Landgericht Lüneburg
Urt. v. 26.01.2005, Az.: 5 O 302/03
Ausgestaltung der Bemessung eines angemessenen Schmerzensgeldes für eine durch einen Verkehrsunfall erlittene erhebliche Hirnschädigung
Bibliographie
- Gericht
- LG Lüneburg
- Datum
- 26.01.2005
- Aktenzeichen
- 5 O 302/03
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 38667
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:LGLUENE:2005:0126.5O302.03.0A
Rechtsgrundlage
- § 847 BGB
In dem Rechtsstreit
...
hat die 5. Zivilkammer des Landgerichts Lüneburg
auf die mündliche Verhandlung vom 05.01.2005
durch
den Richter am Landgericht ... als Einzelrichter
für Recht erkannt:
Tenor:
- 1.
Die Klage wird abgewiesen.
- 2.
Die Kosten des Rechtsstreits trägt der Kläger.
- 3.
Das Urteil ist vorläufig vollstreckbar gegen Sicherheitsleistung in Höhe von 110 % des jeweils zu vollstreckenden Betrages.
Tatbestand
Der Kläger nimmt die Beklagten auf Zahlung eines weiteren Schmerzensgeldes in Anspruch.
Bei einem Verkehrsunfall wurde der Kläger am 05.08.2002 schwerverletzt. Unstreitig hat die Beklagte zu 1) den Unfall allein verursacht, so dass die Beklagten zur Leistung von Schadensersatz in voller Höhe verpflichtet sind.
Bei dem Unfall zog sich der Kläger schwerste Kopfverletzungen sowie Verletzungen im Bereich der Halswirbelsäule und des Brustkorbes zu. Seit dem Unfall befindet sich der Kläger im Koma im Sinne eines diagnostizierten appallischen Syndroms. Er ist vollständig bewegungsunfähig und daher vollen Umfangs pflegebedürftig. Es wird verwiesen auf die insoweit unstreitigen Ausführungen in der Klageschrift.
Die Beklagte zu 2) hat zunächst auf einen Schmerzensgeldanspruch des Klägers Vorschüsse in Höhe von 50.000 EUR gezahlt. Im Juli 2003 zahlte die Beklagte zu 2) einen weiteren Schmerzensgeldbetrag von 50.000 EUR.
Der Kläger behauptet, dass er seine persönliche Situation noch wahrnehme. So liefen bei Besuchen von Angehörigen gelegentlich Tränen. Er meint, dass angesichts der vollständigen Zerstörung seiner Persönlichkeit die von den Beklagten bislang geleistete Summe von 100.000 EUR nicht ausreichend sei. Angemessen sei ein Betrag in Höhe von über 300.000 EUR.
Der Kläger beantragt,
die Beklagten als Gesamtschuldner zu verurteilen, an ihn ein über bereits gezahlte 100.000 EUR hinausgehendes angemessenes Schmerzensgeld nebst Zinsen in Höhe von 5 % über dem Basiszinssatz ab Rechtshängigkeit zu zahlen.
Die Beklagten beantragen
Klagabweisung.
Die Beklagten halten den bereits geleisteten Schmerzensgeld betrag für ausreichend.
Hinsichtlich der Einzelheiten des Sach- und Streitstandes wird verwiesen auf die wechselseitigen Schriftsätze nebst deren Anlagen.
Das Gericht hat Beweis erhoben gemäß Beschluss vom 28.01.2004 (Bl. 90 d.A.). Es wird verwiesen auf das Gutachten des Sachverständigen ... vom 28.10.2004 (Bl. 116 f d.A.).
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage hat in der Sache keinen Erfolg. Der dem Kläger unstreitig zustehende Schmerzensgeldanspruch ist durch die seitens der Beklagten erfolgte Zahlung von insgesamt 100.000 EUR erloschen. Darüber hinausgehende Schmerzensgeldansprüche hat der Kläger nicht, § 847 BGB.
Der Kläger hat durch den Verkehrsunfall erhebliche Hirnschäden erlitten. Mit dieser Hirnschädigung geht eine vollständige Lähmung im Sinne eines appallischen Syndroms und damit ein Verlust der gesamten Persönlichkeit einher. Nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme ist insbesondere davon auszugehen, dass dem Kläger auch die Erlebnisfähigkeit vollständig verlorengegangen ist. Wie der Sachverständige ... in seinem überzeugenden Gutachten dargestellt hat, ist die Beantwortung der Frage, ob der Kläger noch äußere Reize wahrnehmen kann und ihm damit seine Situation bewusst ist, nicht einfach. Dies liegt insbesondere daran, dass der Kläger durch die Schwere seiner Hirnverletzung daran gehindert ist, sich in irgendeiner Weise zu äußern. Nach den Untersuchungsbefunden des Sachverständigen sind aber bei dem Kläger praktisch keine Zeichen erkennbar, dass er auf Sinnesreize unterschiedlicher Art in bedeutsamen Umfang reagiert. Angesichts der Tatsache, dass der Kläger sich seit sehr langem und in unveränderterweise in dem vorgenannten Zustand befindet, ist jedenfalls nach den nachvollziehbaren Ausführungen des Sachverständigen nicht davon auszugehen, dass er in wesentlichem Umfang Gefühlsregungen verspürt und sich seiner Situation bewusst ist.
Entsprechend diesem Beweisergebnis ist bei der Bemessung des angemessenen Schmerzensgeldes davon auszugehen, dass bei dem Kläger eine vollständige Zerstörung seiner Persönlichkeit einschließlich eines Empfindens vorliegt. Nach den überzeugenden Ausführungen des Bundesgerichtshofes in seiner Entscheidung vom 13.10.1992 (NJW 1993, 781 [BGH 13.10.1992 - VI ZR 201/91] f) stellt die Einbuße der Persönlichkeit infolge schwerer Hirnschädigung schon für sich einen auszugleichenden immateriellen Schaden dar, unabhängig davon, ob der Betroffene die Beeinträchtigung empfindet. Allerdings ist die Frage, ob der Verletzte sich seiner Beeinträchtigung bewusst ist und deshalb in besonderem Maße unter ihr leidet, für die Bemessung des Schmerzensgeldes durchaus von Bedeutung. Mithin kann bei einem Schadensbild wie demjenigen, von dem der Kläger betroffen ist, im Mittelpunkt der Bewertung nicht die von dem Verletzten empfundene Minderung an Lebensqualität stehen.
Vor diesem Hintergrund ist bei der Bemessung der Entschädigung der von dem Kläger gezogene Vergleich mit Fällen von Querschnittslähmungen nicht möglich. Bei derartigen Schäden wird die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes maßgeblich davon beeinflusst, dass sie zur Kompensation seelischen Leids oder sonstiger psychischer Missempfindungen dient. Zugleich erfüllt das Schmerzensgeld in diesen Fällen auch eine Genugtuungsfunktion. Hierfür ist bei schwersten Hirnschädigungen kein Raum, weil der Verletzte, der von einer geistigen Behinderung betroffen ist, die praktisch zu einer Zerstörung seiner Persönlichkeit geführt hat, nicht in der Lage ist, den Zusammenhang der Entschädigungszahlungen mit seinem Schaden zu erfassen (vgl. OLG Düsseldorf, VersR 2001, 1384 [OLG Düsseldorf 15.06.2000 - 8 U 147/99] f).
Unter Berücksichtigung dieser Maßstäbe und unter weiterer Berücksichtigung der gesamten Umstände, insbesondere der Pflegesituation des Klägers und dem Ausmaß der Beeinträchtigung, hält das Gericht gemäß § 287 ZPO den von den Beklagten bereits gezahlten Betrag von 100.000 EUR für erforderlich, aber auch ausreichend, um die erlittenen Verletzungen des Klägers und die einhergehende Zerstörung seiner Persönlichkeit angemessen auszugleichen, soweit in einem solchen Fall überhaupt von einem angemessenen Ausgleich die Rede sein kann. Hierbei hat das Gericht insbesondere auch berücksichtigt, dass nach der statistischen Lebenserwartung nicht davon auszugehen ist, dass der Kläger noch über Jahrzehnte hinweg in dem Zustand verbleiben wird. Auch aus diesem Grunde erscheint es dem Gericht angemessen, einen geringeren Schmerzensgeldbetrag zuzusprechen als etwa im Falle vergleichbar beeinträchtigter Kinder.
Die prozessualen Nebenentscheidungen folgen aus den §§ 91, 709 S. 1 ZPO.
Streitwert: 200.000 EUR.