Verwaltungsgericht Braunschweig
Beschl. v. 17.03.2004, Az.: 6 B 177/04

Abschiebung; Abschiebungshindernis; Duldung; getrennte Abschiebung; Kind; minderjähriges Kind; UN-Kinderrechtskonvention; volljähriges Kind

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
17.03.2004
Aktenzeichen
6 B 177/04
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2004, 50566
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

1. Zum Anspruch volljähriger und minderjähriger Kinder einer vorübergehend aus gesundheitlichen Gründen nach Abschluss der Asylverfahren im Bundesgebiet geduldeten Ausländerin auf Erteilung von Duldungen.

2. Art. 3 EMRK steht der Abschiebung von Minderjährigen ohne ihre Eltern nicht generell entgegen.

3. Aus der UN-Kinderrechtskonvention lässt sich ein Abschiebungshindernis nicht herleiten.

4. Die Erteilung einer Duldung nach § 43 Abs. 3 AsylVfG steht im Ermessen der Behörde; der Vorschrift lässt sich nicht entnehmen, dass die Duldung dem Ausländer im Regelfall zu erteilen ist. Für volljährige Kinder ist die Regelung auch nicht analog anwendbar.

Gründe

1

Die Anträge, mit denen die Antragsteller begehren, die Antragsgegnerin im Wege der einstweiligen Anordnung zu verpflichten, die für den 18. März 2004 vorgesehene Abschiebung vorläufig auszusetzen, haben keinen Erfolg.

2

Nach § 123 Abs. 1 Satz 2 VwGO kann das Gericht eine einstweilige Anordnung zur Regelung eines vorläufigen Zustandes erlassen, wenn diese Regelung zur Abwendung wesentlicher Nachteile oder aus anderen Gründen notwendig erscheint. Dazu muss der Antragsteller glaubhaft machen, dass die gerichtliche Entscheidung eilbedürftig ist (Anordnungsgrund) und der geltend gemachte Anspruch besteht (Anordnungsanspruch). Diese Anforderungen sind nicht erfüllt. Die Antragsteller haben nicht glaubhaft gemacht, dass die Voraussetzungen für eine zeitweise Aussetzung der Abschiebung – also für eine Duldung gem. § 55 AuslG oder § 43 Abs. 3 AsylVfG – gegeben sind.

3

I. Es gibt gegenwärtig keine hinreichenden Anhaltspunkte für einen Anspruch der Antragsteller auf Erteilung einer Duldung nach § 55 AuslG.

4

Rechtsgrundlage für eine solche Duldung sind nach dem rechtskräftigen Abschluss eines Asylverfahrens die Regelungen in § 55 Abs. 2 und Abs. 3 AuslG. Die den Prüfungsumfang beschränkende Bestimmung in § 55 Abs. 4 AuslG kommt nicht zur Anwendung, weil mit der Entscheidung über die Abschiebungsandrohung im Asylverfahren noch nicht rechtskräftig über die Zulässigkeit der Abschiebung entschieden ist (VG Braunschweig, Beschl. vom 25.09.2002 - 6 B 659/02 -; ebenso Sächsisches OVG, B. v. 09.12.1996, DÖV 1997, 840; VG Aachen, Beschl. vom 26.06.1998 – 8 L 744/98, InfAuslR 1999, 237; Hailbronner, Ausländerrecht, Loseblattausgabe, Stand: Dezember 2003, § 55 AuslG Rn 57; Renner, Ausländerrecht, 7. Aufl., § 55 Rn 11; a. A. im Ergebnis OVG Bremen, B. v. 21.08.1997 - 1 B 68/97 -).

5

1. Einen Duldungsgrund i.S.d. § 55 Abs. 2 AuslG haben die Antragsteller nicht glaubhaft gemacht. Nach dieser Vorschrift wird dem Ausländer eine Duldung erteilt, solange seine Abschiebung aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen unmöglich ist oder nach § 53 Abs. 6 oder § 54 AuslG ausgesetzt werden soll.

6

Rechtlich unmöglich ist die Abschiebung, wenn sie aus rechtlichen Gründen nicht durchgeführt werden darf, weil ein Abschiebungsverbot gemäß § 51 Abs. 1 AuslG oder ein zwingendes Abschiebungshindernis nach § 53 Abs. 1 bis Abs. 4 AuslG oder vorrangigem Recht (namentlich aus den Grundrechten) gegeben ist. Ein zwingendes Abschiebungshindernis kann sich insbesondere auch aus dem Grundrecht nach Art. 6 Abs. 1 GG ergeben, der Ehe und Familie unter den besonderen Schutz der staatlichen Ordnung stellt. Dieses Grundrecht verpflichtet die zuständigen Behörden und Gerichte, bei der Entscheidung über den Aufenthalt eines Ausländers dessen familiäre Bindungen im Bundesgebiet angemessen zu berücksichtigen. Ein zwingendes Abschiebungshindernis liegt danach vor, wenn es dem Ausländer unter Abwägung seiner familiären Bindungen und der für die Durchsetzung der Ausreisepflicht sprechenden öffentlichen Interessen nicht zuzumuten ist, seine im Bundesgebiet bestehenden Beziehungen durch eine Ausreise zu unterbrechen (vgl. BVerwG, Urt. vom 09.12.1997, BVerwGE 106, 13, 17 f. m.w.N.). Dies ist nach gegenwärtigem Sachstand hier jedoch nicht der Fall.

7

Mit der Abschiebung der Antragsteller soll ihre durch die Ablehnung des Asylantrages begründete Pflicht zur Ausreise durchgesetzt werden. Es besteht grundsätzlich ein beachtliches öffentliches Interesse daran, dass Ausländer, deren Aufenthaltsrecht sich allein aus ihrem erfolglos gebliebenen Asylantrag hergeleitet hat, das Bundesgebiet nach Abschluss des Asylverfahrens wieder verlassen, weil die Fähigkeit der Bundesrepublik Deutschland, Ausländer auf Dauer aufzunehmen, zur Vermeidung wirtschaftlicher und sozialer Probleme begrenzt ist (VGH Baden-Württemberg, Urt. vom 15.05.1996, DVBl. 1996, 1267, 1270 m.w.N.).

8

Unter Berücksichtigung dieser öffentlichen Interessen ist den Antragstellern die vorübergehende Trennung von ihren Eltern, die aufgrund einer Erkrankung der Mutter der Antragsteller vorerst nicht abgeschoben werden sollen, zuzumuten. Die Antragsteller zu 1) und zu 2) sind am 18. Juli 1984 bzw. am 16. August 1985 geboren und damit volljährig. Ihre Trennung von den Eltern ist unbedenklich, weil nicht ersichtlich ist, dass besondere Lebensverhältnisse bestehen, die einen über die Aufrechterhaltung einer Begegnungsgemeinschaft hinausgehenden familienrechtlichen Schutz angezeigt erscheinen lassen (vgl. dazu BVerfG, Beschl. vom 18.04.1989, BVerfGE 80, 81, 94 f. [BVerfG 18.04.1989 - 2 BvR 1169/84]; Beschl. vom 25.10.1995, NVwZ 1996, 1099, 1099 f.; VGH Baden-Württemberg, aaO., S. 1269 f.). Solche Lebensverhältnisse sind gegeben, wenn ein Familienmitglied auf die tatsächlich erbrachte Lebenshilfe des anderen Familienmitglieds angewiesen ist und sich diese Hilfe nur in der Bundesrepublik Deutschland erbringen lässt (sog. Beistandsgemeinschaft, vgl. BVerfG und VGH Baden-Württemberg, jeweils aaO.). Den vorliegenden Unterlagen lässt sich nicht entnehmen, dass dies im Verhältnis der volljährigen Antragsteller zu ihrer Mutter der Fall ist. Insbesondere enthalten die dem Gericht zur Verfügung stehenden ärztlichen Atteste dafür keine Anhaltspunkte. In der amtsärztlichen Stellungnahme vom 19. Januar 2004 heißt es zwar, die Mutter der Antragsteller bedürfe „ständig einer vertrauten Person in ihrer Umgebung“. Diesem Erfordernis trägt die Antragsgegnerin jedoch dadurch Rechnung, dass sie vorerst von der Abschiebung des Vaters und des 14-jährigen Bruders der Antragsteller absieht.

9

Gegenwärtig ist auch nicht ersichtlich, dass sich aus dem Grundrecht nach Art. 6 Abs. 1 GG für die Antragstellerin zu 3) weiter gehende Schutzwirkungen ergeben. Die am 19. September 1986 geborene Antragstellerin ist zwar noch minderjährig. Zu berücksichtigen ist aber, dass gegenwärtig nicht von einer dauerhaften Trennung der Antragstellerin von ihren vorerst im Bundesgebiet verbleibenden und ebenfalls ausreisepflichtigen Eltern ausgegangen werden kann. Die amtsärztliche Stellungnahme vom 19. Januar 2004 kommt aufgrund der bislang unter der medikamentösen Behandlung der Mutter festgestellten Fortschritte zu dem Ergebnis, dass der Zustand der Mutter, der gegenwärtig zur Reiseunfähigkeit führe, sich in den nächsten sechs Monaten möglicherweise deutlich stabilisieren lasse. Anders als bei Kleinkindern, für die eine Trennung von den Eltern schon bei verhältnismäßig kurzer Dauer unzumutbar sein kann, kann für die inzwischen fast 17 ½ Jahre alte Antragstellerin nicht davon ausgegangen werden, dass sich eine vorübergehende Trennung in vergleichbarem Umfang negativ auswirken würde (vgl. dazu BVerfG, Beschl. vom 31.08.1999, NVwZ 2000, 59, 60).

10

Zwar hat die Ausländerbehörde – und nicht das Bundesamt – vor der zu einer Trennung von Familienangehörigen führenden Abschiebung grundsätzlich auch zu prüfen, ob trennungsbedingte mittelbare Gefahren im Zielstaat der Abschiebung Vollstreckungshindernisse begründen (BVerwG, Urt. vom 21.09.1999, BVerwGE 109, 305, 311 f.). Es ist jedoch nicht glaubhaft gemacht, dass insbesondere die noch minderjährige Antragsgegnerin zu 3) im Kosovo ohne Beistand wäre und deshalb alsbald in eine existenzielle Notlage geraten könnte. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, dass sie zusammen mit ihren bereits volljährigen Geschwistern in das Kosovo abgeschoben werden soll. Zum anderen ist nach den Angaben der Antragsteller in den Asylverfahren davon auszugehen, dass dort noch einige Verwandte leben. So hat die Antragstellerin zu 2) im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Bundesamt am 15. August 2002 erklärt, ihre Großeltern mütterlicherseits sowie mehrere Tanten und Onkel wohnten im Kosovo. Außerdem hat sie seinerzeit angegeben, ihr Großvater habe der Familie 2000 Euro für die Reise nach Deutschland gegeben. Wenn man darüber hinaus berücksichtigt, dass aus Deutschland abgeschobene Personen nach den Auskünften des Auswärtigen Amtes am Flughafen Pristina von der UNMIK und Nichtregierungsorganisationen betreut werden und bedürftigen Personen im Kosovo grundsätzlich ein Anspruch auf Sozialhilfe zusteht, so gibt es gegenwärtig keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass den Antragstellern alsbald nach ihrer Rückkehr eine trennungsbedingte existenzielle Notlage droht (vgl. auch Auswärtiges Amt, Lagebericht Serbien und Montenegro – Kosovo – vom 10.02.2004).

11

Die vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen enthalten auch keine Anhaltspunkte dafür, dass die Mutter der Antragsteller auf die Unterstützung der minderjährigen Antragstellerin zu 3) angewiesen ist.

12

Das Recht auf Achtung des Familienlebens aus Art. 8 EMRK i.V.m. § 53 Abs. 4 AuslG vermittelt im vorliegenden Fall keinen über die Wirkungen des Art. 6 Abs. 1 GG hinausgehenden Schutz. Insbesondere kommt es auch dafür entscheidend darauf an, ob der Eingriff verhältnismäßig ist; durch die Abschiebung eines Familienmitglieds ist Art. 8 EMRK nicht verletzt, wenn Hindernisse, ein Familienleben im Heimatstaat der Ausländer zu begründen, nicht ersichtlich sind (vgl. EGMR, Urt. vom 20.03.1991, InfAuslR 1991, 217; Nds. OVG, Beschl. vom 26.11.1996, aaO.). So ist es hier.

13

Auch aus § 53 Abs. 4 AuslG i.V.m. Art. 3 EMRK lässt sich ein rechtliches Abschiebungshindernis hier nicht herleiten. Die Regelung steht einer Abschiebung von (unbegleiteten) Minderjährigen nicht generell entgegen. Anhaltspunkte dafür, dass sich um die Antragstellerin zu 3) im Kosovo niemand kümmern würde und ihre Abschiebung zu schweren psychischen Gesundheitsgefahren führen könnte, gibt es nicht (vgl. Hailbronner, aaO., § 53 Rn 44). Aus Art. 1, 20 Abs. 1 und Art. 22 Abs. 1 des Übereinkommens über die Rechte des Kindes vom 20. November 1989 (UN-Kinderrechtskonvention, BGBl. 1992 II S. 122) lässt sich schon nach Wortlaut und Regelungszweck ein Abschiebungshindernis nicht herleiten (im Ergebnis ebenso Hailbronner, aaO., § 53 Rn 44 m.w.N. zur Gegenansicht); im Übrigen lässt das Übereinkommen in Art. 9 Abs. 4 eine Trennung von Eltern und ihren Kindern als Folge einer Abschiebung zu. Die Bundesrepublik Deutschland hat bei Niederlegung der Ratifikationsurkunde darüber hinaus eine Erklärung abgegeben, nach der ein widerrechtlicher Aufenthalt nicht durch Auslegung des Abkommens als erlaubt anzusehen ist (BGBl. 1992 II S. 990).

14

Für eine tatsächliche Unmöglichkeit der Abschiebung ist hier nichts vorgetragen oder sonst ersichtlich. Das Gleiche gilt im Hinblick auf die Regelungen in § 53 Abs. 6 AuslG und § 54 AuslG.

15

2. Dass ein Anspruch auf Erteilung einer Duldung nach § 55 Abs. 3 AuslG besteht, ist gegenwärtig ebenfalls nicht ersichtlich. Danach kann die Ausländerbehörde einem Ausländer insbesondere auch dann eine Duldung erteilen, wenn dringende humanitäre oder persönliche Gründe seine vorübergehende Anwesenheit im Bundesgebiet erfordern. Die Entscheidung steht im Ermessen der Behörde. Ein Anspruch des Ausländers auf die Duldung besteht daher nur dann, wenn jede andere Entscheidung rechtswidrig wäre (sog. Ermessensreduzierung auf Null). Die Antragsteller haben nicht glaubhaft gemacht, dass hier ein solcher Fall gegeben ist. Insbesondere ist rechtlich nicht zu beanstanden, dass die Antragsgegnerin bei ihrer Entscheidung über die getrennte Abschiebung der Antragsteller davon ausgegangen ist, dies könne grundsätzlich dazu beitragen, der Mutter die Rückkehr in das Kosovo zu erleichtern. Dies ist mit dem Zweck der gesetzlichen Regelung vereinbar und steht den vorliegenden ärztlichen Stellungnahmen nicht entgegen. Den ärztlichen Bescheinigungen lässt sich auch nicht entnehmen, dass eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes der Mutter droht, wenn die Antragsteller nicht zusammen mit den Eltern, sondern bereits jetzt in das Kosovo zurückkehren müssen.

16

II. Aus der Regelung in § 43 Abs. 3 AsylVfG, nach der die Ausländerbehörde Duldungen erteilen darf, um die gemeinsame Ausreise von Eltern und ihren minderjährigen Kindern zu ermöglichen, können die Antragsteller keine weiter reichenden Ansprüche herleiten. Auch diese Entscheidung steht nach dem Wortlaut der Regelung im Ermessen der Behörde; Anhaltspunkte für einen im Regelfall bestehenden Duldungsanspruch enthält das Gesetz nicht (ebenso bereits VG Braunschweig, Beschl. vom 08.11.1999 - 6 B 278/99 - und Hailbronner, aaO., § 43 AsylVfG Rn 23 m.w.N. auch zur Gegenansicht). Für volljährige Kinder wie die Antragsteller zu 1) und 2) ist die Regelung auch nicht analog anwendbar (Hailbronner, aaO., § 43 AsylVfG Rn 16). Im Übrigen ist nicht glaubhaft gemacht, dass ein Anspruch auf Duldung besteht. Die Regelung in § 43 Abs. 3 AsylVfG dient ausschließlich dem Interesse des Ausländers auf Wahrung der nach Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Familieneinheit (ebenso Hailbronner, aaO., § 43 AsylVfG Rn 22). Unter diesem Gesichtspunkt ist den Antragstellern und ihren Eltern die (vorübergehende) Trennung aus den dargelegten Gründen zumutbar.

17

III. Die Entscheidung über die Kosten des jeweiligen Verfahrens ergibt sich aus der Anwendung des § 154 Abs. 1 VwGO. Die Streitwertfestsetzung beruht jeweils auf den Regelungen in § 20 Abs. 3 GKG und § 13 Abs. 1 Satz 1 GKG.