Verwaltungsgericht Lüneburg
Beschl. v. 08.02.2006, Az.: 1 B 65/05
Abschiebung; Abschiebungsschutz; Afghanistan; Asyl; Asylerheblichkeit; Beweisaufnahme; Christ; Christentum; Durchentscheiden; Erheblichkeit; Erstverfahren; Folgeverfahren; Glaube; Glaubenswechsel; Konvertierter; Konvertierung; Moslem; neue Tatsache; Rechtslage; Religion; Religionszugehörigkeit; Sachlage; Schiit; Taufe; Wiederaufgreifen; Wiederaufnahmegrund; Wiederaufnahmeverfahren
Bibliographie
- Gericht
- VG Lüneburg
- Datum
- 08.02.2006
- Aktenzeichen
- 1 B 65/05
- Entscheidungsform
- Beschluss
- Referenz
- WKRS 2006, 53239
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- Art 16a Abs 4 S 1 GG
- § 88 VwGO
- § 123 VwGO
- § 36 Abs 4 S 1 AsylVfG
- § 71 AsylVfG
- § 51 VwVfG
- § 60 Abs 1 AufenthG
- § 60 Abs 7 AufenthG
Gründe
Der Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist begründet.
Vorläufiger Rechtsschutz ist hier nach § 123 Abs. 1 VwGO zu gewähren, da das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (nachfolgend Bundesamt) die Durchführung eines weiteren Asylverfahrens abgelehnt und im Hinblick auf § 71 Abs. 5 AsylVfG keine erneute Abschiebungsandrohung erlassen hat (vgl. Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., § 71 AsylVfG, Rn. 49). Das Rechtsschutzbegehren des Antragstellers ist entsprechend dahingehend auszulegen (§ 88 VwGO).
Ist - wie hier - Gegenstand des Eilverfahrens die Zulässigkeit der Abschiebung, ist die gesetzliche Vorgabe entsprechend Art. 16a Abs. 4 Satz 1 GG, §§ 36 Abs. 4 Satz 1, 71 Abs. 4 AsylVfG zu beachten, wonach die Abschiebung nur ausgesetzt werden darf, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieser Maßnahme bestehen. Da Anknüpfungspunkt für die mögliche Abschiebung die Entscheidung des Bundesamtes ist, ein weiteres Asylverfahren nicht durchzuführen, ist diese Entscheidung mit Gegenstand der gerichtlichen Überprüfung.
Gemäß § 71 Abs. 1 AsylVfG ist ein weiteres Asylverfahren nur durchzuführen, wenn die Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 bis 3 VwVfG vorliegen, Das ist der Fall, wenn sich die dem Verwaltungsakt zugrunde liegende Sach- oder Rechtslage nachträglich zugunsten des Betroffenen geändert hat (§ 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG), wenn neue Beweismittel vorliegen, die eine den Betroffenen günstigere Entscheidung herbeigeführt haben würden (§ 51 Abs. 1 Nr. 2 VwVfG) oder wenn Wiederaufnahmegründe entsprechend § 580 ZPO gegeben sind (§ 51 Abs. 1 Nr. 3 VwVfG). Hiervon ausgehend erweist sich der angefochtene Bescheid des Bundesamtes voraussichtlich als rechtswidrig. Der Antragsteller hat nach der hier allein gebotenen und möglichen summarischen Prüfung voraussichtlich einen Anspruch auf Durchführung eines Asylfolgeverfahrens jedenfalls hinsichtlich der Frage, ob die Voraussetzungen des § 60 Abs. 1 AufenthG vorliegen (dazu unter 1.). Dies führt dazu, dass der Antragsteller vorerst von aufenthaltsbeendenden Maßnahmen zu verschonen ist (dazu unter 2.).
1. Das Wiederaufnahmeverfahren nach § 71 AsylVfG, § 51 VwVfG ist gestuft: Voraussetzung für die Wiederaufnahme ist lediglich ein glaubhafter und substantiierter Vortrag von Tatsachen, aus denen sich das Vorliegen der Voraussetzungen des § 51 Abs. 1 VwVfG ergibt (§ 71 Abs. 3 Satz 1 AsylVfG). Für ein Wiederaufgreifen des Verfahrens bedarf es eines Beweises des neuen Vortrages noch nicht. Für die Frage des Wiederaufgreifens ist es nicht von Bedeutung, ob der neue Vortrag tatsächlich zutrifft, ob die Verfolgungsfurcht begründet und die Annahme einer asylrechtlich relevanten politischen Motivation der Verfolgung gerechtfertigt ist. Diese Fragen sind Gegenstand des eigentlichen Asylbegehrens. In die Prüfung und Beantwortung dieser Fragen kann erst eingetreten werden, wenn das Verfahren wieder aufgenommen worden ist. Allerdings kann ein Folgeantrag dann als unbeachtlich angesehen werden, wenn das Vorbringen zwar glaubhaft und substantiiert, jedoch von vornherein nach jeder vertretbaren Betrachtungsweise ungeeignet ist, zur Asylberechtigung zu verhelfen. Eine solche Ausnahme beschränkt sich allerdings auf Sachverhalte, deren fehlende Asylerheblichkeit ohne Weiteres auf der Hand liegt und für deren Beurteilung eine asylrechtliche Sachkompetenz gerade nicht erforderlich ist (vgl. BVerfG, Beschl. v. 11.5.1993 - 2 BvR 2245/92 -, DVBl. 1994, 38; Beschl. v. 13.3.1993 - 2 BvR 1988/92 -, InfAuslR 1993, 229, 233).
Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze ist für den Antragsteller voraussichtlich ein weiteres Asylverfahren durchzuführen. Der Antragsteller hat neue Tatsachen im Sinne von § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG vorgetragen, die er im Erstverfahren, das mit dem Urteil des Verwaltungsgerichts Lüneburg vom 21. April 2004 (Az. 1 A 256/03), rechtskräftig seit dem 21. Mai 2004, abgeschlossen war, nicht hat geltend machen können. Seine von ihm vorgetragene Konvertierung vom moslemischen Glauben schiitischer Ausrichtung zum Christentum, die sich in seiner Taufe am 28. August 2005 vollzogen hat, entbehrt nicht von vornherein jeder asylrechtlichen Bedeutung für die Gewährung von Abschiebungsschutz nach § 60 Abs. 1 AufenthG. Nach der dem Gericht vorliegenden Auskunftslage kann die christliche Minderheit ihre Religion in Afghanistan nur im Geheimen praktizieren und es nicht ausgeschlossen, dass bei Bekanntwerden der Konvertierung die Betroffenen bedroht werden. Da eine Konvertierung Schande über die gesamte Familie bringt, wird der Konvertierte von der Familie verstoßen. Dieses Verhalten könnte nicht verborgen bleiben. Dies gilt auch unter Berücksichtigung der Rechtslage, dass in Art. 2 Abs. 2 der Verfassung Afghanistans Religionsfreiheit gewährleistet wird. Denn es muss berücksichtigt werden, dass diese Religions(-ausübungs-)freiheit unter Gesetzesvorbehalt steht und der Islam nach Art. 2 Abs. 1 der Verfassung Afghanistans Staatsreligion ist. Hinzu kommt, dass die Konvertierung nach der Scharia unter Strafe steht, was zuletzt auch die offizielle Position des afghanischen Staates darstellt (vgl. SFH, Afghanistan - Update über die Entwicklungen bis Februar 2004, S. 12; Lagebericht des Auswärtigen Amtes vom 29. November 2005, S. 22 f.; Auskunft Dr. Danesch an das VG Braunschweig vom 13. Mai 2004). Die Erheblichkeit dieses Vortrags wird auch nicht von vornherein durch die Vorschrift des § 28 Abs. 2 AsylVfG ausgeschlossen, der nach seinem Sinn und Zweck die Anwendung von § 60 Abs. 1 AufenhtG jedenfalls für die Fälle ausschließt, in denen der Asylsuchende subjektive Nachfluchtgründe geltend macht, die erst nach Rücknahme oder unanfechtbarer Ablehnung seines früheren Antrages entstanden sind, und die er in missbräuchlicher Absicht herbeigeführt hat, um in der Bundesrepublik Deutschland ein Aufenthaltsrecht zu erzwingen (vgl. auch Renner, Ausländerrecht, 8. Aufl., § 28 AsylVfG, Rn. 22). So verhält es sich hier nach Auffassung des Gerichts nicht. Der Antragsteller hat schlüssig, substantiiert und glaubhaft die Angabe seiner Konvertierung vorgetragen. Anhaltspunkte für eine nur vorgeschobene Konvertierung zur Erzwingung des Aufenthaltsrechtes sind nicht ersichtlich. Der Werdegang des Antragstellers vom muslimischen Glauben schiitischer Ausrichtung zum christlichen Glauben ist vom Pastor der Evangelisch-lutherischen Heilig-Geist-Kirchengemeinde B. aufgezeigt worden. Der Pastor hat den Antragsteller während dessen betreut und ihm nach dessen Angaben eine Frist von sieben Monaten vor dem Vollzug der Konvertierung eingeräumt. Anhaltspunkte, die an der Darstellung des Pastors und der Einstellung des Antragstellers zweifeln ließen, sind nicht ersichtlich, zumal der Pastor auch nach der Taufe am 28. August 2005 Kontakt mit Antragsteller pflegte und ihn sogar zur Antragstellung bei Bundesamt begleitet hat (Bl. 31 der Behördenakte des Bundesamtes).
Die Frist des § 51 Abs. 3 VwVfG ist gewahrt.
2. Sind die Voraussetzungen für die Durchführung eines Asylfolgeverfahrens erfüllt, darf das Gericht im Klageverfahren die Sache nicht zur Entscheidung über das Begehrte Asyl an das Bundesamt „zurückverweisen“, sondern muss über den Asylanspruch und die weiteren Fragen zu § 60 AufenthG selbst entscheiden. Denn nach der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Urt. v. 10.2.1998 - BVerwG 9 C 28.97 -, NVwZ 1998, 861) rechtfertigen es auch die Besonderheiten des asylrechtlichen Folgeantragsverfahrens es nicht, das Verfahren an das Bundesamt zur Prüfung und Feststellung des Asylanspruches und der Voraussetzungen des § 60 AufenthG (früher §§ 51 Abs. 1, 53 AuslG) zurückzugeben. Dies führt aber dazu, dass im vorliegenden Eilverfahren, das gemäß §§ 71 Abs. 4, 36 Abs. 3 Satz 4 AsylVfG ohne mündliche Verhandlung und damit ohne mündliche Befragung des Asylbewerbers zu noch verbleibenden Unklarheiten und Einzelheiten und ohne Beweisaufnahme durchzuführen ist, ebenfalls nicht „durchzuentscheiden“ ist. Ein solches „Durchentscheiden“ ist mithin erst im Klageverfahren zulässig und möglich, im Verfahren auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes ist daher die aus dem Tenor ersichtliche Verpflichtung der Antragsgegnerin auszusprechen.
Eine Entscheidung über die Bewilligung von Prozesskostenhilfe ist nicht geboten, da der Antragsteller einen entsprechenden Antrag in diesem Verfahren nicht gestellt hat. Zwar hat er unter dem Az. 1 B 65/05 die Erklärung über die persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnis nebst Anlage übersandt. Hierin ist jedoch keine Antragstellung zu sehen. Die Erklärung ist dem Hauptsachverfahren Az. 1 A 984/05 zugeordnet worden, da der Antragsteller dort einen entsprechenden Antrag gestellt hat.
Die Kostenentscheidung beruht auf §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG.
Dieser Beschluss ist gemäß § 80 AsylVfG unanfechtbar.