfolgte entweder tatsächlich oder doch zumindest nach der Überzeugung des Verfolgers Träger eines verfolgungsverursachenden Merkmals sei. Eine politische Verfolgung sei bereits dann zu bejahen, wenn Maßnahmen gegen Personen ergriffen würden, die einer nach asylerheblichen Merkmalen bestimmten Gruppierung zugerechnet würden oder wenn dies im Blick auf diese asylrelevanten Merkmale geschehe. Dies sei beispielsweise der Fall, wenn die Täter den Ausländer der Gegenseite oder dem persönlichen Umfeld einer anderen Person zurechnen, die ihrerseits Objekt politischer Verfolgung sei, wobei sie die Verfolgungsmaßnahme gegen den Ausländer als Instrument zur Verfolgung dieser politisch missliebigen Dritten einsetzen, etwa als Druckmittel oder zur Informationserlangung. In diesem Fall könne die Verfolgung zugleich wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe geschehen, etwa der Familie des Betroffenen (BVerfG, Beschluss vom 22.11.1996 – 2 BvR 1753/96, juris Rn. 5; Beschluss vom 28.01.1993 – 2 BvR 1803/93, juris Rn. 19; ebenso: BVerwG, Beschluss vom 27.04.2017 – 1 B 63.17, 1 PKH 23.17, juris; Nds. OVG, Urteil vom 27.6.2017 – 2 LB 91/17, juris, Rn. 31; VG Hannover, Urteil vom 10. Juli 2019 – 6 A 2610/17, juris LS 2, Rn. 31; Urteil vom 31.05.2019 – 6 A 7641/16, juris LS 1 Rn. 28). Diese Erwägungen gelten für die religiöse Verfolgung entsprechend.

Diesen rechtlichen Maßstab vorangeschickt, liegen im Falle der Kläger die Voraussetzungen einer drohenden Verfolgung wegen ihrer Religion sowie wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe vor. Das Gericht ist aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass ihnen die ernsthafte Gefahr droht, Opfer gewaltsamer Übergriffe durch islamische Extremisten zu werden, zum einen wegen ihres christlichen Glaubens, zum anderen infolge der familiären Verbundenheit mit der Klägerin zu 2).

Ausweislich der dem Gericht vorliegenden Erkenntnismittel leben gegenwärtig noch ca. 250.000 Christen im Irak, von denen ca. 67 Prozent der Chaldäisch-katholischen Kirche angehören, 20 Prozent der Assyrischen Kirche des Ostens sowie die restlichen 13 Prozent diversen Denominationen (z.B. der Syrisch-Orthodoxen Kirche von Antiochien, der Armenisch-katholischen Kirche oder evangelikalen Kirchen). Infolge der landesweiten Gewaltausbrüche nach der US-Invasion waren Christen im Irak in den Jahren seit 2003 erheblicher Verfolgung ausgesetzt, zum einen wegen ihres Glaubens, zum anderen wegen der ihnen zugeschriebenen Verbindungen mit dem Westen. Infolgedessen hatten die meisten irakischen Christen bereits zeitlich vor den im Jahr 2014 eingetretenen Gebietsgewinnen des IS das Land verlassen. Die Mehrheit der dennoch im Irak verbliebenen Christen lebt nunmehr in Bagdad, Mossul, der Ninive-Ebene, Kirkuk, Basra sowie der Kurdischen Autonomieregion. In letzterer gibt es mehrere christliche Städte sowie große christliche Viertel in Großstädten, beispielsweise das christliche Viertel Ankawa in Erbil (European Asylum Support Office (EASO), Country Guidance: Iraq, Juni 2019, S. 70 f.; Iraq. Targeting of Individuals, März 2019, S. 84 f.; Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) der Republik Österreich, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation Irak, Gesamtaktualisierung am 20. November 2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 9. April 2019, S. 70).

Unter der Herrschaft des IS waren bzw. sind Christen massiven Diskriminierungen und Gewalt ausgesetzt, also Opfer von Tötungen, Entführungen, Versklavungen, Vergewaltigungen und Zwangsheiraten. Nach dem Vormarsch des IS auf Mossul und das umliegende christliche Kernland ergriffen deshalb im Sommer 2014 zehntausende Christen die Flucht in die Autonome Region Kurdistan, wo viele von ihnen vor allem in Dohuk unter prekären Verhältnissen als Internally Displaced Persons (IDPs) leben; vereinzelt kam es auch zu Fluchtbewegungen nach Bagdad. Auch aus Bagdad berichten Christen indessen von Übergriffen durch schiitische Milizen der Volksmobilisierungseinheiten (al-Haschd asch-Schaʿbī bzw. Popular Mobilization Forces/PMF-Milizen), d.h. von Entführungen, Schutzgelderpressungen und rechtswidrigen Enteignungen, ferner von gewaltsamen Übergriffen zur Sanktionierung des Abweichens von streng islamischen Verhaltensnormen (Verkauf von Alkohol, Zelebrieren christlicher Feiertage, Verstoß gegen konservative islamische Kleiderordnungen; BFA, a.a.O., S. 70; EASO, Country Guidance: Iraq, Juni 2019, S. 70 f.; Iraq. Targeting of Individuals, März 2019, S. 84 f.).

Die Kurdische Autonomieregion schützt demgegenüber die Rechte religiöser Minderheiten generell besser als die Zentralregierung des Irak; zudem gibt es keine Hinweise auf eine flächendeckende staatliche Diskriminierung von Christen (BFA, Länderinformationsblatt der Staatendokumentation, Irak, Gesamtaktualisierung am 20. November 2018, letzte Kurzinformation eingefügt am 9. April 2019, S. 70; VG Hannover, Urteil vom 11.11.2019 – 6 A 612/17, juris Rn. 41 m.w.N.). Obgleich die Vorfälle nicht dieselbe Häufigkeit wie im Zentralirak aufweisen, kommt es jedoch auch auf dem Gebiet der Kurdischen Autonomieregion in Einzelfällen zu gewaltsamen Übergriffen auf Christen, ferner zu Diskriminierungen und der Verweigerung öffentlicher Dienstleistungen. Zudem erheben assyrische Christen insbesondere in den Gouvernements Dohuk und Erbil langjährig den Vorwurf, Kurden würden sich christliche Ländereien mit dem Segen oder der stillschweigenden Zustimmung kurdischer Offizieller rechtswidrig aneignen. Ein hiergegen im Jahr 2015 vom Kurdischen Regionalparlament erlassenes Gesetz erfährt nach Angaben von Kontaktpersonen bisher keine Umsetzung. Berichten christlicher Regierungsorganisationen zufolge haben Muslime darüber hinaus auf dem Gebiet der Kurdischen Autonomieregion christliche Frauen und Mädchen bedroht, welche sich weigerten, einen Hijab zu tragen oder sich der strikten Interpretation islamischer Normen in Bezug auf das Verhalten in der Öffentlichkeit zu unterwerfen (EASO, Country Guidance: Iraq, Juni 2019, S. 70). Überdies berichten Yeziden sowie christliche Führer in Einzelfällen von Belästigungen und Misshandlungen durch kurdische Sicherheitskräfte; ebenso existieren Berichte über die Diskriminierung von Minderheiten (Turkmenen, Arabern, Yeziden, Shabak und Christen) durch Behörden der Kurdischen Autonomieregierung in den sogenannten umstrittenen Gebieten, also denjenigen Arealen der Provinzen Ninawa, Kirkuk, Salah ad Din und Diyala, die formal außerhalb des kurdischen Hoheitsgebiets liegen, bezüglich derer die Kurdische Autonomieregierung jedoch de facto in Teilen die Verwaltungshoheit beansprucht (VG Hannover, Urteil vom 11.11.2019 – 6 A 612/17, juris Rn. 41 m.w.N.).

Schließlich belegen die dem Einzelrichter vorliegenden Erkenntnismittel, dass Anhänger des IS in den Jahren 2014 und 2015 in der Provinz Erbil militärisch aktiv waren (siehe zum Folgenden: VG Hannover, Urteil vom 09.07.2018 – 6 A 5325/17, juris Rn. 30 m.w.N.). Das Immigration and Refugee Board of Canda (IRB) führt diesbezüglich aus, im Zeitraum von November 2014 bis Februar 2016 sei der IS die einzige militante Gruppierung gewesen, die ein Sicherheitsrisiko für Erbil dargestellt habe. So sei es im Berichtszeitraum immer wieder zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen den kurdischen Streitkräften und IS-Truppen an den Außengrenzen der Kurdischen Autonomieregion gekommen. Wegen der massiven militärischen Befestigung und verschärfter Sicherheitsmaßnahmen habe es in der Stadt Erbil selbst nur wenige gewaltsame Zwischenfälle oder Anschläge gegeben; indessen seien die kurdischen Sicherheitskräfte permanent in erhöhter Alarmbereitschaft gewesen (IRB, Iraq: Security situation in Erbil [Arbil, Irbil], including ISIS […] (November 2014-February 2016), 16. Februar 2016, S. 1 f.). Darüber hinaus hätten IS-Schläferzellen in Erbil Anschläge verübt, beispielsweise Selbstmordattentate, Detonationen von Autobomben oder kommandomäßig verübte Angriffe mit Schusswaffen. Zahlreiche IS-Mitglieder seien in der gesamten Region verhaftet worden (IRB, a.a.O., S. 3 ff. der Druckversion). Auch nach Angaben des Hohen Flüchtlingskommissars der Vereinten Nationen (United Nations High Commissioner for Refugees (UNHCR)) kam es im vorgenannten Zeitraum in Erbil zu Attentaten und Entführungen. Im Oktober 2015 habe der IS beispielsweise mindestens 84 Zivilisten aus der (südwestlich von Erbil gelegenen) Stadt Machmur und damit aus einem von der kurdischen Regionalregierung kontrollierten Gebiet entführt (IRB, a.a.O., S. 4 m.w.N.).

Diese Erkenntnismittellage findet ihre sachliche Entsprechung in den glaubhaften Schilderungen der Klägerin zu 2) in der mündlichen Verhandlung. Der Einzelrichter ist aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung zu der Überzeugung gelangt, dass den Klägern im Falle ihrer Rückkehr wegen ihrer christlichen Religion gewaltsame Übergriffe durch islamische Extremisten drohen, d.h. ihre Entführung, körperliche Misshandlung und/oder Ermordung. Dieses ist dem Umstand geschuldet, dass der Arbeitskollege der Klägerin zu 2), der dem IS angehörte oder zumindest offen mit der Gruppierung sympathisierte, eine Obsession für die Klägerin zu 2) entwickelt hat und sie im Juli 2014, d.h. im achten Monat ihrer Schwangerschaft, mit dem Ziel entführte, sie nach Mossul und damit in das Herrschaftsgebiet des IS zu verbringen.

Die diesbezügliche Aussage der Klägerin zu 2) in der mündlichen Verhandlung enthielt hinreichende Realkennzeichen, welche nach den Grundsätzen der psychologischen Aussageanalyse für die Wiedergabe eines erlebten Geschehens sprechen. Sie schilderte das Verfolgungsgeschehen insbesondere im Kernverlauf logisch konsistent, mit einem außerordentlichen quantitativen Detailreichtum nebst Nennung ungewöhnlicher Details, im Zuge einer unstrukturierten Erzählweise nebst spontaner Ergänzungen bzw. Verbesserungen, unter Angabe von Komplikationen im Handlungsverlauf und nicht verstandenen Handlungselementen sowie räumlich-zeitlichen Verknüpfungen nebst Schilderung der Motivations- und Gefühlslage der Beteiligten. Zudem wies die Schilderung der Klägerin zu 2) im Kern auch die nötige Konsistenz mit ihrer vorherigen Aussage beim Bundesamt auf. Soweit sie hierüber hinausging, konnte sie nachvollziehbare Gründe für die Divergenz angeben. Diesbezüglich wird im Einzelnen auf die ausführliche Sitzungsniederschrift verwiesen.

Es steht hiernach insbesondere zur Überzeugung des Einzelrichters fest, dass die Klägerin zu 2) entgegen der fragmentarischen Übersetzung und Protokollierung ihrer Aussage beim Bundesamt nicht lediglich Opfer einer Nachstellung („Stalking“) durch ihren ehemaligen Arbeitskollegen wurde, sondern darüber hinaus einer Entführung bzw. Freiheitsberaubung unter Androhung von Waffengewalt.

Die Klägerin zu 2) hat diesbezüglich glaubhaft dargelegt, dass ihr Arbeitskollege {H.}, ein Abteilungsleiter im Bereich Ölfelder, sich ihr gegenüber zunächst normal verhalten habe, obgleich ihr von Anfang an seine starke Religiosität aufgefallen sei, da er fünfmal am Tag in der Firma gebetet und zusätzliche Pausen beantragt habe, um in die Moschee zu gehen. Einmal hätten sie und ihr Mann ihn sogar gemeinsam mit anderen Arbeitskollegen an Weihnachten zu sich nach Hause eingeladen. Nachdem sie schwanger geworden sei, habe der vorgenannte Kollege jedoch begonnen, sie massiv zu bedrängen. So habe er ihr gesagt, dass sie ihm sehr gefalle und ihn heiraten müsse. Weil sie Christin sei, würde er dafür ein Geschenk im Paradies bekommen; ihr Kind würde dann ebenfalls Muslim werden. Als sie ihm gedroht habe, ihn bei der Polizei anzuzeigen, habe er ihr lachend entgegnet: „Polizei, das ist doch unsere Familie.“ Hiermit habe er in ihren Augen darauf angespielt, dass er zu dem einflussreichen Stamm {I.} gehöre, der politisch und wirtschaftlich eng mit Masud Barzani verwoben sei, dem damaligen Präsidenten der Kurdischen Autonomieregion. Später habe ihr Arbeitskollege immer wieder versucht, sie einzuschüchtern, indem er ihr beim Betreten der Firma beiläufig signalisiert habe, dass er eine Pistole unter seiner Jacke trage.

Ihren Tiefpunkt, so die Klägerin zu 2) im Rahmen ihrer glaubhaften Ausführungen, habe diese Entwicklung an einem Tag im August 2014 genommen, d.h. im achten Monat ihrer Schwangerschaft. An diesem Tag, den ihr Kollege ihrer Einschätzung zufolge von langer Hand geplant haben müsse, sei entgegen der üblichen Betriebsabläufe die Hälfte der Beschäftigten nicht zur Arbeit gekommen, die andere Hälfte sei im Außendienst gewesen oder habe auffällig früh Feierabend gemacht. Als sie selbst gegen 16:00 Uhr in der verlassenen Fahrdienstabteilung nach dem Fahrer des Firmenbusses gesucht habe, habe {H.} sie dort unvermittelt angesprochen. In dem Moment, als sie versucht habe, per Handy ihren Ehemann anzurufen, habe {H.} ihr die Tasche mitsamt Handy entrissen und ihr eine Pistole in den Rücken gedrückt. Dabei habe er ihr gedroht, erst sie und dann ihren Ehemann zu erschießen, wenn sie um Hilfe schreie. Er habe sie sodann zu seinem Geländewagen gedrängt und sie einsteigen lassen, wobei er ihr mitgeteilt habe, sie brauche keine Angst haben, er werde sie jetzt nach Hause bringen. Im Verlauf der Fahrt habe sie jedoch schnell gemerkt, dass er sie nicht in Richtung Erbil fahre, sondern den Weg Richtung Mossul gewählt habe, welches zur damaligen Zeit unter der Herrschaft des IS stand. Während der Fahrt habe {H.} immer wieder Koransuren zitiert und ihr gesagt: „Ich habe dir doch gesagt, wenn ich Dich heirate, werde ich Dich nach Mossul bringen. Du wirst dortbleiben. Dein Sohn wird auch für den IS kämpfen.“; ferner: „Dir wird nichts passieren. Du bekommst eine Belohnung, wenn Du Dich zum Islam bekennst.“

Im Auto, so die Klägerin zu 2), habe sie dann augenscheinlich wegen des massiven Stresses plötzliche Blutungen erlitten, die so stark gewesen seien, dass ihre Hände von ihren Oberschenkeln gerutscht seien. Ihre Beine und Füße sowie die Sitzkissen seien voller Blut gewesen. Als ihr Kollege nach einiger Zeit den Blutgeruch wegen der im Auto herrschenden Hitze wahrgenommen habe, habe er eine geradezu abartige Reaktion gezeigt, denn er habe sich ersichtlich gefreut. Sie könne nur vermuten, er habe gedacht, dass sie jetzt ihren Sohn zur Welt bringe, gemeinsam mit ihm zu seiner Familie gehe und dort leben werde. Er sei daraufhin mit ihr zu einem Krankenhaus gefahren, welches in der Nähe der Strecke von Erbil nach Mossul gelegen habe. Dort habe er ihr eingeschärft, dass er sie und ihren Mann töte, wenn sie Alarm gebe. Da Nicht-Familienangehörigen der Zutritt zur Frauenabteilung untersagt sei, hätten die Krankenschwestern sie jedoch von ihrem Entführer getrennt; auf der Station habe sie dann endgültig das Bewusstsein verloren. Nachdem sie gegen 07:00 Uhr abends wieder zu sich gekommen sei, habe sie durch ein Seitenfenster eines Toilettenraumes sehen können, dass {H.} gemeinsam mit anderen Personen auf dem Parkplatz vor dem Haupteingang des Krankenhauses gewartet habe. Aus Angst, ihre Familie zu gefährden, habe sie sich nicht getraut, eine Krankenschwester um deren Handy zu bitten, um ihre eigenen Angehörigen zu informieren. Entgegen der ärztlichen Vorgaben habe sie sich stattdessen selbst entlassen, d.h. sie sei durch einen (Neben-)Ausgang der Notaufnahme geflohen. Dort habe sie ein Taxi angehalten, den Fahrer um Hilfe gebeten und sich zum Haus ihres Vaters fahren lassen, da ihr Kollege diese Adresse, anders als ihre Heimatanschrift, damals noch nicht gekannt habe.

Am Haus ihres Vaters eingetroffen, habe sie ihren Ehemann angerufen. Nach seinem Eintreffen habe ihr Ehemann vergeblich telefonisch versucht, sie bei seinem Freund {J.} unterzubringen. Dieser habe sich jedoch aus Angst geweigert, sie bei sich aufzunehmen, als er erfahren habe, wer ihr Verfolger sei und zu welchem Stamm er gehöre. Auf ihr Flehen hin habe er sie jedoch bei seinen Eltern in einem kleinen Dorf in der Region {K.} untergebracht. Dort, so die Klägerin zu 2), hätten sie sich bis zur Geburt ihres Sohnes, des Klägers zu 3), im September 2014 versteckt gehalten. Aus Angst vor ihrer Entdeckung habe sie ursprünglich eine Hausgeburt geplant, dann aber wegen des Eintritts von Komplikationen ein Privatkrankenhaus aufsuchen müssen. Direkt am Tag nach der Entbindung habe sie das Krankenhaus wieder verlassen und sich noch bis November 2014 bei den Eltern von {J.} versteckt, bis diese ihnen mitteilten, dass sie selbst Angst hätten und ihnen nicht mehr helfen könnten. Die Eltern hätten ihr gesagt: „Ihr kennt die Situation im Irak mit dem IS. Die Familie Deines Arbeitskollegen würde behaupten, dass Dein Kind deren Kind sei. Geht nach Bagdad oder Kirkuk.“ Sie, die Kläger zu 1) und 2), hätten erst überlegt, in eine andere Provinz der Autonomieregion zu gehen, aber diese Idee verworfen, weil die Familie von {H.} zu viel Einfluss habe und sie bestimmt gefunden hätte. Die Eltern {J.} hätten sie stattdessen bei ihrem Vorhaben unterstützt, über Kirkuk nach Bagdad gefahren. Dort hätten sie sich in einem kleinen Apartment versteckt, bis der Schleuser ihre Visa organisiert habe. In dieser Zeit, so die Klägerin zu 2), habe sie ein Kopftuch sowie einen traditionellen muslimischen Mantel getragen, um gegenüber der übrigen Bevölkerung nicht aufzufallen. Im September 2015 seien sie dann innerhalb eines Tages mit dem Auto von Bagdad zum Flughafen von Erbil zurückgefahren und unmittelbar per Flugzeug ausgereist.

Das unter Zugrundelegung dieses glaubhaften Vortrages begründete Verfolgungsrisiko besteht im Zeitpunkt der gerichtlichen Entscheidung (§ 77 Abs. 1 S. 1 HS 1 AsylG) weiterhin. So hat die Klägerin zu 2) ebenso glaubhaft dargelegt, dass {J.} auf ihre Bitte hin einmal bei ihrem Wohnhaus nach dem Rechten geschaut und im dortigen Briefkasten einen Drohbrief ihres Arbeitskollegen gefunden habe. Außerdem, so die Klägerin zu 2), habe die gesamte Familie weiterhin große Angst, dass Mitglieder des Verfolgerstammes ihre Verwandten oder Bekannten bedrohen oder bestechen würden, um ihren aktuellen Wohnort in Deutschland in Erfahrung zu bringen. Nachdem sie in Deutschland angekommen seien, habe sie, die Klägerin zu 2), nämlich von ihrem Vater erfahren, dass Unbekannte auf sein Haus geschossen hätten, augenscheinlich, um ihm Angst einzujagen. Sie vermute, dass {H.} zwischenzeitlich den Wohnort ihrer Eltern habe in Erfahrung bringen können, weil sonst niemand ein Interesse daran besitzen könnte, ihren Eltern Schaden zuzufügen. Ihre Eltern hätten diese Drohung derart ernst genommen, dass sie zwei Monate nach der Ankunft der Klägerin zu 2) in Deutschland in die Türkei ausgereist seien sowie im Anschluss, über ein Aufnahmeprogramm der Vereinten Organisationen, in die USA. Schließlich hat die Klägerin zu 2) in der mündlichen Verhandlung einen Ausdruck einer Nachricht aus einem sozialen Netzwerk vorgelegt, in dem ihr nach Auskunft des gerichtlich bestellten Dolmetschers eine Person mit dem Namen {H.} im Namen des Islam mit dem Tode droht. Für die Glaubhaftigkeit des Vortrags der Klägerin zu 2) spricht dabei auch, dass sie in diesem Zusammenhang von sich aus angab, selbst in Deutschland derart große Angst gehabt zu haben, von einem Übersetzer muslimischen Glaubens verraten zu werden, dass sie selbst im Vorfeld ihres Termins mit ihrer Prozessbevollmächtigten auf keinen Fall ein Übersetzungsbüro aufsuchen wollte, sondern die schriftsätzlich bei Gericht eingereichte Übersetzung des Schreibens selbst mit Google Translate erstellte.

Der Glaubhaftigkeit des Vortrags der Klägerin zu 2) steht insbesondere nicht entgegen, dass dieser im Detailreichtum sowie in wesentlichen Elementen der Verfolgungsgeschichte deutlich über den Vortrag hinausgeht, der im behördlichen Anhörungsprotokoll dokumentiert ist. Dem Inhalt des Anhörungsprotokolls des Bundesamts misst der Einzelrichter im Rahmen der freien gerichtlichen Beweiswürdigung (§ 108 Abs. 1 S. 1 VwGO) keine gesteigerte Bedeutung zu, weil dieser – so das Ergebnis der mündlichen Verhandlung – unter Verletzung grundlegender rechtsstaatlicher Verfahrensgarantien gewonnen wurde. Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts entfaltet das Asylgrundrecht des Art. 16a GG ebenfalls Rückwirkungen auf die Ausgestaltung des Asylverfahrens (sog. Grundrechtsschutz durch Verfahren). Es gebietet dem Bundesamt zum einen, alles zu vermeiden, was zu Irritationen und in deren Gefolge zu nicht hinreichend zuverlässigem Vorbringen in der Anhörung führen kann. Zum anderen sind durch den Einsatz hinreichend geschulten und sachkundigen Personals sowie zuverlässiger Sprachmittler (vgl. § 17 Abs. 1 AsylG) Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen sich tragfähige Entscheidungsgrundlagen erzielen lassen und die Asylantragsteller vollständige und wahrheitsgetreue Angaben machen können (BVerfG, Urteil vom 14.05.1996 – 2 BvR 1516/93, NVwZ 1996, S. 678 (682)). Das Asylgrundrecht gebietet überdies in verfahrensmäßiger Hinsicht, dass der zuständige Bedienstete des Bundesamts den einzelnen Antragsteller in einer seiner Person gemäßen Art und Weise jedenfalls zu Beginn der Anhörung (§ 25 AsylG) darüber ins Bild setzt, worauf es für ihn und die Entscheidung über sein Schutzersuchen ankommt, ferner, dass die Anhörung in einem fairen und verständnisvollen Rahmen erfolgt (BVerfG, a.a.O., S. 682 f.). Schließlich verlangt das diese Verfahrensgrundsätze flankierende Recht auf ein faires Verfahren (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 20 Abs. 3 GG), dass die Behörde einem Beteiligten die Möglichkeit gibt, zur Wahrung seiner Rechte auf den Gang und das Ergebnis des Verfahrens Einfluss zu nehmen, um zu verhindern, dass er zu einem Objekt des Verfahrens reduziert wird (Schmitz, in: Stelkens/Bonk/Sachs (Hrsg.), Verwaltungsverfahrensgesetz, 9. Auflage 2018, § 9 VwVfG, Rn. 60 m.w.N.). Die im November 2016 durchgeführte Anhörung der Klägerin zu 2) hat diesen verfassungsrechtlichen Maßstab verletzt.

Wie die Klägerin zu 2) in der mündlichen Verhandlung glaubhaft dargelegt hat, sei sie an diesem Tag die 17. Person in Folge gewesen, die angehört worden sei. Der zuständige Entscheider sei ihr gegenüber sehr unwirsch gewesen, d.h. er habe sie „wie eine Kriminelle“ behandelt. Der ursprünglich aus Algerien stammende Dolmetscher habe ihr zudem bereits zu Beginn ihrer Anhörung zu verstehen gegeben, dass sie alle sehr müde seien und sie sich bitte kurz fassen solle. Außerdem habe der Dolmetscher sie kaum verstanden, habe sie doch umfangreich vorgetragen, wohingegen er nur wenige Wörter übersetzt habe. Stattdessen habe er ihr vorgehalten: „Warum bist Du heute ohne Anwalt hier? Dein Verfahren braucht einen Anwalt. Nimm Dir einen Anwalt.“ Sie habe deshalb versucht, dem Entscheider zu signalisieren, dass sie nicht weitermachen könne, d.h. sie habe entsprechende Handgesten gemacht (Überkreuzen der Unterarme zu einem „X“) und auch: „Stopp“ gerufen. Irgendwann habe der Entscheider ärgerlich die Anhörung unterbrochen. Bis zum Eintreffen des nächsten Dolmetschers sei eine halbe Stunde vergangen, in der die wartenden übrigen Antragsteller sehr unruhig geworden seien. Mit dem neuen, aus Syrien stammenden Dolmetscher habe sie besser kommunizieren können. Als sie jedoch versucht habe, ihre Ausreisegründe von Anfang an vorzutragen, habe der Entscheider sie unterbrochen und gesagt: „Wir setzen dort fort, wo wir gestoppt haben.“

Unter Berücksichtigung des in der mündlichen Verhandlung ermittelten Sachverhalts droht der Klägerin zu 2) religiöse Verfolgung durch ihren extremistischen ehemaligen Arbeitskollegen sowie dessen Familienangehörige. Entsprechendes gilt für die Kläger zu 1) und 3). Dies gilt zum einen deshalb, weil sie als Christen von den islamistischen Verfolgern als Menschen zweiter Klasse angesehen werden, zum anderen in Anbetracht des Umstandes, dass die Täter nach dem Ergebnis der mündlichen Verhandlung mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Gewaltmaßnahmen gegen die Kläger zu 1) und 3) einsetzen werden, um die Klägerin zu 2) zum Einlenken zu zwingen. Unter diesem Gesichtspunkt droht den Letztgenannten die Verfolgung zugleich wegen der Zugehörigkeit zu einer bestimmten sozialen Gruppe, d.h. der (Kern-)Familie der Klägerin zu 2).

Die Verfolgungshandlungen im Sinne des § 3a Abs. 2 Nr. 1 AsylG, die den Klägern hiernach durch Anhänger des IS bzw. den ehemaligen Arbeitskollegen und dessen Stamm drohen, sind auch rechtlich beachtlich im Sinne des § 3c Nr. 3 AsylG. Nach Nummer 3 der Norm kann die Verfolgung auch von nichtstaatlichen Akteuren ausgehen, sofern der Staat oder die in Nummer 2 der Norm genannten Akteure einschließlich internationaler Organisationen erwiesenermaßen nicht in der Lage oder nicht willens sind, im Sinne des § 3d AsylG Schutz vor Verfolgung zu bieten, und dies unabhängig davon, ob in dem Land eine staatliche Herrschaftsmacht vorhanden ist oder nicht. Diese Voraussetzungen sind hier in Bezug auf die Kläger erfüllt, wie sich aus den dem Gericht vorliegenden Erkenntnisquellen zum Zugang zu effektiven Rechtsschutz in der kurdischen Autonomieregion ergibt (siehe hierzu: VG Hannover, Urteil vom 30.09.2019 – 6 A 5939/16, juris Rn. 33 f. m.w.N.).

Nach Erkenntnissen des britischen Innenministeriums und des European Asylum Support Office erweist sich die Strafverfolgungspraxis in der kurdischen Autonomieregion grundsätzlich als effektiver im Vergleich zum Süd- bzw. Zentralirak, wobei das Niveau nochmals von Gebiet zu Gebiet variiere. Nach Angaben örtlicher Auskunftspersonen hätten die kurdischen Behörden das Potential, in den von ihnen kontrollierten Territorien sehr effektive Sicherheit zu gewährleisten. Sofern sie allerdings eine bestimmte Person nicht schützen wollten, könnten sie diese Entscheidung ebenfalls sehr effektiv durchsetzen. Hiermit korrespondierend hänge die Möglichkeit, staatlichen Rechtsschutz in Anspruch zu nehmen, davon ab, wer der Verfolger sei. Die Polizei und das Gerichtssystem seien anfällig gegenüber dem Einfluss politischer Akteure sowie bekannter Familien und Stämme; Regierungseliten stünden über dem Gesetz. Dies könne zur Folge haben, dass beispielsweise ein Täter eines Ehrverbrechens trotz einer eindeutigen belastenden Beweislage freigesprochen werde (Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Kurdish ‘honour’ crimes, Version 1.0, August 2017, Rn. 8.5.1; EASO, Irak: Akteure, die Schutz bieten können, November 2018, S. 92 f.; ebenso: Danish Immigration Service, Honour Crimes against Men in Kurdistan Region of Iraq (KRI) and the Availability of Protection, März 2010, S. 9). Nach Aussage des Danish Immigration Service, die sich auf Erkenntnisse des Hohen Menschenrechtskommissars der Vereinten Nationen stützt, bringt die örtliche Bevölkerung den kurdischen Strafverfolgungsbehörden wenig Achtung entgegen. Trotz einiger ausgezeichneter Gesetze, die internationalen Standards entsprächen, reagierten die Gerichte oft nicht auf Rechtschutzgesuche. Der Zugang zu gerichtlichem Rechtsschutz sei abhängig von der ethnischen und religiösen Zugehörigkeit, dem jeweiligen Stamm, Beziehungen, Familie und Verwandten. Für den Einzelnen sei es sehr schwierig, wenn nicht gar unmöglich, selbst für seine Rechte einzutreten (Danish Refugee Council (DRC) and Danish Immigration Service (DIS), ‘The Kurdistan Region of Iraq (KRI) – Access, Possibility of Protection, Security and Humanitarian Situation – Report from fact finding mission to Erbil, the Kurdistan Region of Iraq (KRI) and Beirut, Lebanon, 26 September to 6 October 2015’, April 2016, S. 45; ebenso: EASO, Country Guidance: Iraq, Juni 2019, S. 126). Insbesondere Sprecher religiöser oder ethnischer Minderheiten äußern öffentlich Zweifel daran, ein faires Gerichtsverfahren erhalten zu können, sofern es sich bei der Gegenpartei um einen sunnitischen Kurden handele (EASO, Iraq. Targeting of Individuals, März 2019, S. 137 m.w.N.). Zahlreiche Beispielsfälle, so das britische Innenministerium, würden insbesondere die Unfähigkeit des Gerichtssystems verdeutlichen, einen Abschreckungseffekt gegenüber (sexuell motivierten) Straftaten zum Nachteil von Frauen zu entfalten (Home Office, Country Policy and Information Note Iraq: Kurdish ‘honour’ crimes, Version 1.0, August 2017, Rn. 8.5.1 ff.; weitergehend hierzu: VG Hannover, Urteil vom 07.10.2019 – 6 A 5999/17, juris Rn. 41 ff.; Urteil vom 19.12.2018 – 6 A 4443/18, juris Rn. 65 ff.; jeweils m.w.N.).

Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnismittellage erachtet es der Einzelrichter als ausgeschlossen, dass die Kläger gegenüber der Bedrohung durch den ehemaligen Arbeitskollegen der Klägerin zu 2) und dessen Stamm effektiven polizeilichen und/oder gerichtlichen Rechtsschutz erlangen könnten. Dies gilt zum einen in Anbetracht des Umstandes, dass die Kläger als aramäische Christen auf dem Gebiet der kurdischen Autonomieregion Angehörige einer ethnischen bzw. religiösen Minderheit sind, zum anderen in Ansehung der Tatsache, dass es sich bei dem Verfolger um einen Kurden sunnitischer Religionszugehörigkeit handelt, dessen Stamm wirtschaftlich eng mit der Kurdischen Autonomieregierung verflochten ist und infolgedessen über beträchtlichen politischen Einfluss verfügt. Es entspricht im Übrigen der aus anderen Verfahren gewonnenen Erkenntnis des Einzelrichters, dass Personen mit einflussreichen Stammesverbindungen auf dem Gebiet der Kurdischen Autonomieregion selbst dann keine effektiven Strafverfolgungsmaßnahmen befürchten müssen, wenn sie in unmittelbarer Gegenwart von Polizeibeamten (Gewalt-)Straftaten zum Nachteil Dritter begehen (siehe hierzu: VG Hannover, Urteil vom 30.09.2019 – 6 A 5939/16, juris Rn. 27-30, 33-36).

Den Klägern steht vor der weiterhin drohenden Verfolgungsgefahr überdies kein interner Schutz im Sinne von § 3e Abs. 1 AsylG zur Verfügung. Die Kammer nimmt in ständiger Rechtsprechung an, dass sich Flüchtlinge im Irak aufgrund der vorherrschenden humanitären Verhältnisse in aller Regel nicht dauerhaft in andere Landesteile begeben können. Ein anderer Ort auf dem Gebiet der kurdischen Autonomieregion, die hiernach allein als innerstaatliche Fluchtalternative in Betracht kommt (vgl. VG Hannover, Urteil vom 07.08.2019 – 6 A 1240/17, juris Rn. 33 m.w.N.), scheidet unter Berücksichtigung der aus dem Inbegriff der mündlichen Verhandlung gewonnenen Erkenntnisse aus. Hierbei berücksichtigt das Gericht zum einen die schwierige humanitäre Lage in der kurdischen Autonomieregion generell (ausführlich hierzu: VG Aachen, Urteil vom 03.04.2019 – 4 K 1853/16.A, juris Rn. 34 ff.), zum anderen den Umstand, dass Mitglieder bestimmter ethnischer oder religiöser (Minderheits-)Gruppen – so wie die aramäisch-christlichen Kläger – in Ermangelung familiärer, stammesmäßiger oder politischer Netzwerke beträchtliche Schwierigkeiten haben, in ein Gebiet umzusiedeln, welches von anderen ethnischen oder religiösen (Mehrheits-)Gruppen dominiert wird (EASO, Country Guidance: Iraq, June 2019, S. 137 m.w.N.). Zudem werden nach Erkenntnissen des Europäischen Zentrums für Kurdische Studien Stammesverbindungen dafür eingesetzt, um Personen aufzuspüren, an denen wegen (vermeintlicher) Ehrverletzungen zu Lasten des Stammes Rache geübt werden soll, auch wenn es keinen Erfahrungssatz dahingehend gebe, dass sich sämtliche Stammesangehörige an einer Suche beteiligten (EZKS, Auskunft vom 14. Juli 2006 gegenüber dem VG Regensburg – RO 4K 05.30031, S. 2; VG Hannover, Urteil vom 19.12.2018 – 6 A 4443/18, juris Rn. 55).

Anhaltspunkte für Ausschlussgründe gegenüber der Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft nach § 3 Abs. 2, Abs. 3 AsylG sowie § 60 Abs. 8 S. 1 AufenthG liegen nicht vor.

2.

Die im streitgegenständlichen Bescheid des Bundesamtes enthaltene Abschiebungsandrohung ist hinsichtlich der Bezeichnung des Irak als Zielstaat gemäß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO aufzuheben. Die Kläger haben einen Anspruch auf Zuerkennung der Flüchtlingseigenschaft, was nach § 34 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 AsylG der Bezeichnung des Staates Irak in der Abschiebungsandrohung entgegensteht (vgl. BVerwG, Urteil vom 11.09.2007 – 10 C 8/07, BVerwGE 129, 251).

Die Befristung des gesetzlichen Einreise- und Aufenthaltsverbots nach § 11 Abs. 1 AufenthG ist mit der Aufhebung der Abschiebungsandrohung gegenstandslos geworden.

3.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Gerichtskosten werden gemäß § 83b AsylG nicht erhoben.

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 S. 1, S. 2 ZPO.