Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 25.03.2004, Az.: 3 A 377/03

Asylantrag; Ausreise; humanitärer Grund; Jude; Jüdin; Kontingentflüchtling; Passlosigkeit; rechtlicher Grund; Sorgerecht

Bibliographie

Gericht
VG Braunschweig
Datum
25.03.2004
Aktenzeichen
3 A 377/03
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2004, 50987
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Ein minderjähriges Kind und dessen sorgeberechtigte Mutter eines als jüdischer Kontingentflüchtling mit Daueraufenthaltsrecht anerkannten ebenfalls sorgeberechtigten und das Sorgerecht ausübenden Vaters haben Anspruch auf Leistungen in entsprechender Anwendung des BSHG.

Tenor:

Die Beklagte wird unter Aufhebung ihres Bescheides vom 17.04.2003 i. d. F. des Widerspruchsbescheides vom 23.06.2003 verpflichtet, der Klägerin ab 01.03.2003 bis zum 23.06.2003 Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG zu gewähren.

Der Bescheid der Beklagten vom 17.04.2003 i. d. F. des Widerspruchsbescheides der Bezirksregierung Braunschweig vom 23.06.2003 werden aufgehoben, soweit sie dem entgegenstehen.

Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens; Gerichtskosten werden nicht erhoben.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar.

Die Beklagte kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung oder Hinterlegung in Höhe des festzusetzenden Kostenerstattungsbetrages abwenden, wenn nicht die Klägerin vor der Vollstreckung Sicherheit in gleicher Höhe leistet.

Tatbestand:

1

Die 1957 in Baku, im jetzigen Aserbaidschan, geborene Klägerin begehrt die Gewährung von Leistungen nach § 2 AsylbLG. Sie reiste nach ihren Angaben am 2. Mai 1999 gemeinsam mit ihrem Sohn in die Bundesrepublik Deutschland ein und stellte einen Asylantrag. Sie gab an, sie entstamme einer gemischt nationalen Ehe zwischen einem Aserbaidschaner und einer Jüdin. Ihr in Braunschweig lebender Lebensgefährte sei Jude und Adoptivvater ihres Sohnes, der damit auch als Jude gelte. Sie selbst sei Jüdin, da ihre Mutter Jüdin gewesen sei. Sie gelte aber in ihrem Heimatland wegen der Volkszugehörigkeit des Vaters als Aserbaidschanerin. Seit rechtskräftiger Ablehnung ihres Asylbegehrens ist die Klägerin ausreisepflichtig. Am 14.12.1999 gebar die Klägerin in Eisenach einen Sohn, dessen Vater B. C. als jüdischer Kontingentflüchtling in der Bundesrepublik Deutschland eine unbefristete Aufenthaltserlaubnis, welche am 21.08.1997 erteilt wurde, besitzt. Die Klägerin, die seit mehr als 36 Monaten Leistungen gemäß § 3 AsylbLG erhält, beantragte mit Schreiben vom 27.03.2003 bei der Beklagten die Gewährung von Leistungen in entsprechender Anwendung des BSHG gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG. Diesen Antrag lehnte die Beklagte mit Bescheid vom 17.04.2003 mit der Begründung ab, dass die Voraussetzungen des § 2 Abs. 1 AsylbLG nicht vorlägen. Die Klägerin sei im Besitz einer Geburtsurkunde, mit welcher sie ohne weiteres einen Pass beantragen könne. Wenn sie die Passpapiere vorlegen bzw. sich glaubhaft um deren Beschaffung bemühen würde, würde sie ausreisen können. Die Passlosigkeit stelle einen tatsächlichen Grund dar, aus dem ihre Abschiebung nicht vollzogen werden könne, der nicht geeignet sei, einen humanitären, rechtlichen oder persönlichen Grund nach sich zu ziehen.

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Hiergegen erhob die Klägerin mit Schreiben vom 05.05.2003 Widerspruch, u. a. mit der Begründung, sie sei Jüdin aus Aserbaidschan und habe bei der Asylantragstellung ihren Inlandspass abgegeben.

3

Mit Widerspruchsbescheid vom 23.06.2003 wies die Bezirksregierung Braunschweig den Widerspruch der Klägerin als unbegründet zurück und wiederholte im Wesentlichen die Begründung des Ausgangsbescheides. Hiergegen hat die Klägerin am 22.07.2003 Klage erhoben, mit der sie die Verpflichtung der Beklagten begehrt, ihr und ihrem Kind Leistungen in entsprechender Anwendung des BSHG zu gewähren.

4

Zur Begründung trägt sie vor, dass sowohl sie selbst als auch der Vater ihres Sohnes Juden seien. Der Vater sei im Besitz einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis und es bestehe ein gemeinsames Sorgerecht für das Kind. Sie sei aufgefordert worden, Kontakt zur jüdischen Gemeinde aufzunehmen, was sie getan habe. Es sei nicht verständlich, dass die Beklagte, die selbst davon ausgehe, dass sie Jüdin sei, ein gemeinsames Kind mit einem als jüdischen Emigranten anerkannten Vater habe und deswegen von einem faktischen Daueraufenthalt auszugehen sei, keine Leistungen in Anwendung des § 2 Abs. 1 AsylbLG gewähre. Sie habe einen Antrag bei der jüdischen Gemeinde in Hannover gestellt, der noch nicht beantwortet sei. Ebenso wenig sei über den Antrag auf Erteilung einer Aufenthaltsgenehmigung für das gemeinsame Kind bisher entschieden worden. Da von einem faktischen Daueraufenthalt ausgegangen werden müsse, bestehe ein Anspruch auf die Gewährung von Leistungen gemäß § 2 AsylbLG.

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Die Klägerin beantragt (sinngemäß),

6

die Beklagte unter Aufhebung ihres Bescheides vom 17.04.2003 i. d. F. des Widerspruchsbescheides vom 23.06.2003 zu verpflichten, ihr und ihrem Kind Leistungen gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG zu gewähren.

7

Die Beklagte beantragt,

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die Klage abzuweisen.

9

Sie bezieht sich auf die Begründung der ablehnenden Bescheide und trägt ergänzend vor, die Klägerin habe nicht nachgewiesen, dass sie in ihrem Heimatland aufgrund ihrer Glaubensrichtung diskriminiert werde. Auch habe die Klägerin bisher nicht den Nachweis erbracht, dass sie jüdische Volkszugehörige sei. Bis zur Klärung der Frage einer Anerkennung als russische Kontingentflüchtlinge würden keine aufenthaltsbeendenden Maßnahmen eingeleitet. Bisher habe die Klägerin einen Nachweis darüber, dass sie einen entsprechenden Antrag gestellt habe, nicht erbracht. Wegen des gemeinsamen Kindes mit dem als jüdischen Emigranten anerkannten Vater könne von einem faktischen Daueraufenthalt ausgegangen werden.

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Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Parteien wird auf die gewechselten Schriftsätze, den Inhalt der Gerichtsakte und die Verwaltungsvorgänge der Beklagten verwiesen, die Gegenstand der Entscheidungsfindung waren.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist zulässig und begründet. Die Klägerin hat einen Anspruch darauf, dass ihr gemäß § 2 Abs. 1 AsylbLG Leistungen in entsprechender Anwendung des BSHG gewährt werden.

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Nach § 2 Abs. 1 AsylbLG erhalten Leistungsberechtigte, die über eine Dauer von insgesamt 36 Monaten, frühestens beginnend am 1. Juni 1997, Leistungen nach § 3 AsylbLG erhalten haben, Leistungen in entsprechender Anwendung des BSHG, wenn die Ausreise nicht erfolgen kann und aufenthaltsbeendende Maßnahmen nicht vollzogen werden können, weil humanitäre, rechtliche oder persönliche Gründe oder das öffentliche Interesse entgegenstehen.

13

Es liegen humanitäre Gründe gegen eine Ausreise aus Deutschland vor, wenn das eigene Kind und dessen Vater sich in Deutschland befinden. Die Ausländerin ist leistungsberechtigt nach dem Asylbewerberleistungsgesetz in entsprechender Anwendung des Bundessozialhilfegesetzes.

14

Dass die Klägerin die zeitlichen Voraussetzungen für die Gewährung von Leistungen in entsprechender Anwendung des BSHG erfüllt, ist zwischen den Beteiligten unstreitig. Auch die weiteren Voraussetzungen von § 2 Abs. 1 AsylbLG liegen vor. Denn die freiwillige Ausreise der Klägerin kann nicht erfolgen und aufenthaltsbeendende Maßnahmen können nicht vollzogen werden, weil humanitäre Gründe und das öffentliche Interesse entgegenstehen. Voraussetzung für die leistungsrechtliche Besserstellung ist damit, dass sowohl der freiwilligen Ausreise als auch dem Vollzug aufenthaltsbeendender Maßnahmen einer der im Gesetz genannten Gründe (humanitäre, rechtliche oder persönliche) oder das öffentliche Interesse entgegenstehen (vgl. Schellhorn, BSHG, 16. Aufl., AsylbLG § 2 Rn. 9; OVG Lüneburg, B. v. 29.03.2001 – 4 LB 443/01 -, in FEVS 52, 523 m. w. N.). Im vorliegenden Fall bestehen humanitäre Gründe, die sowohl einer freiwilligen Ausreise als auch einer Abschiebung der Klägerin entgegenstehen. Die Auffassung der Beklagten, die derzeit offenbar bestehende Passlosigkeit der Klägerin sei der einzige Grund für die Unmöglichkeit der Ausreise und als tatsächlicher Grund nicht beachtlich, berücksichtigt nicht, dass der Ausreise im Falle der Klägerin letztlich nicht ihre offenbar derzeit bestehende Passlosigkeit entgegensteht. Vielmehr sind es humanitäre bzw. rechtliche Gründe, die einer Ausreise entgegenstehen. Ein solcher humanitärer bzw. rechtlicher Grund liegt in der Person der Klägerin aufgrund des Umstandes vor, dass sie personensorgeberechtigte Mutter des Sohnes D. ist, dessen ebenfalls personensorgeberechtigter Vater als jüdischer Kontingentflüchtling in der Bundesrepublik Deutschland ein unbefristetes Aufenthaltsrecht besitzt. Im Hinblick auf den Schutz der Familie – Art. 6 Abs. 1 GG – liegen in der Person der Klägerin damit humanitäre Gründe vor, die sowohl ihrer freiwilligen Ausreise als auch einer Abschiebung entgegenstehen (vgl. OVG Saarlouis in FEVS 53, 320 ff., VG Berlin, B. v. 25.01.2001 – 32 A 726/00 – sowie LPK-BSHG, 6. Aufl., § 2 AsylbLG Rz. 6). Darüber hinaus handelt es sich bei der Klägerin voraussichtlich um eine jüdische Emigrantin aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion, deren Ausreise und Abschiebung sowohl humanitäre Gründe als auch das öffentliche Interesse entgegenstehen (vgl. OVG Lüneburg, B. v. 29.03.2001 in FEVS 52, S. 523 ff.). Dafür, dass die Klägerin als Jüdin anzusehen ist, spricht der Umstand, dass sie nach der von ihr vorgelegten Geburtsurkunde, deren Echtheit bisher nicht bezweifelt worden ist, Tochter einer jüdischen Mutter ist, und dementsprechend auch als Jüdin gilt. Unabhängig davon folgt aber bereits aus dem Umstand, dass ihr Lebensgefährte und Vater ihres Kindes als jüdischer Emigrant ein Aufenthaltsrecht in der Bundesrepublik Deutschland hat und darüber hinaus das gemeinsame Sorgerecht mit der Klägerin zusammen für den gemeinsamen Sohn ausübt, ein humanitärer Grund, welcher ihrer freiwilligen Ausreise und Abschiebung entgegensteht. Denn die Einschränkungen der Leistungen nach dem BSHG durch das AsylbLG sind nur gerechtfertigt, weil die Leistungsberechtigten nicht über ein verfestigtes Aufenthaltsrecht verfügen und ein sozialer Integrationsbedarf bei ihnen fehlt. Bei der Klägerin ist aber – worauf auch die Beklagte hinweist – aufgrund ihrer besonderen Situation von einem dauerhaften Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland auszugehen. Auch aus diesem Grund ist eine weitere Einschränkung der Leistungen durch das AsylbLG nicht gerechtfertigt. Denn eine zeitliche Begrenzung des Aufenthalts der Klägerin ist – wovon offenbar die Beklagte selbst auch ausgeht – nicht zu erwarten.

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Bei gerichtlichen Verfahren im Zusammenhang mit der Gewährung von Sozialhilfe nach dem BSHG oder AsylbLG ist lediglich der Zeitraum bis zum Erlass des Widerspruchsbescheids Gegenstand des Verfahrens.

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Die Klägerin hat darum Anspruch auf die Gewährung von Leistungen entsprechend dem BSHG, wobei sich die Entscheidung des Gerichts auf die Zeit bis zum 23.06.2003, dem Erlass des Widerspruchsbescheides, bezieht. Das Gericht folgt in ständiger Rechtsprechung der Rechtsprechung des OVG Lüneburg, wonach bei Verpflichtungsklagen wegen laufender Leistungen der Sozialhilfe und ebenso bei Klagen auf laufende Leistungen nach § 2 Abs. 1 AsylbLG in entsprechender Anwendung des BSHG Gegenstand der gerichtlichen Nachprüfung regelmäßig nur der Zeitraum bis zum Erlass des Widerspruchsbescheides ist (vgl. OVG Lüneburg, B. v. 29.03.2001, a. a. O.).

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Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 i. V. m. § 188 Satz 2 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 167 VwGO i. V. m. 708, 711 ZPO.