Verwaltungsgericht Hannover
Urt. v. 15.01.2020, Az.: 15 A 819/18
Backware; baked products; CAFAB; Chiasamen; Dauerverwaltungsakt; Feine Backwaren; Konsultationsverfahren; neuartige Lebensmittel; Novel Food; Unionsliste
Bibliographie
- Gericht
- VG Hannover
- Datum
- 15.01.2020
- Aktenzeichen
- 15 A 819/18
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2020, 71629
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- EURL 50/2013
- EUV 2017/2470
- EGV 882/2004
- EUV 2015/2283
- Art 138 Abs 1 EUV 2017/625
- Art 138 Abs 2 EUV 2017/625
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Art. 138 Abs. 1, 2 Satz 2 Buchst. d) der Verordnung (EU) 2017/625 genießt Anwendungsvorrang vor dem nationalen § 39 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 LFGB.
2. Es dürfen nur zugelassene und in der Unionsliste aufgeführte neuartige Lebensmittel nach Maßgabe der in der Liste festgelegten Bedingungen und Kennzeichnungsvorschriften als solche in den Verkehr gebracht oder in und auf Lebensmitteln verwendet werden.
3. Der in der Unionsliste verwendete Begriff der "Backware" ist weit auszulegen und kann auch frittierte Knabberartikel einschließen, wenn diese überwiegend aus Getreide oder Getreideerzeugnissen bestehen.
Tenor:
Das Verfahren wird eingestellt, soweit die Beteiligten den Rechtsstreit übereinstimmend für erledigt erklärt haben.
Die Nummer 1 des Bescheides vom 21. Dezember 2017 wird aufgehoben.
Die Kosten des Verfahrens tragen die Klägerin zu 1/5 und der Beklagte zu 4/5.
Das Urteil ist wegen der Kosten vorläufig vollstreckbar; für die Klägerin nur gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags. Im Übrigen kann die Klägerin die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des aufgrund des Urteils vollstreckbaren Betrages abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in Höhe von 110 % des zu vollstreckenden Betrags leistet.
Die Berufung wird zugelassen.
Tatbestand:
Die Klägerin wendet sich gegen eine von dem Beklagten erlassene Verbotsverfügung hinsichtlich des Inverkehrbringens des Produktes „C. Snack“.
Die Klägerin ist ein international tätiges Unternehmen, dessen Produkte zu 80% am Standort F. produziert werden. Zu diesen Produkten gehörte der „C. Snack“, den die Klägerin seit Februar 2017 herstellte und in den Verkehr brachte. Hierzu bezog sie vorgefertigte Rohchips von einem polnischen Unternehmen, die sie frittierte und verpackte.
Im November 2017 kam es hinsichtlich des Produkts „C. Snack“ zu einer Verbraucherbeschwerde, in der Zweifel an der Verkehrsfähigkeit des Snacks geäußert wurden.
Daraufhin entnahm ein Lebensmittelkontrolleur des Beklagten am 14. November 2017 eine Probe dieses Produktes und legte sie dem G. mit der Bitte um Überprüfung der Verkehrsfähigkeit – insbesondere im Hinblick auf die deklarierte Zutat „Chiasamen“ – vor. Das H. teilte hierauf mit Gutachten vom 24. November 2017 mit, dass die Probe als nicht verkehrsfähig beurteilt werde, da es sich bei den Klausen der Chiapflanze um eine neuartige pflanzliche Lebensmittelzutat im Sinne der Novel Food Verordnung handele und eine Genehmigung für die Verwendung von Chiasamen in Knabberartikeln bzw. Snacks bislang nicht erteilt worden sei. Ferner weise die Probe Kennzeichnungsmängel auf.
Der Sachbearbeiter des Beklagten ordnete gegenüber der Klägerin am 27. November 2017 mündlich an, dass das Produkt nicht in den Verkehr gebracht werden dürfe und die Bestände bei belieferten Groß- und Einzelhändlern zurückzuholen oder vor Ort zu vernichten seien. Zugleich wurde die sofortige Vollziehung angeordnet.
Mit Schreiben vom 4. Dezember 2017 nahm die Prozessbevollmächtigte der Klägerin zu dem Gutachten des H. Stellung und führte aus, dass es sich bei dem Produkt nach ihrer Auffassung um eine „Backware“ im Sinne des Durchführungsbeschlusses 2013/50/EU der Kommission vom 22. Januar 2013 handele und das Produkt daher als verkehrsfähig anzusehen sei. Die dort genannte Produktkategorie „Backware“ („baked products“) umfasse auch frittiertes Knabbergebäck.
Mit Bescheid vom 21. Dezember 2017 untersagte der Beklagte der Klägerin, das Produkt „C. Snack“ selbst oder durch von ihr belieferte Groß- und Einzelhändler in den Verkehr zu bringen (Nr. 1). Weiterhin ordnete der Beklagte an, die Vernichtung der Warenbestände bis zum 31. Januar 2018 nachzuweisen, sofern kein entsprechendes Genehmigungsverfahren angestrebt werde (Nr. 2). Schließlich ordnete der Beklagte die sofortige Vollziehung dieser Maßnahmen an, drohte für den Fall der Nichtbefolgung ein Zwangsgeld in Höhe von 5.000,00 Euro an (Nr. 3 und 4) und erlegte die Kosten der Maßnahme der Klägerin auf (Nr. 5), ohne diese jedoch festzusetzen. Zur Begründung dieser Maßnahmen führte der Beklagte aus: Bei den Klausen der Chiapflanze handele es sich um eine neuartige pflanzliche Lebensmittelzutat im Sinne des Artikel 1 Absatz 2 Buchstabe e) der Verordnung (EG) 258/97 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 27. Januar 1997. Nach § 3 Absatz 1 der Verordnung zur Durchführung gemeinschaftsrechtlicher Vorschriften über neuartige Lebensmittel und Lebensmittelzutaten in der Fassung vom 27.9.2017, BGBl. I S. 3520 (NLV a.F.) dürften neuartige Lebensmittel nicht ohne eine Genehmigung in Verkehr gebracht werden. Zwar seien in der Vergangenheit für das Inverkehrbringen von Chiasamen in der Europäischen Union bereits nach Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 258/97 für verschiedene Produkte derartige Genehmigungen erteilt worden. Diese Genehmigungen richteten sich jedoch nur an die jeweiligen Unternehmen und seien nicht als grundsätzliche Freigabe von Chiasamen zu verstehen. Das Inverkehrbringen von Chiasamen sei nur erlaubt, wenn diese direkt von Genehmigungsinhabern bezogen würden oder wenn der Lebensmittelunternehmer selbst über eine Genehmigung nach Art. 4 der Verordnung (EG) Nr. 258/97 verfüge. Eine solche Genehmigung habe die Klägerin nicht vorgelegt. Bislang seien Chiasamen in Knabberartikeln bzw. Snacks von der Europäischen Kommission nicht genehmigt worden. Zugelassen seien Chiasamen in Brot, Backwaren, Frühstücks-cerealien, Mischungen aus Nüssen, Früchten und Samen und in Fruchtsäften und Fruchtsaftmischungen. Es sei ausgeschlossen, das Produkt der Klägerin als „Backware“ einzustufen. Von Bedeutung sei diesbezüglich die Abgrenzung von der durch den Durchführungsbeschluss 2013/50/EU erfassten Lebensmittelkategorie „baked products“. Es sei zwischen den Begrifflichkeiten „Backen“ als „Form des Aufbackens in heißem Fett“ und „Backen“ in „Form der Garmethode mit heißer Luft zur Lockerung, Garung und Bräunung des Garguts“ zu unterscheiden. Eine Einstufung als „Backware“ sei zudem auch nach einer Prüfung des Produktes anhand des „Guidance document describing the food categories in Part E of Annex II to Regulation (EC) 1333/2008 on food additives“ nicht möglich. Der „C. Snack“ werde als „Snack“ angeboten und als „krosse Chips“ beschrieben. Dies untermauere die Einstufung in die dort genannte Kategorie „Nr. 15 – ready to eat savouries and snacks“. Der Umstand, dass auch „savoury snacks“ in der Liste „Average potential intake of chia seeds as calculated from UK“ (im Erweiterungsantrag der Chia Company vom 23. März 2011) enthalten waren, gebe keinen Aufschluss darüber, dass auch für diese Lebensmittelkategorie die Verwendung von Chiasamen genehmigt wurde, denn dies treffe auf die dort ebenfalls genannte Kategorie „confectionary“ auch nicht zu. Nach § 39 Abs. 2 des Lebensmittel-, Bedarfsgegenstände- und Futtermittelgesetzbuches (LFGB) treffe die zuständige Behörde Anordnungen, die zur Beseitigung von festgestellten Verstößen notwendig sind. Vorliegend sei es erforderlich, die angegebenen Maßnahmen anzuordnen. Mildere Mittel (wie die Mitteilung der Mängel und die Aufforderung zur Beseitigung) seien ungeeignet. Die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei im öffentlichen Interesse dringend geboten, da der Anspruch des Verbrauchers auf ein rechtlich einwandfreies Produkt nicht erfüllt sei.
Gegen diesen Bescheid hat die Klägerin am 26. Januar 2018 Klage erhoben. Sie hält den angefochtenen Bescheid für rechtswidrig und führt zur Begründung aus: Der Beklagte habe seine ordnungsbehördliche Verfügung auf die Nichteinhaltung der zum damaligen Zeitpunkt kurz vor ihrer „Abschaffung“ stehenden Verordnung (EG) Nr. 258/97 gestützt. Eine Maßnahme, welche wenige Tage nach ihrem Erlass einer Rechtsgrundlage entbehre, sei nicht erforderlich, um die Ziele des Gesetzgebers zu erreichen, da ein entsprechender gesetzgeberischer Wille nicht mehr vorliege. Die Maßnahme verstoße gegen grundlegende Rechtsstaatsprinzipien und sei unverhältnismäßig, da der Beklagte gegen das Übermaßverbot verstoße. Es sei bereits zum damaligen Zeitpunkt streitig gewesen, ob die Lebensmittelkategorie „Backwaren“ auf das betroffene Produkt angewendet werden könne. Bei dem streitgegenständlichen Produkt handele es sich um eine „Backware“ im Sinne des Durchführungsbeschlusses 2013/50/EU und der Durchführungsverordnung (EU) 2017/2470 der Kommission vom 20. Dezember 2017 (ABl. L 351/72). Das Produkt werde zwar frittiert. Nach allgemeinem Sprachverständnis seien unter „Backwaren“ aber nicht nur solche Produkte zu verstehen, die einem Backvorgang im Ofen unterzogen werden, sondern auch solche, die frittiert bzw. ausgebacken werden. Dies werde durch die „Leitsätze für Feine Backwaren der Deutschen Lebensmittelkommission“ bestätigt, da aus Nr. I.1 hervorgehe, dass Backwaren nicht zwingend einem Backvorgang unterzogen werden müssten. Andernfalls könne auch Siedegebäck nicht als „Backware“ gelten. Die Gesetzeshistorie spreche für ein weites Verständnis des Begriffes. Aus dem im Erwägungsgrund 3 des Durchführungsbeschlusses 2013/50/EU genannten Bericht der britischen Lebensmittelprüfstelle vom 16. März 2012 ergebe sich, dass sich die ursprüngliche Antragstellung auf „baked products (muffins, cookies, crackers and biscuits)“ bezogen habe. Im Durchführungsbeschluss selbst sei die Kategorie „baked products“ dann ohne weitere Konkretisierung aufgenommen worden, woraus gefolgert werden könne, dass Chiasamen in sämtlichen „baked products“ und nicht nur in den im Antrag konkret genannten Produkten zulässig seien. Aus dem Bericht gehe auch eine Einschätzung des wahrscheinlichen Verzehrs von Chiasamen aufgrund der vorgeschlagenen Verwendungszwecke hervor („Average potential intake of chia seeds as calculated from UK“). Hieraus lasse sich erkennen, dass die damalige Antragstellerin auch „savoury snacks“ (pikante/herzhafte Snacks) im Fokus gehabt habe. Somit sei auf den Begriff „Backwaren/baked products“ nicht das im deutschen Lebensmittelrecht verwendete Begriffsverständnis anwendbar, vielmehr sei ein weit gefasster Backwarenbegriff beabsichtigt gewesen, der sich auch auf herzhafte Knabberartikel beziehe. Auch die Gesamtschau der Unionsliste im Hinblick auf „Backwaren“ und die darin enthaltenen Unterkategorien verdeutliche, dass die Kategorie weit zu verstehen sei und der Gesetzgeber diese nur – falls erforderlich – durch konkrete Nennung von Unterkategorien einschränke. Des Weiteren spreche die konkrete Zusammensetzung des Produktes dafür, dass es sich um eine „Backware“ handele, da es hauptsächlich aus verschiedenen Getreidearten bestehe. Ferner seien auch andere Lebensmittelunternehmer in der Europäischen Union zu dem Ergebnis gekommen, dass mit dem hier streitgegenständlichen Produkt vergleichbare Produkte „Backwaren“ seien. Die Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. Dezember 2008 könne nicht zur Auslegung der Lebensmittelkategorien herangezogen werden. Die englische Sprachversion zeige, dass mit der Lebensmittelkategorie „Backwaren“ in der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 nicht dasselbe wie mit den Regelungen zum Novel Food Recht gemeint sein könne. So sei der Begriff „Backwaren“ in den Regelungen zu neuartigen Lebensmitteln mit „baked products“ in der englischen Sprachversion zu finden, im europäischen Zusatzstoffrecht werde der Begriff der „Backwaren“ dagegen mit „bakery wares“ übersetzt. Es sei davon auszugehen, dass der europäische Gesetzgeber bei dem Erlass des Durchführungsbeschlusses 2013/50/EU die entsprechenden Begriffsbestimmungen der Lebensmittelkategorien aus der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 übernommen hätte, wenn er sich am europäischen Zusatzstoffrecht orientiert hätte. Dass bei der Durchführungsverordnung ein anderes System von Lebensmittelkategorien gebildet worden sei, zeige sich auch daran, dass dort die Chiasamen für die Lebensmittelkategorie „Frühstückscerealien“ zugelassen worden seien, während in der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 die Lebensmittelkategorie „06.3 Frühstücksgetreidekost“ genannt sei. Das von dem Beklagten zu Rate gezogene Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit sei nicht für die Auslegung Europäischer Rechtsakte zuständig, sondern könne nur eine unverbindliche Rechtsmeinung abgeben. Schließlich dürften Ungenauigkeiten bei der Auslegung der Unionsliste nicht zu Lasten der Anwender gehen. Dies gelte insbesondere vor dem Hintergrund, dass von dem „C. Snack“ keinerlei Gefahren ausgingen. Es seien keine Fälle bekannt, in denen ein Verbraucher bei der Zubereitung von Produkten mit Chiasamen – ob frittiert oder nicht frittiert – einen Schaden erlitten hätten. Soweit der Beklagte angeordnet habe, dass das Produkt auch durch von ihr belieferte Groß- und Einzelhändler nicht in den Verkehr gebracht werden dürfe, fehle es bereits an einer Rechtsgrundlage, da die Voraussetzungen für die Anordnung einer Rücknahme nach § 39 Abs. 2 Nr. 4 LFGB nicht erfüllt seien. Ferner sei die Rücknahmeanordnung rechtswidrig, da es sich um eine Ordnungsverfügung zu Lasten Dritter handele, die zudem unzureichend bestimmt und unverhältnismäßig sei.
In der mündlichen Verhandlung am 15. Januar 2020 haben die Beteiligten den Rechtsstreit hinsichtlich der Nummern 2, 4 und 5 des Bescheides übereinstimmend für erledigt erklärt.
Die Klägerin beantragt nunmehr,
Ziffer 1) der Verfügung des Beklagten vom 21.12.2017 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Er verteidigt den angefochtenen Bescheid und wiederholt und vertieft sein bisheriges Vorbringen. Ergänzend führt er aus: Eine Genehmigung für die Verwendung von Chiasamen in frittierten Knabberartikeln bzw. Snacks sei nach wie vor nicht erteilt worden. Für ein Inverkehrbringen von Chiasamen zu anderen als in den bereits erteilten Genehmigungen genannten Zwecken werde nach der nunmehr gültigen Verordnung (EU) 2015/2283 entweder ein Konsultationsverfahren oder ein Genehmigungsverfahren benötigt. Das Produkt sei nicht als „Backware“ einzustufen, weshalb es weder dem Durchführungsbeschluss 2013/50/EU noch der Durchführungsverordnung (EU) 2017/2470 unterliege. Anträge auf die Genehmigung zur Verwendung von Chiasmen würden in der Arbeitsgruppe neuartiger Lebensmittel der Europäischen Union (CAFAB) diskutiert und bearbeitet. Diese nutze für die jeweilige Einstufung die Produktkategorien des „Guidance document describing the food categories in Part E of Annex II to Regulation (EC) 1333/2008 on food additives“. Darin werde zwischen „Backwaren“ („bakery wares“) und Knabberartikeln („ready-to-eat-savouries and snacks“) differenziert. Im Februar 2018 sei in der CAFAB-Gruppe über die Fragestellung, ob frittierte Produkte mit Chiasamen wie Chips, Tortillachips und Weizen-Quinoa-Snacks von den bereits erteilten Genehmigungen erfasst sind, diskutiert worden. Die Arbeitsgruppe sei zu dem Ergebnis gekommen, dass diese Produkte nicht abgedeckt seien, wie das Bundesamt für Verbraucherschutz und Lebensmittelsicherheit (BVL) in einem Schreiben vom 18. Oktober 2018 mitgeteilt habe. Die im Erweiterungsantrag zur Verwendung von Chia in Backwaren genannten Erzeugnisse (Muffin, Cookie, Cracker, Biskuit) würden üblicherweise durch Backen in einem Ofen hergestellt, eine Übertragung auf einen frittierten Knabberartikel sei nicht ohne weiteres möglich. Der Umstand, dass eine solche Anfrage gestellt worden sei, weise darauf hin, dass diese Fragestellung nicht bereits bei Antragstellung zur Erweiterung der Verwendungszwecke von Chiasamen auf Backwaren und andere Lebensmittel Gegenstand der Prüfung der britischen Behörden im Jahr 2012 gewesen sei. Es werde daher weiterhin davon ausgegangen, dass eine Genehmigung für die Verwendung von Knabberartikeln bzw. Snacks benötigt werde. Die Klägerin habe weder eine solche Genehmigung beantragt noch ein Konsultationsverfahren initiiert. Der Hinweis auf die Vermarktung weiterer Produkte sei nicht geeignet, die Verkehrsfähigkeit des Produktes zu belegen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts wird auf den Inhalt der Gerichtsakte und des beigezogenen Verwaltungsvorgangs Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Soweit die Beteiligten den Rechtsstreit hinsichtlich der Nummern 2, 4 und 5 übereinstimmend für erledigt erklärt haben, ist das Verfahren in entsprechender Anwendung des § 92 Abs. 3 Satz 1 VwGO einzustellen.
Soweit die Klägerin die Aufhebung der Nummer 1 des Bescheides des Beklagten vom 21. Dezember 2017 begehrt, ist die Klage zulässig und begründet. Der angefochtene Bescheid erweist sich in diesem Rahmen als rechtswidrig und verletzt die Klägerin in ihren Rechten (§ 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO).
Da es sich bei dem in Nummer 1 des Bescheides verfügten Verbot des Inverkehrbringens um einen Verwaltungsakt mit Dauerwirkung handelt, ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung abzustellen. Der Zeitpunkt der letzten mündlichen Verhandlung oder Entscheidung ist bei Anfechtungsklagen gegen Verwaltungsakte mit Dauerwirkung nur dann nicht entscheidend, wenn das materielle Recht die Maßgeblichkeit eines anderen Zeitpunkts bestimmt (vgl. VG Berlin, Urteil vom 11.11.2019 – 14 K 101.17 –, juris, unter Verweis auf BVerwG, Urteil vom 19.9.2013 –BVerwG 3 C 15.12 –, juris, Rn. 9 m.w.N.). Dies ist hier nicht ersichtlich.
Dementsprechend kommt als Rechtsgrundlage für die Verbotsverfügung allein Art. 138 Abs. 1, 2 Satz 2 Buchst. d) der Verordnung (EU) 2017/625 des Europäischen Parlament und des Rates vom 15.3.2017 i.V.m. Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EU) 2015/2283 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 in Betracht, nachdem der nach der alten Rechtslage anzuwendende Art. 54 der Verordnung (EG) Nr. 882/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 durch Art. 146 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2017/625 zum 14. Dezember 2019 außer Kraft gesetzt wurde.
Der von dem Beklagten im angefochtenen Bescheid als Rechtsgrundlage herangezogene § 39 Abs. 2 LFGB ist hingegen nicht anwendbar. Als unmittelbar in allen Mitgliedstaaten geltendes EU-Recht hat Art. 138 der Verordnung (EU) 2017/625 in seinem Anwendungsbereich Vorrang vor nationalem Recht. Ein den Anwendungsvorrang auslösender Kollisionsfall liegt für die Alternative 2 des § 39 Absatz 2 Satz 1 LFGB vor. Die nationale Rechtsgrundlage wird insoweit durch Art. 138 der Verordnung (EU) 2017/625 verdrängt. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg hat zu der Vorgängernorm Art. 54 der Verordnung (EG) Nr. 882/2004 in seinem Beschluss vom 12. Dezember 2019 (– 13 ME 320/19 –, beck-online, Rn. 41 f.) ausgeführt:
„Ein Anwendungsvorrang kommt nur in Betracht, falls und soweit zwischen dem unmittelbar anwendbaren Recht der Europäischen Union und dem nationalen deutschen Recht ein Widerspruch auftritt (vgl. BGH, Beschluss vom 24.9.2019 – VI ZB 39/18 -, juris Rn. 32). Das supranational begründete Recht der Europäischen Union entfaltet gegenüber dem mitgliedstaatlichen Recht keine rechtsvernichtende, derogierende Wirkung, sondern drängt nur dessen Anwendung soweit zurück, wie es die Verträge erfordern und es die durch das Zustimmungsgesetz erteilten Rechtsanwendungsbefehle erlauben (vgl. BVerfG, Beschluss vom 19.7.2011 – 1 BvR 1916/09 -, BVerfGE 129, 78, 99 – juris Rn. 81; Beschluss vom 6.7.2010 – 2 BvR 2661/06 -, BVerfGE 126, 286, 301 f. – juris Rn. 53 ff.). Dabei ist es Sache der innerstaatlichen Gerichte, die Vorschriften des nationalen Rechts so weit wie möglich derart auszulegen, dass sie in einer zur Verwirklichung des Unionsrechts beitragenden Art und Weise angewandt werden können (vgl. EuGH, Urt. v. 11.11.2015 – C-505/14 – (K. H. Niedersachsen GmbH), juris Rn. 31 ff. m. w. N.).
Nach diesem Maßstab liegt ein den Anwendungsvorrang auslösender Kollisionsfall nur für die Alternative 2 des § 39 Abs. 2 Satz 1 LFGB vor. Die nationale Rechtsgrundlage wird insoweit durch Art. 54 Abs. 1 und 2 Verordnung (EG) Nr. 882/2004 verdrängt. In den Erwägungsgründen 2 und 3 der Verordnung (EG) Nr. 882/2004 stellt der Verordnungsgeber fest, dass das europäische Futtermittel- und Lebensmittelrecht sowohl in der grundlegenden Verordnung (EG) Nr. 178/2002 als auch in speziellen Vorschriften für Bereiche wie Futtermittel- und Lebensmittelhygiene kodifiziert sei. Die Mitgliedstaaten sollten das Futtermittel- und Lebensmittelrecht durchsetzen sowie überwachen und überprüfen, dass die entsprechenden Anforderungen von den Unternehmern auf allen Produktions-, Verarbeitungs- und Vertriebsstufen eingehalten werden, wofür auf Gemeinschaftsebene ein einheitlicher Rahmen in Form allgemeiner Vorschriften für die Organisation von Kontrollen geschaffen werden sollte (Erwägungsgründe 6 und 7 der Verordnung (EG) Nr. 882/2004). In Umsetzung der vorstehenden Erwägungsgründe bestimmt Art. 1 Verordnung (EG) 882/2004 deren Anwendungsbereich dahingehend, dass in der Verordnung allgemeine Regeln für die Durchführung amtlicher Kontrollen u. a. zur Vermeidung, Beseitigung oder Senkung von unmittelbar oder über die Umwelt auftretenden Risiken für Mensch und Tier festgelegt würden. Aus den Erwägungsgründen 41, 42 und 43 der Verordnung (EG) Nr. 882/2004 ergibt sich, dass Verstöße gegen das Futtermittel- und Lebensmittelrecht „in der gesamten Gemeinschaft Gegenstand wirksamer, abschreckender und angemessener Maßnahmen sein“ sollten. Unter dem Titel VII „Durchsetzungsmaßnahmen“ der Verordnung (EG) Nr. 882/2004 ist das Kapitel I mit „Nationale Durchsetzungsmaßnahmen“ überschrieben. Der hier normierte Art. 54 der Verordnung (EG) Nr. 882/2004 („Maßnahmen im Fall eines Verstoßes“) sieht in seinem zweiten Absatz einen konkreten Maßnahmenkatalog vor. Aus dieser Zielsetzung und Regelungssystematik der Verordnung (EG) Nr. 882/2004 kann darauf geschlossen werden, dass Art. 54 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 882/2004 die Mitgliedstaaten bei festgestellten lebensmittelrechtlichen Verstößen zu Maßnahmen mit dem Ziel der Abhilfe befugt (vgl. BVerwG, Urt. v. 10.12.2015 – BVerwG 3 C 7.14 -, BVerwGE 153, 335, 338 – juris Rn. 12 und 14; Senatsbeschl. v. 11.10.2018 – 13 LA 297/17 -, juris Rn. 6; v. 28.10.2013 – 13 ME 132/13 -, juris Rn. 10; OVG Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 15.5.2018 – 13 B 141/18 -, juris Rn. 9; VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 16.6.2014, a. a. O., Rn. 24; Hamburgisches OVG, Beschluss vom 5.9.2011 – 5 Bs 139/11 -, juris Rn. 10; Rathke, in: Zipfel/Rathke, a. a. O., LFGB, § 39 Rn. 10 f., 21, 63 ff.; Meyer, in: Meyer/Streinz, LFGB – BasisVO – HCVO, 2. Aufl. 2012, LFGB, § 39 Rn. 1, 10, 23).“
Diesen Ausführungen, die auf den nunmehr geltenden Art. 138 der Verordnung (EU) 2017/625 übertragbar sind, schließt sich die Kammer an. Daher ist § 39 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 LFGB als Eingriffsgrundlage des nationalen Rechts im vorliegenden Fall nicht anwendbar (vgl. zum Vorrang von Art. 54 der Verordnung (EG) Nr. 882/2004 auch: OVG NRW, Beschluss vom 26.11.2014 – 13 B 1250/14 –, juris, Rn. 10 ff; VGH BW, Urteil vom 16.6.2014 – 9 S 1273/13 –, juris, Rn. 22 ff; OVG Hamburg, Beschluss vom 5.9.2009 – 5 Bs 139/11 –, juris; VG Berlin, Urteil vom 14.3.2018 – 14 K 328.16 –, juris, Rn. 22; VG Würzburg, Beschluss vom 27.07.2018 – W 8 S 18.904 –, juris, Rn. 30).
Es erweist sich allerdings als unschädlich, dass der Beklagte die Verbotsverfügung fälschlich auf § 39 Abs. 2 LFGB gestützt hat. Eine Auswechslung der Rechtsgrundlagen nach § 47 VwVfG i.V.m. § 1 Nds. VwVfG ist wegen der identischen Zielrichtung, strukturellen Vergleichbarkeit sowie des Gleichlaufs von Befugnisrahmen und Rechtsfolgen zulässig. Der Austausch von § 39 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 LFGB gegen Art. 138 Abs.1 und 2 der Verordnung (EU) 2017/625 lässt den Regelungsgehalt der Grundverfügung unberührt und zur Begründung sind auch keine wesentlich anderen oder zusätzlichen Erwägungen erforderlich (vgl. VG Würzburg, Beschluss vom 27.7.2018 – W 8 S 18.904 – juris, Rn. 30).
Die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 138 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2017/625 sind zum maßgeblichen Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung nicht (mehr) erfüllt. Nach Art. 138 Abs. 1 Buchst. b) der Verordnung (EU) 2017/625 ergreifen die zuständigen Behörden geeignete Maßnahmen, um zu gewährleisten, dass der betreffende Unternehmer einen festgestellten lebensmittelrechtlichen Verstoß beendet und dass er erneute Verstöße dieser Art verhindert. Bei der Entscheidung über die zu ergreifenden Maßnahmen berücksichtigen die zuständigen Behörden die Art des Verstoßes und das bisherige Verhalten des betreffenden Unternehmers. Nach Abs. 2 ergreifen die zuständigen Behörden alle ihnen geeignet erscheinenden Maßnahmen, um die Einhaltung der Vorschriften gemäß Artikel 1 Absatz 2 zu gewährleisten. Nach Art. 138 Abs. 2 Buchst. d) der Verordnung (EU) 2017/625 können sie insbesondere das Inverkehrbringen von Waren beschränken oder verbieten. Vorliegend kann der Beklagte das Verbot des Inverkehrbringens des „C. Snacks“ nicht auf Art. 138 Abs. 1, 2 der Verordnung 2017/625 stützen, da es zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung an einem lebensmittelrechtlichen Verstoß fehlt.
Ein Verstoß gegen die Vorschriften der Verordnung (EU) 2015/2283 liegt nicht vor. Nach Art. 6 Abs. 2 der Verordnung (EU) 2015/2283 – die Verordnung (EG) Nr. 258/97 ist ab dem 1. Januar 2018 aufgehoben – dürfen „neuartige Lebensmittel“ nur in Verkehr gebracht oder in und auf Lebensmitteln verwendet werden, wenn sie zugelassen und in der von der Kommission nach Artikel 6 Absatz 1 Verordnung (EU) 2015/2283 erstellten Liste (sog. „Unionsliste“) aufgeführt sind. Der Begriff des neuartigen Lebensmittels wird in Art. 3 Abs. 2 Buchst. a) der Verordnung (EU) 2015/2283 definiert. Danach bezeichnet der Ausdruck „neuartige Lebensmittel“ alle Lebensmittel, die vor dem 15. Mai 1997 unabhängig von den Zeitpunkten der Beitritte von Mitgliedstaaten zur Union nicht in nennenswertem Umfang in der Union für den menschlichen Verzehr verwendet wurden und in mindestens eine von zehn der im Anschluss aufgelisteten Gruppen fallen. Bei den im streitgegenständlichen Produkt der Klägerin enthaltenen Chiasamen handelt es sich unstreitig ein neuartiges Lebensmittel im Sinne von Art. 3 Abs. 2 Buchst. a) Nr. iv) der Verordnung (EU) 2015/2283. Allerdings ist die Verwendung von Chiasamen als Lebensmittelzutat in der Art und Weise, wie die Klägerin sie beabsichtigt, entgegen der Auffassung des Beklagten bereits zugelassen.
Nach Art. 1 des Durchführungsbeschlusses 2013/50/EU dürfen Chiasamen gemäß der Spezifikation in Anhang I in der Union als neuartige Lebensmittelzutat für die in Anhang II aufgeführten Verwendungszwecke (nicht mehr als 10% in Backwaren, Frühstückscerealien oder Mischungen aus Früchten, Nüssen und Samen) in Verkehr gebracht werden. In derselben Weise ist die Zulassung von Chiasamen in der sog. Unionsliste auf der Grundlage der Durchführungsverordnung (EU) 2017/2470 der Kommission vom 20. Dezember 2017 (ABl. L 351/72) festgehalten.
Das Produkt der Kläger erfüllt die in der Unionsliste festgelegten Bedingungen. Es enthält 0,7 % Chiasamen, sodass es insoweit den Spezifikationen entspricht. Nach Auffassung der Kammer ist der „C. Snack“ zudem als „Backware“ im Sinne der Unionsliste anzusehen. Da eine Legaldefinition des Begriffes „Backware“ in der Unionsliste nicht enthalten ist, hat insoweit eine Auslegung zu erfolgen. Dabei stellt der Wortlaut den Ausgangspunkt und die Grenze der Auslegung dar. Auf die Frage, ob von dem Produkt gesundheitliche Gefahren ausgehen können, kommt es hierbei nicht an. Dies ergibt sich aus der eindeutigen Formulierung in Art. 6 Abs. 2 Verordnung (EU) Nr. 2015/2283, wonach nur zugelassene und in der Unionsliste aufgeführte neuartige Lebensmittel nach Maßgabe der in der Liste festgelegten Bedingungen in Lebensmitteln verwendet werden dürfen (vgl. VG Münster, Urteil vom 18.2.2019 – 5 K 773/18 –, juris).
Nach allgemeinem Sprachgebrauch handelt es sich bei „Backwaren“ um Lebensmittel mit Getreide oder Getreideerzeugnissen als Hauptbestandteil, die gebacken werden (Quelle: Wikipedia zu „Backware“, https://de.wikipedia.org/wiki/Backware; Wortbedeutung.info zu „Backware“, https://www.wortbedeutung.info/Backware/, jeweils zuletzt am 27.1.2020 abgerufen). Das allgemeine Sprachverständnis wird u. a. belegt durch die Leitsätze des Deutschen Lebensmittelbuchs. Diese beschreiben die allgemeine Verkehrsauffassung zur Herstellung, Beschaffenheit oder sonstige Merkmale von mehr als 2.000 Lebensmitteln. In den Leitsätzen sind die Charakteristika am Markt befindlicher Lebensmittel niedergelegt, so unter anderem für Brot, Kleingebäck und Feine Backwaren. Nach den „Leitsätzen für Feine Backwaren der Deutschen Lebensmittelkommission“ vom 17./18. Dezember 1991, zuletzt geändert am 8. Januar 2010 (BAnz. Nr. 16 vom 29. Januar 2010) werden „Feine Backwaren“ aus Teigen oder Massen hergestellt, die unter Verwendung von Getreide und/oder Getreideerzeugnissen bereitet werden. Getreide sind die Brotgetreidearten Weizen, Roggen, Dinkel und Triticale und die Nicht-Brotgetreidearten Buchweizen, Gerste, Hafer, Hirse, Mais und Reis (vgl. VG Münster, Urteil vom 18.2.2019 – 5 K 773/18 –, juris). Die Kammer geht davon aus, dass das Produkt der Klägerin jedenfalls überwiegend aus verschiedenen Getreidearten (Weizenmehl, Weizenvollkornmehl und Quinoa) besteht und insoweit nach den oben genannten Maßstäben als „Backware“ angesehen werden kann. Dem ist der Beklagte in der mündlichen Verhandlung auch nicht entgegengetreten. Weiterhin geht die Kammer davon aus, dass das frittierte Produkt der Klägerin im vorgenannten Wortsinn „gebacken“ wird. Sowohl im deutschen als auch im englischen allgemeinen Sprachgebrauch wird zwischen „backen“ und „frittieren“ zwar grundsätzlich differenziert, wobei unter „backen“ überwiegend der Garprozess in einem Backofen verstanden wird. Gleichwohl kann „backen“ auch „in der Pfanne, im Topf auf dem Herd oder im Ofen in [schwimmendem] Fett unter starker Hitzeeinwirkung garen [und knusprig braun werden lassen]“ bedeuten (vgl. Duden, https://www.duden.de/rechtschreibung/backen_herstellen_garen, zuletzt abgerufen am 27.1.2020). Somit steht der Umstand, dass das Produkt der Klägerin nicht im Ofen gegart, sondern in Fett gebacken wird, der Einordnung als „Backware“ – jedenfalls dem Wortlaut nach – nicht entgegen. Dieses Begriffsverständnis wird wiederum durch die „Leitsätze für Feine Backwaren der Deutschen Lebensmittelkommission“ untermauert, wonach „Feine Backwaren“ durch Backen, Rösten, Trocknen, Kochextrusion oder andere Verfahren hergestellt werden. Danach wird Siedegebäck (wie Krapfen oder Quarkbällchen), das „in heißem Fett schwimmend ausgebacken“ wird, ebenfalls als Backware angesehen. Selbiges gilt für „Cracker“. Diese gelten als Salzgebäck, welches wiederum durch Backen oder Frittieren produziert wird und zu den pikant gewürzten Backwaren zählt (vgl. Leitsätze für Feine Backwaren der Deutschen Lebensmittelkommission in der Fassung vom 8.1.2010, S. 9; Wikipedia zu „Salzgebäck“, https://de.wikipedia.org/wiki/Salzgebäck, zuletzt abgerufen am 27.1.2020). Für die Kammer ist nicht ersichtlich, dass sich das frittierte Produkt der Klägerin maßgeblich von Siedegebäck bzw. Crackern unterscheidet. Nach dem allgemeinen Sprachgebrauch und den Leitsätzen des Deutschen Lebensmittelbuches liegt somit eine Einordnung des „C. Snacks“ als „Backware“ nahe.
Der Wortlaut einer der Sprachfassungen einer Vorschrift des Unionsrechts kann allerdings nicht als alleinige Grundlage für deren Auslegung herangezogen werden. Die Bestimmungen des Unionsrechts müssen im Licht der Fassungen in allen Sprachen der Union einheitlich ausgelegt und angewandt werden. Weichen die verschiedenen Sprachfassungen eines Textes des Unionsrechts voneinander ab, muss die fragliche Vorschrift nach der allgemeinen Systematik und dem Zweck der Regelung ausgelegt werden, zu der sie gehört (vgl. EuGH, Urteil vom 22.9.2016 – C-113/15 –, juris, Rn. 58 m.w.N.).
Die Kammer berücksichtigt daher neben dem Wortlaut auch die Gesetzeshistorie und die Systematik der Unionsliste. Diese sprechen für ein weites Begriffsverständnis und stehen der Einordnung des klägerischen Produktes als „Backware“ nicht entgegen. So bezog sich die ursprüngliche Antragstellung des Unternehmens „The Chia Company“ vom 14. April 2011 auf die Zulassung von Chiasamen in „baked products (muffins, cookies, crackers and biscuits)“. Der von der Europäischen Kommission auf diesen Antrag erlassene Durchführungsbeschluss 2013/50/EU genehmigte die Verwendung von Chiasamen in „baked products“, ohne eine Einschränkung durch Klammerzusätze vorzunehmen. Dies deutet darauf hin, dass Chiasamen in allen „baked products“ und nicht nur den konkret genannten Produktarten zulässig sein sollten. Hierfür spricht auch die weitere Systematik der Unionsliste. So enthalten die Kategoriebezeichnungen teilweise Einschränkungen, was nahelegt, dass der Gesetzgeber Zulassungen durch die Benennung konkreter Unterkategorien beschränkt, wenn er ein neuartiges Lebensmittel nur für bestimmte Unterarten von Produkten genehmigen will. Hätte die Europäische Kommission bei der Zulassung von Chiasamen in Backwaren bestimmte Unterkategorien (bspw. Snacks oder Cracker) oder bestimmte Herstellungsprozesse (bspw. frittieren) ausschließen wollen, wäre zu erwarten gewesen, dass sie dies durch entsprechende Zusätze deutlich macht. Dies ist hier aber nicht geschehen. Die Kammer schließt sich insoweit den umfassenden Ausführungen der Klägerin an. Im Übrigen ist auch nicht ersichtlich, dass eine Verwendung von Chiasamen in Knabberartikeln nicht Gegenstand der Prüfung des Erweiterungsantrages der „Chia Company“ gewesen ist, da sich der damalige Antrag ausdrücklich auch auf „crackers“ bezog.
Soweit der Beklagte ausgeführt hat, dass die Arbeitsgruppe neuartiger Lebensmittel der Europäischen Union (CAFAB) bei der Bearbeitung der Anträge auf Zulassung eines neuartigen Lebensmittels für die jeweilige Einstufung die Produktkategorien das „Guidance document describing the food categories in Part E of Annex II to Regulation (EC) 1333/2008 on food additives“ verwende und diese somit bei der Auslegung des Begriffes „Backware“ heranzuziehen seien, teilt die Kammer diese Auffassung allenfalls unter Einschränkungen. Zwar mag sich die Arbeitsgruppe teilweise nach den Produktkategorien des zu der Verordnung (EG) Nr. 1333/2008 verfassten „Guidance document describing the food categories in Part E of Annex II to Regulation (EC) 1333/2008 on food additives“ richten; die Europäische Kommission hat in verschiedenen Durchführungsbeschlüssen jedoch mitunter andere Bezeichnungen für die jeweiligen Lebensmittelkategorien gewählt als die, die in dem vorgenannten Leitfaden aufgeführt sind. Somit kann auch im hier vorliegenden Fall nicht zwingend davon ausgegangen werden, dass die Arbeitsgruppe die im „Guidance document describing the food categories in Part E of Annex II to Regulation (EC) 1333/2008 on food additives“ genannten Kategorien übernommen und sich an den dortigen Beschreibungen orientiert hat. Vielmehr spricht gegen diese Annahme, dass „Backwaren“ in der sprachlichen Originalfassung des Leitfadens als „bakery wares“ und nicht – wie in der Unionsliste – als „baked products“ bezeichnet werden, sodass bereits insoweit keine Übereinstimmung vorliegt. Sollte sich die Arbeitsgruppe bei der Begriffsbestimmung der Kategorie „baked products“ gleichwohl an dem „Guidance document describing the food categories in Part E of Annex II to Regulation (EC) 1333/2008 on food additives“ orientiert haben, spricht auch dies nicht gegen eine Einstufung des klägerischen Produktes als „Backware“. So sind in dem Leitfaden unter Nr. 7.2 in der Kategorie „Feine Backwaren“ („Fine bakery wares“) auch salzige und pikante Produkte („salty and savoury products“), insbesondere ungesüßte Cracker („unsweetened crackers“) auf der Basis von Getreidemehl aufgeführt. Diese Beschreibung trifft – wie bereits dargelegt – auf den „C. Snack“ der Klägerin zu. Der Umstand, dass das Produkt zugleich der in Nr. 15 genannten und nur oberflächlich beschriebenen Kategorie „ready to eat savouries and snacks“ zugeordnet werden könnte, steht dem nicht entgegen.
Der Einwand des Beklagten, dass die Fragestellung, ob frittierte Produkte mit Chiasamen (wie Chips und Weizen-Quinoa-Snacks) von den bereits erteilten Zulassungen erfasst seien, von der CAFAB-Gruppe verneint wurde, führt zu keiner anderen rechtlichen Beurteilung. Das Gericht ist an die Einschätzung der Arbeitsgruppe nicht gebunden (vgl. EuGH, Urteil vom 22.9.2016 – C-113/15 –, juris, Rn. 78). Die Kammer erkennt zwar an, dass die Arbeitsgruppe sich aus Experten für neuartige Lebensmittel aus den Mitgliedsstaaten der Europäischen Union, Beamten der Europäischen Kommission und Experten der EFSA zusammensetzt, sodass deren Beratungsergebnissen bei der gerichtlichen Auslegung der Unionsliste grundsätzlich Gewicht zukommt. Da dem Gericht jedoch keine Begründung für das durch die Arbeitsgruppe gefundene Ergebnis vorliegt, vermag es die Erwägungen, die zu der vorgenannten Einschätzung geführt haben, nicht nachzuvollziehen und daher auch im Ergebnis nicht zu berücksichtigen.
Nach alledem spricht Überwiegendes dafür, den Begriff der „Backware“ weit auszulegen und auch auf frittiertes Knabbergebäck aus Getreideteig anzuwenden. Hierbei berücksichtigt die Kammer schließlich auch, dass sich bei der Auslegung des Begriffes erhebliche Schwierigkeiten für den Rechtsanwender ergeben. Die Lebensmittelunternehmer sind eigenverantwortlich für ihre Produkte und prüfen in eigener Zuständigkeit, ob ein Lebensmittel unter den Anwendungsbereich der Verordnung (EU) Nr. 2015/2283 fällt bzw. ob sie vor dem Inverkehrbringen eines Produktes ein Zulassungsverfahren nach Art. 10 der Verordnung (EU) Nr. 2015/2283 zu durchlaufen haben. Ein zu enges Verständnis der Begriffskategorien der Unionsliste führt zu mangelnder Rechtssicherheit sowohl für die Lebensmittelunternehmer als auch für die zuständigen Lebensmittelbehörden und kann damit für die Betroffenen zu erheblichen Härten führen. Dies gilt in besonderem Maße vor dem Hintergrund, dass die Verordnung (EU) 2015/2283 kein genormtes Verfahren vorsieht, welches bei Auslegungsschwierigkeiten der Unionsliste Klarheit verschaffen kann. Die Durchführung eines Konsultationsverfahrens nach Art. 4 Verordnung (EU) 2015/2283 kommt nach dem Verständnis der Kammer nur in Betracht, wenn Unsicherheit besteht, ob ein Lebensmittel überhaupt in den Anwendungsbereich der Verordnung fällt, nicht jedoch bei Zweifeln, ob ein Lebensmittel von den bereits zugelassenen Produktkategorien in der Unionsliste erfasst ist.
Ist das Produkt der Klägerin nach alledem als „Backware“ im Sinne der Unionsliste einzustufen, darf es in Verkehr gebracht werden, ohne dass zuvor ein Zulassungsverfahren durchzuführen ist. Da somit der Anwendungsbereich des Art. 138 Abs. 1, 2 S. 2 Buchst. d) der Verordnung (EU) 2017/625 mangels Verstoßes gegen lebensmittelrechtliche Vorschriften nicht eröffnet ist, erweist sich die Aufrechterhaltung der Verbotsverfügung des Beklagten nach der nunmehr geltenden Rechtslage als rechtswidrig. Die Nummer 1 des angefochtenen Bescheides ist daher aufzuheben.
Die einheitliche Entscheidung über die Kosten folgt aus §§ 154 Abs. 1, 161 Abs. 2 VwGO. Hinsichtlich des streitig entschiedenen Teils, dessen Wert das Gericht mit 12.500 Euro bemisst, beruht die Kostenentscheidung auf § 154 Abs. 1 VwGO und geht zulasten des Beklagten, da er unterliegt. Für den übereinstimmend für erledigt erklärten Teil, dessen Wert die Kammer mit 10.000 Euro bemisst, gilt § 161 Abs. 2 VwGO, sodass unter Berücksichtigung des bisherigen Sach- und Streitstandes nach billigem Ermessen über die Kosten zu entscheiden ist. Es entspricht billigem Ermessen, die Kosten hälftig zu teilen. Zwar geht die Kammer davon aus, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen des Art. 54 Abs. 1 und 2 Buchst. c) der Verordnung (EG) Nr. 882/2004 für die Rücknahme- und Vernichtungsanordnung zum Zeitpunkt des Bescheiderlasses vorgelegen haben dürften; allerdings hat sich die Rechtslage noch vor Verstreichen der im Bescheid gesetzten Nachweisfrist zum Vorteil der Klägerin geändert. Welche Auswirkungen dies auf die Rechtmäßigkeit – insbesondere die Verhältnismäßigkeit – der Nummer 2 des angefochtenen Bescheides hat, muss vorliegend nicht mehr abschließend beantwortet werden, da eine Klärung von schwierigen Rechtsfragen nach Erledigung des Rechtsstreits nicht mehr geboten ist. Es spricht aber Überwiegendes dafür, dass die Rücknahme- und Vernichtungsanordnung jedenfalls nach der ab dem 1. Januar 2018 geltenden Rechtslage rechtswidrig gewesen ist. Angesichts dessen hält die Kammer eine Teilung der Kosten für angemessen.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit beruht für den Beklagten auf § 167 VwGO in Verbindung mit § 708 Nr. 11 und § 711 Satz 1 und 2 ZPO und für die Klägerin auf § 709 i.V.m. § 708 ZPO.
Die Kammer hat die Berufung gemäß § 124 a Abs. 1 Satz 1, § 124 Abs. 2 Nr. 3 VwGO zugelassen, weil sie den Fragen, ob Art. 138 Abs. 1, 2 Satz 2 Buchst. d) der Verordnung (EU) 2017/625 Anwendungsvorrang vor § 39 Abs. 2 Satz 1 Alt. 2 LFGB genießt und welche Bedeutung den Beratungsergebnissen der Arbeitsgruppe DG Sante – EU CAFAB bei der Auslegung der sog. „Unionsliste“ zukommt, grundsätzliche Bedeutung zumisst.