Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 15.01.2020, Az.: 3 A 2843/18

Pflichtwidrigkeit

Bibliographie

Gericht
VG Hannover
Datum
15.01.2020
Aktenzeichen
3 A 2843/18
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2020, 71643
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Amtlicher Leitsatz

Leitsatz

Keine Pflichtwidrigkeit im Sinne des § 89c Abs. 2 SGB VIII durch das Führen eines Revisionsverfahrens nach dem Unterliegen in erster Instanz

Tenor:

Die Klage wird abgewiesen.

Der Kläger trägt die Kosten des Verfahrens.

Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar. Der Kläger darf die vorläufige Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 Prozent des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 Prozent des jeweils zu vollstreckenden Betrages leistet.

Tatbestand:

Der Kläger begehrt die Zahlung eines Verwaltungskostenzuschlags gemäß § 89c Abs. 2 SGB VIII für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis 31.07.2017.

Der Kläger leistete der Hilfeempfängerin {A.} {B.} seit dem 23.08.2007 Eingliederungshilfe gemäß § 35a SGB VIII, da bei ihr ein frühkindlicher Autismus diagnostiziert worden war. Da der Kläger gleichzeitig von einer vorrangigen sachlichen Zuständigkeit des Sozialhilfeträgers ausging, betrieb er parallel gegenüber dem LWV {C.} die Fallübernahme, was dieser jedoch ablehnte.

Die Eltern der Hilfeempfängerin wohnten zu dieser Zeit im Zuständigkeitsbereich des Klägers. Zum 16.07.2008 erfolgte der Umzug der Eltern nach {D.} und damit jugendhilferechtlich in den örtlichen Zuständigkeitsbereich des Beklagten. Die Hilfeempfängerin wechselte zum 01.08.2008 in eine Einrichtung nahe des neuen Wohnortes ihrer Eltern.

Der Kläger forderte den Beklagten mit Schreiben vom 29.07.2008 auf, den Fall wegen des Wechsels der örtlichen Zuständigkeit gemäß § 86 Abs. 1 SGB VIII zum nächstmöglichen Termin zu übernehmen. Zudem machte er einen Anspruch auf Kostenerstattung gemäß § 89c SGB VIII geltend.

Der Beklagte teilte mit Schreiben vom 20.12.2010 mit, dass die Anerkennung der Zuständigkeit sowie die Kostenerstattung abgelehnt würden, da aufgrund der Mehrfachbehinderung der Hilfeempfängerin die Eingliederungshilfe nach dem SGB XII vorrangig sei. Der Kläger wies daraufhin in seinem Schreiben vom 05.08.2011 unter Verweis auf Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (Beschluss vom 22.05.2008, Az. 5 B 203/07) sowie des Niedersächsischen OVG (Urteile vom 25.07.2007, Az. 4 LB 90/07 und 4 LB 91/07) darauf hin, dass eine Ablehnung im Hinblick auf eine Erstattungspflicht des Sozialhilfeträgers nicht gerechtfertigt sei. Das Bundesverwaltungsgericht hatte in seinem Beschluss vom 22.05.2008 festgestellt, dass der Erstattungsanspruch aus § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII des gemäß § 86c SGB VIII weiterhin leistungsverpflichteten Jugendhilfeträgers gegenüber dem örtlich zuständig gewordenen Jugendhilfeträger nicht davon abhängt, dass der leistende Jugendhilfeträger etwaige Erstattungsansprüche gegen einen möglicherweise vorrangig zuständigen Sozialhilfeträger geltend macht. Vielmehr komme dem örtlich zuständig gewordenen Jugendhilfeträger die Aufgabe zu, über die Hilfegewährung zu befinden und gegebenenfalls die erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen, um einen aus seiner Sicht bestehenden Vorrang der Sozialhilfe durchzusetzen.

Da der Beklagte die Fallübernahme und Kostenerstattung weiterhin verweigerte, erhob der Kläger vor dem erkennenden Gericht im Dezember 2012 Klage, mit der er zuletzt eine Kostenerstattung für den Zeitraum ab dem 16.07.2008 in Höhe von 464.339,02 Euro sowie einen Verwaltungskostenzuschlag gemäß § 89c Abs. 2 SGB VIII in Höhe von 154.779,67 Euro geltend machte.

Der Beklagte vertrat weiterhin die Rechtsauffassung, der Kläger habe sich an den in diesem Fall vorrangig zuständigen Sozialhilfeträger zu wenden, anstatt den Hilfefall an ihn als sachlich nicht zuständigen Jugendhilfeträger abzugeben. Der Beklagte berief sich hierzu insbesondere auf das Urteil des VG Oldenburg vom 28.02.2014 (Az. 13 A 4895/12 – juris). Das VG Oldenburg war der Auffassung, der vom Bundesverwaltungsgericht in seiner Entscheidung vom 13.06.2013 (Az. 5 C 30/12 – juris) zu § 89a Abs. 3 i.V.m. Abs. 1 Satz 1 SGB VIII entwickelte Grundsatz der kostenrechtlichen Interessenwahrung sei auf den Anspruch nach § 89c Abs. 1 SGB VIII übertragbar, sodass der erstattungsberechtigte Jugendhilfeträger den Sozialhilfeträger vorrangig in Anspruch zu nehmen habe.

Das erkennende Gericht verurteilte den Beklagten mit Urteil vom 01.12.2015 (Az. 3 A 7061/12 – juris) zur Erstattung der Kosten, die der Kläger für den beantragten Zeitraum im Rahmen von Jugendhilfeleistungen aufgewendet hatte. Einen Anspruch aus § 89c Abs. 2 SGB VIII verneinte es hingegen. Der Beklagte habe sich auf eine vertretbare Rechtsposition berufen und somit in Bezug auf die Weigerung zur Fallübernahme nicht pflichtwidrig gehandelt. In dem Urteil ließ das Gericht die Berufung zu. Mit Beschluss vom 20.01.2016 ließ das Gericht zudem auf Antrag des Beklagten und mit Zustimmung des Klägers auch die Sprungrevision zu. Die Zulassung der Rechtsmittel wurde damit begründet, dass der Frage, ob die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Hinblick auf den Interessenwahrungsgrundsatz bei Erstattungsansprüchen nach § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII auch auf Fälle des § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII anwendbar ist, grundsätzliche Bedeutung zukomme. Hierzu gebe es in der Rechtsprechung unterschiedliche Auffassungen und eine höchstrichterliche Klärung sei bisher nicht erfolgt.

Der Beklagte legte gegen seine Verurteilung zur Kostenerstattung Sprungrevision beim Bundesverwaltungsgericht ein. Dieses bestätigte mit seiner Entscheidung vom 22.06.2017 (Az. 5 C 3/16 – juris) im Ergebnis das erstinstanzliche Urteil. Der Kläger ließ die Klageabweisung im Übrigen rechtskräftig werden.

Mit Wirkung zum 01.08.2017 übernahm der LWV {C.} den Hilfefall.

Der Kläger forderte den Beklagten mit Schreiben vom 21.08.2017 zur Erstattung seiner weiteren Aufwendungen für den Zeitraum vom 01.12.2015 bis 31.07.2017 in Höhe von 101.250,54 Euro auf. Zugleich forderte er auch für diesen Zeitraum den Zuschlag nach § 89c Abs. 2 SGB VIII in Höhe von weiteren 33.750,18 Euro. Der Kläger vertrat bereits in diesem Schreiben die Auffassung, es sei vor dem hier relevanten Zuständigkeitswechsel am 16.07.2008 aufgrund des Beschlusses des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.05.2008 höchstrichterlich geklärt gewesen, dass der Beklagte als zuständig gewordener örtlicher Träger der Jugendhilfe selbst die mögliche Inanspruchnahme des überörtlichen Sozialhilfeträgers zu betreiben hatte. Der Beklagte hätte bei der gebotenen Prüfung der Rechtslage den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts finden müssen. Mit diesem Beschluss war die Nichtzulassungsbeschwerde gegen das Urteil des Niedersächsischen OVG vom 25.07.2007 gescheitert, welches wiederum das Urteil des VG Stade vom 26.05.2004 bestätigt hatte. Angesichts dieser Rechtsprechung über drei Instanzen hinweg habe die in dem Urteil vertretene Rechtsauffassung des VG Oldenburg vom 28.02.2014, auf das der Beklagte sich berufen hatte, keine vertretbare Rechtsposition darstellen können. Das Urteil habe zudem ausweislich seiner Entscheidungsgründe den bereits damals über fünf Jahre alten Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts nicht zur Kenntnis genommen. Die gegen das Urteil eingelegte Berufung sei nur wegen Versäumung der Berufungsbegründungsfrist zurückgewiesen worden. Da der für das Berufungsverfahren zuständige Senat des Oberverwaltungsgerichts Lüneburg bereits am 25.07.2007 zwei der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts entsprechende Urteile erlassen hatte und durch das Bundesverwaltungsgericht bestätigt worden war, habe nichts nähergelegen, als dass die Berufung in der Sache Erfolg gehabt hätte und das Urteil des VG Oldenburg aufgehoben worden wäre. Auch der BayVGH habe in seinem Beschluss vom 12.08.2014 (Az. 12 B 14.805 – juris) ausgeführt, dass der aus dem Grundsatz von Treu und Glauben folgende Interessenwahrungsgrundsatz im Hinblick auf Erstattungsansprüche aus § 89a und § 89e SGB VIII anwendbar sei, nicht aber für solche aus § 89c SGB VIII. Die Klageabweisung des erkennenden Gerichts bezüglich des Verwaltungskostenzuschlages hinsichtlich der Aufwendungen für den im vorherigen Prozess geltend gemachten Zeitraum sei deshalb rechtlich nicht überzeugend gewesen. Der Beklagte habe vielmehr bereits von Anfang an pflichtwidrig gehandelt.

Daraufhin leistete der Beklagte zur Erstattung der Aufwendungen eine Zahlung in Höhe von 95.650,54 Euro. Mit Schreiben vom 28.09.2017 vertrat der Beklagte jedoch die Ansicht, der Kläger habe keinen Anspruch auf die Zahlung eines Verwaltungskostenzuschlages gemäß § 89c Abs. 2 SGB VIII. Es gebe keinen Grund, aus welchem sich die rechtliche Bewertung des erkennenden Gerichts für die Dauer des Rechtsmittelverfahrens geändert haben sollte. Das Gericht habe seine Rechtsansicht, dass der Kläger aufgrund des kostenrechtlichen Interessenwahrungsgrundsatzes die sachliche Zuständigkeit mit dem Sozialhilfeträger selbst habe klären müssen, zutreffender Weise als vertretbar anerkannt. Es sei gerade offen gewesen, ob das Bundesverwaltungsgericht durch das Urteil vom 13.06.2013 seine Rechtsprechung im Hinblick auf den Interessenwahrungsgrundsatz bei Erstattungsansprüchen nach § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII auch auf Fälle des § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII übertrage. Es sei daher nicht pflichtwidrig gewesen, das Revisionsverfahren zu führen. Das Urteil des VG Oldenburg sei rechtskräftig geworden und stelle damit selbstverständlich eine vertretbare Rechtsposition dar. Wie das Niedersächsische OVG mutmaßlich in einem Berufungsverfahren entschieden hätte, sei reine Spekulation und für den Anspruch irrelevant.

Aufgrund von Nachberechnungen forderte der Kläger den Beklagten mit Schreiben vom 07.12.2017 zur Kostenerstattung von weiteren 6.640,09 Euro sowie zur Zahlung des Verwaltungskostenzuschlages in Höhe von nunmehr 34.096,88 Euro (nun basierend auf der Gesamtsumme in Höhe von 102.290,63 Euro) auf. Der Beklagte hielt an seiner Weigerung zur Zahlung des Zuschlages fest.

Am 20.04.2018 hat der Kläger Klage erhoben. Er macht geltend, dass ihm für den Zeitraum 01.11.2015 bis 31.07.2017 die Zahlung eines Verwaltungskostenzuschusses gemäß § 89c Abs. 2 SGB VIII zustehe. Nachdem der Beklagte ihn in seinem Schreiben vom 02.03.2018 darauf hingewiesen habe, dass der Monat November 2015 bisher nicht abgerechnet worden sei, ergebe sich ein zusätzlicher Kostenerstattungsanspruch in Höhe von 5.208,10 Euro. Diese Aufwendungen seien bisher versehentlich nicht geltend gemacht worden. Die Höhe des geforderten Verwaltungskostenzuschlages basiere daher inklusive aller nachgeforderten Erstattungsbeträge auf einem Kostenerstattungsanspruch in Höhe von 107.498,73 Euro für den Zeitraum vom 01.11.2015 bis 31.07.2017. Im Übrigen wiederholt der Kläger im Wesentlichen seine vorprozessuale Argumentation. Zusätzlich trägt er vor, der Beklagte sei spätestens im November 2011 durch ihn auf den Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.05.2008 hingewiesen worden. Der Beklagte habe sich nicht auf das Urteil des VG Oldenburg beziehen können, da das Urteil erst Jahre nach dem Zuständigkeitswechsel infolge des Umzugs der Hilfeempfängerin ergangen sei. Das Bundesverwaltungsgericht habe in seinem Revisionsurteil vom 22.06.2017 die streitige Rechtsfrage als „geklärt“ bezeichnet und klargestellt, dass seine Entscheidung vom 13.06.2013 zu § 89a SGB VIII daran nichts geändert habe. Der Beklagte habe daher neun Jahre lang trotz umfangreicher und eindeutiger Rechtsprechung und trotz unstreitiger örtlicher Zuständigkeit an seiner Weigerung einer Fallübernahme festgehalten, wodurch er pflichtwidrig gehandelt habe.

Der Kläger beantragt,

den Beklagten zu verurteilen, an ihn 35.832,91 Euro nebst Zinsen in Höhe von 5 Prozentpunkten über dem Basiszinssatz seit Rechtshängigkeit zu zahlen.

Der Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

Er wiederholt im Wesentlichen ebenfalls sein vorprozessuales Vorbringen. Gegen die Beurteilung, dass die Durchführung des Revisionsverfahrens pflichtwidrig gewesen sei, spreche zudem, dass das erkennende Gericht die Berufung und auf Antrag – mit Zustimmung des Klägers – die Sprungrevision zugelassen habe, da der Frage, ob die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Hinblick auf den Interessenwahrungsgrundsatz bei Erstattungsansprüchen nach § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII auch auf Fälle des § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII anwendbar ist, grundsätzliche Bedeutung zugekommen sei.

Wegen der weiteren Einzelheiten des Sach- und Streitgegenstandes wird auf den Inhalt der Gerichtsakten und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.

Die Beteiligten haben übereinstimmend auf die Durchführung einer mündlichen Verhandlung verzichtet.

Entscheidungsgründe

Die Klage, über welche das Gericht gemäß § 101 Abs. 2 VwGO ohne mündliche Verhandlung entscheiden konnte, hat keinen Erfolg.

I.

Der Kläger hat gegen den Beklagten keinen Anspruch auf Zahlung aus § 89c Abs. 2 SGB VIII.

1. Ein nach einem Zuständigkeitswechsel zuständig gewordener Jugendhilfeträger hat gemäß § 89c Abs. 1 SGB VIII dem nach § 86c SGB VIII weiterhin zur Leistung verpflichteten Jugendhilfeträger die aufgewandten Kosten für den Jugendhilfefall zu erstatten. Hat der gemäß § 86c SGB VIII verpflichtete Träger die Kosten deshalb aufgewendet, weil der zuständige örtliche Träger pflichtwidrig gehandelt hat, so hat dieser zusätzlich einen Betrag in Höhe eines Drittels der Kosten zu erstatten (§ 89c Abs. 2 SGB VIII).

Bei dem Anspruch nach Absatz 2 handelt es sich um einen pauschalen Verwaltungskostenzuschlag, der die infolge der Pflichtwidrigkeit beim leistenden Träger entstandenen Verwaltungskosten abdecken soll. Er dient damit der Entlastung des leistenden Trägers und soll präventiv bewirken, dass sich der zuständige Träger pflichtgemäß verhält (Niedersächsisches OVG, Urteil vom 13. Februar 2006 – 12 LC 12/05 – juris Rn. 44). Bei dem Anspruch aus § 89c Abs. 2 SGB VIII handelt es sich um einen sogenannten „Anpruchsannex“. Der Kostenerstattungsanspruch aus Absatz 1 muss bestehen, um den Anspruch aus Absatz 2 geltend machen zu können (Kunkel/Pattar in LPK-SGB VIII, 7. Auflage, § 89c Rn. 15). Ausweislich des Urteils des erkennenden Gerichts vom 01.12.2015, bestätigt durch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.06.2017, war der Beklagte zur Kostenerstattung nach Absatz 1 verpflichtet, weil er für die Hilfegewährung ab dem 16.07.2008 sachlich und örtlich zuständig war, was zwischen den Parteien nunmehr unstreitig ist.

2. Der Beklagte hat jedoch mit seiner Weigerung im streitbefangenen Zeitraum, den Hilfefall zu übernehmen, nicht pflichtwidrig im Sinne des § 89c Abs. 2 SGB VIII gehandelt.

a) Pflichtwidrigkeit liegt vor, wenn der erstattungspflichtige Träger seine Zuständigkeit erkannt hat oder bei Anwendung der ihm obliegenden Sorgfalt hätte erkennen müssen und dennoch die Hilfeleistung ablehnt, verzögert oder unzureichend gewährt (Kunkel/Pattar in LPK-SGB VIII, 7. Auflage, § 89c Rn. 12). Ein pflichtwidriges Verhalten liegt dabei nicht bereits dann vor, wenn in einem schwierig zu beurteilenden Kompetenzkonflikt ein Jugendhilfeträger seine Zuständigkeit aus rechtlichen Erwägungen heraus verneint, die sich bei genauerer Prüfung als fehlerhaft darstellen. So wird ein pflichtwidriges Verhalten dann verneint, wenn die Bestimmung der sachlichen und örtlichen Zuständigkeit rechtlich nicht einfach gelagert war oder diese aufgrund einer unübersichtlichen tatsächlichen Situation (letztlich unzutreffend) verneint wurde. Dagegen kann die Pflichtwidrigkeit bejaht werden, wenn sich die Rechtsauffassung, die zur Verneinung der Zuständigkeit des Trägers führt, als eindeutig unzutreffend oder unvertretbar erweist oder wenn andere Umstände hinzutreten, die das Handeln oder Unterlassen des erstattungspflichtigen Jugendhilfeträgers als rechtlich nicht vertretbar oder willkürlich und dadurch als pflichtwidrig erscheinen lassen (vgl. Streichsbier in: Schlegel/Voelzke, jurisPK-SGB VIII, 2. Aufl. 2018, § 89c SGB VIII Rn. 8).

b) Das Vorbringen des Klägers, der Beklagte habe sich bereits durch seine Weigerung, unmittelbar ab Juli 2008 den Hilfefall zu übernehmen, pflichtwidrig verhalten, kann vorliegend dahinstehen. Entscheidungserheblich ist allein die Frage, ob sich das Verhalten des Beklagten im streitgegenständlichen Zeitraum als pflichtwidrig darstellt.

Aufgrund des Urteils des erkennenden Gerichts vom 01.12.2015 ergab sich im Hinblick auf das Verhalten des Beklagten eine grundlegend neue Situation. Das erkennende Gericht hat hierin über die Frage der Pflichtwidrigkeit für den Zeitraum bis zum Erlass des Urteils rechtskräftig entschieden. Gleichzeitig urteilte das erkennende Gericht, dass der Beklagte tatsächlich zuständig war. Diese Entscheidung stellt damit nicht nur in zeitlicher, sondern auch in sachlicher Hinsicht eine Zäsur dar. Es kommt daher allein darauf an, ob sich das Verhalten des Beklagten nach dem Urteil des erkennenden Gerichts nunmehr als pflichtwidrig erweist.

c) Der Beklagte handelte weiterhin nicht pflichtwidrig, als er an seiner ursprünglichen Weigerung, den Hilfefall zu übernehmen, festhielt und stattdessen das Revisionsverfahren durchführte.

aa) Dem Beklagten ist nicht als pflichtwidrig vorzuwerfen, dass er nach dem Urteil des erkennenden Gerichts das Revisionsverfahren durchführte. Das Urteil des erkennenden Gerichts erlangte aufgrund der Einlegung des Rechtsmittels der Sprungrevision und dessen Suspensiveffekts zunächst keine Rechtskraft. Der Beklagte war grundsätzlich berechtigt, den Rechtsweg weiter zu beschreiten und in der Konsequenz auch an seiner Rechtsansicht im Hinblick auf die sachliche Zuständigkeit für den Hilfefall festzuhalten. Hierzu hätte eine Fallübernahme im Widerspruch gestanden. Es ist dem Beklagten daher nicht vorwerfbar, zunächst den Rechtsweg auszuschöpfen und trotz des erstinstanzlichen Urteils die Fallübernahme zu verweigern.

bb) Die Rechtsauffassung des Beklagten war auch nach dem Urteil des erkennenden Gerichts nicht unvertretbar. Dies folgt schon aus der Zulassung der Sprungrevision in der Sache. Die Zulassung der Sprungrevision setzt gemäß § 134 VwGO die Zustimmung von Kläger und Beklagtem sowie das Vorliegen eines der in § 132 Abs. 2 VwGO genannten Revisionsgründe voraus. Danach ist die Revision nur zuzulassen, wenn die Rechtssache grundsätzliche Bedeutung hat, das Urteil von einer Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts, des Gemeinsamen Senats der obersten Gerichtshöfe des Bundes oder des Bundesverfassungsgerichts abweicht und auf dieser Abweichung beruht oder ein Verfahrensmangel vorliegt, auf dem die Entscheidung beruht. Das erkennende Gericht ist von einer grundsätzlichen Bedeutung der Frage, ob die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Hinblick auf den Interessenwahrungsgrundsatz bei Erstattungsansprüchen nach § 89a Abs. 1 Satz 1SGB VIII auch auf Fälle nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII anwendbar ist, ausgegangen. Diesbezüglich gab es im Vorhinein unterschiedliche Rechtsauffassungen. Einerseits lag die Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts vom 22.05.2008 vor, auf die sich der Kläger berief und die beinhaltet, dass der gemäß § 86c SGB VIII zur Weiterleistung verpflichtete Jugendhilfeträger nicht interessenwahrend gegenüber dem möglichen Sozialhilfeträger tätig werden müsse. Andererseits war (auch) aus Sicht des erkennenden Gerichts seinerzeit nicht abschließend geklärt, ob die Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts im Hinblick auf den Interessenwahrungsgrundsatz bei Erstattungsansprüchen nach § 89a Abs. 1 Satz 1 SGB VIII, wie insbesondere vom VG Oldenburg in seinem Urteil vom 28.04.2014 vertreten, auch auf Fälle nach § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII anwendbar ist. Das erkennende Gericht hielt daher für klärungsbedürftig, ob das Bundesverwaltungsgericht trotz der Entwicklung des kostenrechtlichen Interessenwahrungsgrundsatzes an seiner Entscheidung vom 22.05.2008 festhielt.

Vor diesem Hintergrund kann weder die sinngemäße Argumentation des Klägers, der Beklagte hätte zweifelsfrei erkennen müssen, dass das Urteil des erkennenden Gerichts in Bezug auf die teilweise Klageabweisung und damit den Verwaltungskostenzuschlag völlig unvertretbar war, noch, dass das Revisionsverfahren aufgrund der eindeutigen Rechtslage niemals Erfolg haben würde, überzeugen. Demnach hätte der Beklagte nach dem Urteil des erkennenden Gerichts seinerseits erkennen müssen, dass dieses fälschlicherweise sein Handeln als nicht pflichtwidrig einstufte und die Rechtslage eben doch insoweit bereits geklärt war. Es ist jedoch vorliegend kein Grund dafür ersichtlich, dass der Beklagte sich nicht auf das Urteil des erkennenden Gerichts verlassen durfte. Das Gericht hielt in seiner Kammerentscheidung die Rechtsfrage für nicht eindeutig oder abschließend geklärt und das Verhalten des Beklagten für nicht pflichtwidrig. Die Durchführung des Revisionsverfahrens war daher auch nicht von vornherein aussichtslos.

Für die Schwierigkeit der Rechtsfrage nach der Zuständigkeit des Beklagten spricht zudem, dass das Bundesverwaltungsgericht diesbezüglich dem erkennenden Gericht in seiner Revisionsentscheidung zwar im Ergebnis, nicht aber in der Begründung gefolgt ist. Das erkennende Gericht ist von einer ursprünglichen Zuständigkeit des Klägers gemäß § 14 Abs. 1 Satz 2, Abs. 2 Satz 3 SGB IX a.F. ausgegangen und hat im Wege einer teleologischen Reduktion der Norm den Zuständigkeitsübergang auf den Beklagten abgeleitet. Das Bundesverwaltungsgericht hat hingegen § 14 SGB IX für nicht einschlägig erachtet, wenn der zweitangegangene Träger die Leistung nach seinem Fachrecht vollständig bedarfsgerecht erbringt und stattdessen die Zuständigkeitsregelungen des SGB VIII und nachfolgend die Kostenerstattungsnorm in § 89c Abs. 1 Satz 1 SGB VIII für direkt anwendbar erklärt.

cc) Schließlich erweist sich die Argumentation des Klägers auch als widersprüchlich zu seinem eigenen prozessualen Verhalten.

Die Zulassung der Sprungrevision erfolgte mit Zustimmung des Klägers. Wenn die Rechtslage bezüglich der Zuständigkeitsfrage, wie vom Kläger geltend gemacht, eindeutig war, ist nicht nachvollziehbar, aus welchem Grund der Kläger der Sprungrevision zugestimmt hat. Insbesondere wurde die Sprungrevision erst in einem gesonderten Beschluss nahezu zwei Monate nach der Urteilsverkündung zugelassen. Der Kläger erteilte seine Zustimmung daher zumindest in Kenntnis des Tenors der Entscheidung und nach einiger Bedenkzeit für sein weiteres Vorgehen.

Weiterhin hat der Kläger trotz des nicht unerheblichen Betrages in Höhe von 154.779,67 Euro die Klageabweisung im Hinblick auf den verlangten Verwaltungskostenzuschlag im vorherigen Verfahren gegen sich rechtskräftig werden lassen. Dem Kläger hätten die Rechtsmittel der Berufung sowie der Anschlussrevision offen gestanden. Die in diesem Verfahren nunmehr vorgebrachte Argumentation des Klägers geht davon aus, das erkennende Gericht habe die Frage, ob der Beklagte pflichtwidrig gehandelt habe, im Vorprozess offenkundig fehlbewertet. Angesichts dieser Argumentation ist nicht verständlich, dass der Kläger auf die Einlegung eines Rechtsmittels verzichtete. Wenn das Urteil des erkennenden Gerichts in Bezug auf die Einschätzung der Pflichtwidrigkeit offensichtlich fehlerhaft war, dann hätte der Kläger in einem Rechtsmittelverfahren dagegen vorgehen können und vielleicht sogar müssen, nicht zuletzt zur (haushalts-)rechtlich gebotenen Wahrung der eigenen Vermögensinteressen.

In der Konsequenz konnte von dem Beklagten nicht verlangt werden, angesichts dieses Verhaltens des Klägers zu einer anderen Bewertung seiner eigenen Rechtsansichten und Handlungspflichten zu kommen. Tatsächlich spricht das Verhalten des Klägers eher dafür, dass auch er Zweifel an der Klärung der streitgegenständlichen Rechtsfrage hatte. Dies durfte den Beklagten daher vielmehr noch in seiner Rechtsansicht und seinem weiteren Vorgehen bestärken.

II.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht auf § 167 VwGO in Verbindung mit §§ 704, 708 Nr. 11, 711 Satz 1 und 2 ZPO.