Verwaltungsgericht Stade
Urt. v. 23.07.2003, Az.: 1 A 1865/02
Klage gegen die Entziehung ihrer Fahrerlaubnis; Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens durch den TÜV
Bibliographie
- Gericht
- VG Stade
- Datum
- 23.07.2003
- Aktenzeichen
- 1 A 1865/02
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2003, 29912
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:VGSTADE:2003:0723.1A1865.02.0A
Rechtsgrundlagen
- § 11 Abs. 2 S. 1 FeV
- § 11 Abs. 2 S. 2 FeV
- § 13 FeV
- § 14 FeV
- § 23 Abs. 2 FeV
Fundstellen
- DAR 2003, 532-534 (Volltext mit red. LS)
- NVwZ-RR 2004, 104-106 (Volltext mit amtl. LS)
- zfs 2003, 574-576 (Volltext mit amtl. LS)
Verfahrensgegenstand
Streitgegenstand: Entziehung der Fahrerlaubnis
Prozessführer
A.
Rechtsanwälte B.
Prozessgegner
Landkreis Stade,
vertrten durch den Landrat, Am Sande 2, 21682 Stade
In der Verwaltungsrechtssache
hat das Verwaltungsgericht Stade - 1. Kammer -
auf die mündliche Verhandlung vom 23. Juli 2003
durch
den Präsidenten des Verwaltungsgerichts Schmidt,
den Richter am Verwaltungsgericht Lassalle,
die Richterin Reccius sowie
die ehrenamtlichen Richter Herr C. und Herr D.
für Recht erkannt:
Tenor:
Die Klage wird abgewiesen.
Die Klägerin trägt die Kosten des Verfahrens; insoweit ist das Urteil vorläufig vollstreckbar.
Die Klägerin kann die Vollstreckung durch Sicherheitsleistung in Höhe der festzusetzenden Kosten abwenden, wenn nicht der Beklagte vor der Vollstreckung Sicherheit in entsprechender Höhe leistet.
Tatbestand
Die Klägerin wendet sich gegen die Entziehung ihrer Fahrerlaubnis.
Die am 30. Juni 1981 geborene Klägerin verursachte am 27. Februar 2002 in Hamburg dadurch einen Verkehrsunfall, dass sie den Fahrstreifen wechselte, um einem auf ihrem Fahrstreifen stehenden Fahrzeug auszuweichen und dabei ein neben ihr fahrendes Fahrzeug leicht beschädigte. Der den Unfall aufnehmende Polizeibeamte teilte dem Beklagten mit, dass er den Eindruck hatte, dass die Klägerin sehr stark unterernährt, stark unkonzentriert und in ihrer Wahrnehmungsfähigkeit eingeschränkt war. Ihre Aussprache sei undeutlich gewesen und sie hätte die Ausführungen des Beamten teilweise erst verspätet wahrgenommen. Auch die Bewegungsabläufe der Klägerin hätten unkoordiniert gewirkt. Auf Befragen gab die Klägerin an, dass sie sich wegen Essstörungen in psychiatrischer Behandlung befinde.
Wegen der bestehenden Bedenken an der Fahreignung der Klägerin ordnete der Beklagte daraufhin mit Schreiben vom 14. März 2002 die Beibringung eines amtsärztlichen Gutachtens an. Der Amtsarzt des Landkreises Stade stellte daraufhin auf Grund einer Untersuchung vom 21. Mai 2002 fest, die Klägerin leide unter Anorexia nervosa (Magersucht) sowie einer depressiven Störung. Die Klägerin sei deshalb auch bereits in der Klinik für insgesamt drei Monate von Juni bis September 2001 stationär behandelt worden. In der Zeit vom 22. März 2002 bis 30. April 2002 sei sie in den Elbe-Kliniken Stade stationär behandelt worden. Zu Beginn des freiwilligen Aufenthalts im Elbe-Klinikum habe sie 32,8 kg gewogen. Sie habe die Behandlung gegen ärztlichen Rat abgebrochen, nachdem das Körpergewicht auf 37,5 kg gestiegen war. Während der amtsärztlichen Untersuchung wurde festgestellt, dass das Körpergewicht nunmehr wiederum nur 34,5 kg betrug. Bei der amtsärztlichen Untersuchung hatte die Klägerin angegeben, bereits vier Mal Kokain, zuletzt Mitte des Jahres 2000, konsumiert zu haben. Der Amtsarzt schloss aus dem nicht stabilisierten Krankheitsverlauf, dass erneut Erscheinungen auftreten könnten, die zur Fahruntüchtigkeit führen können. Aus den depressiven Störungen, die von der Klinik in Bad Bramstedt diagnostiziert wurden, könne dies jedoch nicht geschlossen werden, zumal auch die psychiatrische Klinik in Stade diese Diagnostik nicht aufgeführt habe. Der Amtsarzt empfahl daher eine weitere Untersuchung, um zu klären, ob die Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen weiterhin gegeben ist. Dazu sollte eine amtlich anerkannte Begutachtungsstelle für Fahreignung unter Einschluss einer nervenärztlichen Untersuchung erfolgen, um die Auswirkungen der vorliegenden Suchterkrankung und der dahinter liegenden psychologischen Auswirkung einschließlich der Absprachefähigkeit der Patientin bezüglich einzuhaltender Vorsichtsmaßnahmen abklären zu können.
Durch Schreiben vom 04. Juni 2002 ordnete der Beklagte die Vorlage eines Gutachtens einer amtlich anerkannten Begutachtungsstelle für Fahreignung mit gleichzeitiger nervenärztlicher Untersuchung an. Mit Schreiben vom 21. Juni 2002 äußerte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin Zweifel, ob die Vorlage eines medizinisch-psychologischen Gutachtens durch den TÜV hier sachgerecht sein könne. Es sei vielmehr geboten, den tatsächlich behandelnden Arzt zu einer gutachtlichen Stellungnahme aufzufordern. Nur dieser verfüge über die notwendigen Erkenntnisse, die eine abschließende Prognose zuließen. Die behandelnden Ärzte würden im Übrigen von ihrer ärztlichen Schweigepflicht entbunden. Soweit der Amtsarzt den Kokainkonsum erwähnt habe, sei festzustellen, dass eine derartige Sucht nicht vorliege. Das durchgeführte Drogenscreening habe auch zu keinerlei Ergebnissen geführt. Auch die medizinisch-psychosomatische Klinik in Bad Bramstedt kam in ihrem Gutachten vom 26. September 2001 zu dem Ergebnis, dass die Klägerin in deutlich gebessertem Zustand arbeitsfähig entlassen werden konnte. Ambulante Psychotherapie sei jedoch dringend erforderlich. Mit weiterem Schreiben vom 19. September 2002 teilte der Prozessbevollmächtigte der Klägerin mit, dass diese sich seit dem 23. Juli 2002 wieder stationär in der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik in Bad Bramstedt aufhalte. Die Behandlung zeige nachhaltige Erfolge. Der Beklagte möge eine zusätzliche gutachtliche Stellungnahme von dieser Klinik einholen.
Mit Bescheid vom 24. September 2002 entzog der Beklagte der Klägerin die Fahrerlaubnis und ordnete die sofortige Vollziehung an. Die bestehenden Eignungsbedenken hätten nicht ausgeräumt werden können. Vielmehr sei davon auszugehen, dass die Klägerin zur Vorlage des angeordneten Gutachtens nicht bereit sei, um auf diese Weise den Mangel zu verbergen, der ihre Eignung zum Führen von Kraftfahrzeugen ausschließe. Die sofortige Vollziehung sei im öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung der Verkehrssicherheit anzuordnen. Der Gesundheitszustand der Klägerin habe bereits dazu geführt, dass sie in offenbar fahruntüchtigem Zustand am motorisierten Straßenverkehr teilgenommen habe. Dabei habe sich ein Verkehrsunfall ereignet. Da die Klägerin die erforderliche Eignungsbegutachtung verweigere, sei anzunehmen, dass sie auch künftig sich und andere Verkehrsteilnehmer gefährden werde. Gegen diesen Bescheid legte die Klägerin mit Schriftsatz vom 02. Oktober 2002 Widerspruch ein. Der Verkehrsunfall vom 27. Februar 2002 sei nicht auf eine krankheitsbedingte Einschränkung der Fahreignung der Klägerin zurückzuführen gewesen. Sie habe sich lediglich über den Rückspiegel über den nachfolgenden Verkehr orientiert, ohne durch zusätzlichen Schulterblick sich davon zu überzeugen, dass kein Fahrzeug sich im toten Winkel links neben ihr befindet. Sie sei durch das Unfallereignis sehr stark erregt gewesen, so dass sie auf den Polizeibeamten den beschriebenen Eindruck gemacht haben konnte. Der Gutachter habe im Übrigen auf Grund einer oberflächlichen Untersuchung und Kenntnis der Erkrankung der Klägerin seine Schlüsse gezogen und nicht berücksichtigt, dass die Klägerin zwischenzeitlich auf Grund der erneuten stationären Therapie in der Klinik 10 kg zugenommen habe. Sie weise jetzt ein normales Essverhalten auf, das eine weitere Gewichtszunahme bis zum Erreichen eines Normalgewichts Gewähr leiste.
Mit Bescheid vom 10. Oktober 2002 wies die Bezirksregierung Lüneburg den Widerspruch zurück. Die Stellungnahmen der behandelnden Ärzte seien nicht ausreichend, weil die Begutachtung nach § 11 Abs. 2 FeV nicht durch die behandelnden Ärzte erfolgen solle. Vor dem Hintergrund der Vorgeschichte müsse darüber hinaus bezweifelt werden, ob die zwischenzeitlich durchgeführte stationäre Behandlung tatsächlich nachhaltig zum Erfolg geführt habe. Die Klägerin habe sich zu Unrecht geweigert, das geforderte Gutachten fristgerecht beizubringen, so dass die Entziehung der Fahrerlaubnis zu Recht erfolgt sei. Auch die Anordnung der sofortigen Vollziehung sei zu Recht erfolgt, weil die dringende Besorgnis bestand, dass die Klägerin durch die Magersucht mit dauerhaft reduziertem Allgemeinzustand bei instabilem Krankheitsverlauf ein erhöhtes Unfallrisiko darstelle. Zum Schutz der Allgemeinheit sei daher die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs im öffentlichen Interesse zu beseitigen.
Die Klägerin hat am 1. Oktober 2002 Klage erhoben. Aus dem seinerzeitigen Unfallgeschehen selbst könne keinerlei Schluss auf die Fahrtüchtigkeit der Klägerin gezogen werden. Ihr sei lediglich ein Verwarngeld in Höhe von 35,00 Euro auferlegt worden, weil sie das links neben ihr im toten Winkel befindliche zweite Fahrzeug bei dem Spurwechselmanöver nicht gesehen und leicht berührt habe. Die Klägerin sei durch das Ereignis stark erregt gewesen, weil es sich um ihren ersten Unfall gehandelt habe. Daraus könne jedoch kein Schluss auf ihre Fahreignung gezogen werden. Das Gutachten des Amtsarztes sei oberflächlich. Dies zeige sich bereits daran, dass von einem viermonatigen Drogenkonsum gesprochen werde, obwohl dies tatsächlich nicht zutreffend sei. Die Klägerin habe auf Grund der Behandlung in Bad Bramstedt zwischenzeitlich erheblich an Gewicht zugenommen und weise jetzt ein normales Essverhalten auf, das eine weitere Gewichtszunahme bis zum Erreichen des Normalgewichts Gewähr leiste. Auch psychisch habe sie sich stabilisiert. Der Beklagte habe trotz der Anregung der Klägerin keine Stellungnahme der behandelnden Ärzte eingeholt. Im Übrigen sei auch die Begründung für den Sofortvollzug fehlerhaft, weil die Gesundheitsstörungen der Klägerin nicht zu einem Unfall geführt hätten. Vielmehr habe es sich um einen einfachen Unfall, der auf schlichter Unachtsamkeit beruht habe, gehandelt.
Die Klägerin beantragt,
den Bescheid des Beklagten vom 24. September 2002 und den Widerspruchsbescheid vom 10. Oktober 2002 aufzuheben.
Der Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Die Annahme, es liege eine die Fahrsicherheit beeinträchtigende Erkrankung der Klägerin vor, sei durch Tatsachen belegt. Dies ergebe sich aus der Krankengeschichte der Klägerin, die bereits seit ihrem 13. Lebensjahr an gestörtem Essverhalten leide. Die Klägerin habe sich auch nicht kontinuierlich und nachhaltig behandeln lassen. Dies zeige schon, dass sie die Stader Klinik gegen den Rat der Ärzte verlassen habe. Es werde darüber hinaus bestritten, dass die Klägerin auf Grund der durchgeführten stationären Behandlung in Bad Bramstedt sich so gefestigt habe, dass sie nunmehr ein normales Essverhalten aufweise. Die Klägerin müsse dies durch das angeordnete medizinisch-psychologische Gutachten nachweisen. Im Übrigen handele es sich bei der Klinik in Bad Bramstedt auch nicht um ein Institut mit verkehrsmedizinischer Qualifikation.
Die Kammer hat mit Beschluss vom 01. November 2002 die aufschiebende Wirkung der Klage gegen die Bescheide wiederhergestellt. Zwar sei die Einholung eines amtsärztlichen Gutachtens gerechtfertigt gewesen, weil das Verhalten der Klägerin nach dem Unfall derart auffällig gewesen sei, dass es nicht allein mit der Erregung durch den Unfall begründet werden konnte. Auch die daraufhin ergangene Stellungnahme des Amtsarztes hätte noch nicht die bestehenden Zweifel ausräumen können, so dass weiterer Aufklärungsbedarf bestanden hätte. Da es sich bei der Erkrankung der Klägerin jedoch nicht um eine explizit in der Anlage 4 der FeV genannte Erkrankung handelt, hat die Kammer es für erforderlich gehalten, im Laufe des anhängigen Hauptverfahrens nunmehr ein medizinisches Gutachten über die Fahreignung einzuholen. Im Hinblick auf die Besonderheiten der Erkrankung müsse es sich dabei nicht zwingend um einen in den Regelfällen der im Anhang der Anlage 4 zur FeV herangezogenen Gutachter des TÜV handeln. Die Notwendigkeit, ein derartiges medizinisches Gutachten einzuholen, sei insbesondere deshalb erforderlich, weil der Beklagte es im Laufe des Widerspruchsverfahrens unterlassen hat, eine weitere Stellungnahme der Medizinisch-Psychosomatischen Klinik in Bad Bramstedt, in der die Antragstellerin im Laufe des Vorverfahrens behandelt wurde, einzuholen. Dabei handele es sich zwar um die behandelnden Ärzte der Antragstellerin, die regelmäßig nicht zur Begutachtung herangezogen werden sollen. Gleichwohl dürften auch derartige Stellungnahmen von behandelnden Fachkliniken nicht gänzlich außer Acht gelassen werden. Die Kammer habe zwar auch auf Grund der langjährigen Dauer der Erkrankung und der Zahl der stationären Aufenthalte Zweifel, ob der Gesundheitszustand der Klägerin sich bereits derart stabilisiert habe, dass von einer Heilung ausgegangen werden könne, Anhaltspunkte dafür müssten jedoch unter Berücksichtigung der Besonderheiten des Falles aufgeklärt werden und könnten nicht allein mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit der Einholung eines Gutachtens ausgeräumt werden. Aufgrund einer Abwägung der sich gegenüber stehenden Interessen hat die Kammer sodann dem Antrag der Klägerin stattgegeben.
Die Kammer hat am 27. November 2002 beschlossen, dass die Eignung der Klägerin zum Führen von Kraftfahrzeugen durch die Einholung eines Gutachtens überprüft werden soll. Zu Gutachtern wurden die Fachärztin für Psychiatrie E. sowie der Leiter der Begutachtungsstelle, der Psychologe F. bestellt. Dabei wurde der Gutachtenauftrag ausdrücklich auf alle sich aus den Akten ergebenden Zweifel an der Fahreignung ausgedehnt, nämlich diejenigen, die sich aus der Frage nach der Stabilisierung der Anorexia nervosa, aber auch aus einer möglichen Drogengefährdung der Klägerin ergeben können.
Am 22. Mai 2003 ist bei dem Verwaltungsgericht Stade das Gutachten eingegangen. Der Gutachter stellt in seiner Zusammenfassung fest, dass Anorexia nervosa eine schwierige Erkrankung des ganzen Menschen darstelle, in deren Verlauf die Fähigkeit zum sicheren Führen von Kraftfahrzeugen auf Grund der Gefahr von Synkopen phasenweise aufgehoben sein kann. Dies gelte selbstverständlich insbesondere für den Fall eines komplizierenden Konsums leistungssteigernder Drogen wie Amphetamin oder Kokain, der eine besondere Gefahr der Ignorierung realer Leistungsgrenzen bzw. der Ausschöpfung der noch vorhandenen begrenzten Ressourcen birge. Hinweise auf eine Drogenproblematik hätten sich jedoch während der Untersuchung in keiner Hinsicht ergeben. Der frühere Kokainkonsum habe sich als reiner Probierkonsum erwiesen. Die Prognose der Grunderkrankung stelle sich insgesamt günstig dar. Diese Einschätzung resultiere aus den individuellen Merkmalen der hier pathogenetischen Faktoren und der bisherigen Aufarbeitung, insbesondere aus einer fortgeschrittenen Aufarbeitung des Grundkonfliktes von Autonomie und Abhängigkeit mit dem Ergebnis einer deutlichen Zunahme an äußerer und innerer Autonomie, objektivierbar durch eine zufriedene Verselbstständigung und kritische Reflektion der pathogenetischen familiären Ausgangssituation. Eine vorrangige gedankliche und gefühlsmäßige Präokkupation durch die Erkrankung sei heute nicht mehr gegeben. Der Verzicht auf zwanghaftes Kalorienzählen und rituelle Wiegeprozeduren, eine Zunahme an Genussfähigkeit, ein sensibleres Körperempfinden, eine fortgeschrittene Restrukturierung des Körperschemas, eine deutliche Gewichtszunahme und eine Hinwendung zu mehr Weiblichkeit dokumentierten eine Besserung und fortschreitende Stabilisierung auf bereits heute hohem Niveau. Eine depressive Grundstimmung sei nicht mehr gegeben. Hinweise auf eine Suizidgefährdung ergäben sich nicht, ebenso wenig anderweitige psychopathologische Auffälligkeiten von eigenem Krankheitswert im Sinne der Komorbidität. Die soziale Integration stelle sich ebenfalls verbessert dar. Soziale Kontakte würden als subjektiv bereichert erlebt. Die Klägerin führe ein weitgehend normales Leben. Andererseits weisen die Gutachter auch darauf hin, dass es verfrüht wäre, bereits von einer Heilung zu sprechen. Völlige Symptomfreiheit sei noch nicht gegeben. Es bestehe jedoch eine differenzierte Einsicht in die Art der Erkrankung und in individuelle Gefährdungsmomente. Die Klägerin verfüge über gute physiologische Kenntnisse und sei in der Lage, präsynkopale Frühwarnsignale zu identifizieren und diesem Zustand adäquat Rechnung zu tragen. Zweifel an einem hohen sozialen Verantwortungsgefühl hätten sich nicht ergeben. Die Leistungsvoraussetzungen würden daher, bezogen auf das Gesamtkollektiv der kraftfahrenden Bevölkerung, den Anforderungen an das Führen von Kraftfahrzeugen vollauf genügen. Die Gutachter kommen daher insgesamt zu einer günstigen Krankheits- und Verkehrsprognose.
Die Parteien hatten Gelegenheit, zu diesem Gutachten Stellung zu nehmen. Der Amtsarzt des Beklagten warnt vor zu großem Optimismus bezüglich der Prognose und zieht dazu als Beleg die Äußerung der Klägerin über ihre Therapeutin "Sie kann reden, ich mache trotzdem was ich will" heran. Bezüglich der leistungspsychologischen Untersuchung schließt sich der Amtsarzt den Ausführungen der Gutachter im Wesentlichen an, macht jedoch insoweit Vorbehalte, als er Zweifel anmeldet, ob die Klägerin die wahrgenommenen fahreignungsrelevanten Beeinträchtigungen auch zugestehen könne. Die günstige Prognose der Klinik Bad Bramstedt aus dem Jahre 2002 scheine sich nunmehr zu bestätigen. Es gäbe zwar noch einige Auffälligkeiten, die aus amtsärztlicher Sicht die Notwendigkeit begründen, kurze Stellungnahmen, am besten von der Behandlerin Frau DrG., herbeizuziehen, aus denen hervorgeht, dass der Heilungsverlauf sich weiterhin als stabil erweist und mit einer Rückfallgefährdung nicht zu rechnen sei und ob weitere Kontrollmaßnahmen notwendig seien. Diese Stellungnahmen sollten jeweils ein halbes und ein Jahr nach Beendigung der Behandlung im Frühjahr 2003 erfolgen.
Wegen der weiteren Einzelheiten wird auf den Inhalt der Streitakte sowie der beigezogenen Verwaltungsvorgänge des Beklagten und auf den Inhalt der Akte 1 B 1756/02 Bezug genommen.
Entscheidungsgründe
Die Klage hat keinen Erfolg, weil die Entziehung der Fahrerlaubnis in dem hier maßgeblichen Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, nämlich am 10. Oktober 2002, rechtmäßig war.
Der Beklagte und die Bezirksregierung Lüneburg haben ihre Verfügungen seinerzeit zu Recht darauf gestützt, dass die Klägerin ihrer Verpflichtung, ein die amtsärztliche Stellungnahme ergänzendes Gutachten einzuholen, nicht nachgekommen ist. Die Anordnung, ein ergänzendes medizinisch-psychologisches Gutachten unter Einschluss einer nervenärztlichen Begutachtung zur Aufklärung der Frage, ob und gegebenenfalls unter welchen Voraussetzungen die Kraftfahreignung noch oder wieder gegeben ist, war seinerzeit zu Recht für erforderlich gehalten worden. Dies hat sich im Laufe des Hauptverfahrens herausgestellt. Folgende Gründe sind dafür maßgeblich:
Bei der Krankheit der Klägerin handelt es sich nicht um eine solche, die die Einholung eines Gutachtens zwingend erforderlich machte. Dies ist bei Eignungszweifeln im Hinblick auf das Betäubungsmittelgesetz oder Arzneimittel (§ 14 FeV) oder auf Alkohol (§ 13 FeV) der Fall. Es handelte sich auch nicht um eine in der Anlage 4 oder 5 zu § 11 FeV genannte Erkrankungen, die gemäß § 11 Abs. 2 Satz 2 FeV regelmäßig zu Bedenken Anlass geben, die die Einholung eines Gutachtens rechtfertigen. Vielmehr war hier eine Ermessensentscheidung gemäß § 11 Abs. 2 Satz 1 FeV zu treffen, ob ein Gutachten eingeholt werden sollte. Eine sorgfältige Ermessensentscheidung setzt aber eine umfassende Sachverhaltsaufklärung voraus. Dabei sind im Gegensatz zu der im Widerspruchsbescheid genannten Auffassung auch privatärztliche Stellungnahmen und insbesondere im Falle komplizierter psychischer Erkrankungen auch Stellungnahmen von langfristig behandelnden Kliniken zu berücksichtigen, selbst wenn diese letztendlich gemäß § 11 Abs. 2 Satz 5 FeV nicht als gutachtliche Stellungnahmen gewertet werden sollen.
In ihrem Beschluss vom 01. November 2002, mit dem die Kammer der Klägerin vorläufigen Rechtsschutz gewährt hat, hat die Kammer bemängelt, dass der Beklagte es unterlassen habe, Stellungnahmen über die aktuelle Entwicklung der Klägerin von der sie seinerzeit behandelnden Klinik einzuholen, bevor die Ermessensentscheidung getroffen wurde. Im Hinblick auf die sich abzeichnende Stabilisierung des Gesundheitszustandes der Klägerin hat die Kammer dem Antrag auf Gewährung vorläufigen Rechtsschutzes sodann nach einer Abwägung der sich gegenüberstehenden Interessen stattgegeben.
Im Hauptverfahren hat sich nunmehr nach einem gemäß Beweisbeschluss der Kammer vom 27. November 2002 eingeholten Gutachten der Fachärztin für Psychiatrie E. und des Leiters der Begutachtungsstelle F. von der Begutachtungsstelle für Fahreignung im Zentralkrankenhaus St.-Jürgen-Straße, Bremen, herausgestellt, dass sich die Annahme der Kammer hinsichtlich der Prognose als zutreffend erwiesen hat. Zugleich ist aber in dem Gutachten, das bei der Kammer am 22. Mai 2003 eingegangen ist, festgestellt worden, dass seinerzeit erhebliche Zweifel an der Fahreignung der Klägerin gerechtfertigt waren. Das Gutachten, das die Kammer in Übereinstimmung mit den Parteien für plausibel und zutreffend hält, stellt umfassend dar, dass die Klägerin sich kontinuierlich so entwickele, dass sie künftig den Anforderungen an das Führen von Kraftfahrzeugen voraussichtlich genügen wird. Die Gutachter machen jedoch zugleich deutlich, dass es noch verfrüht wäre, von einer Heilung zu sprechen und machen insgesamt klar, dass die Klägerin in dem hier maßgeblichen Zeitraum im Jahre 2002 so schwer erkrankt war, dass die Annahme der fehlenden Fahreignung zum damaligen Zeitpunkt gerechtfertigt war. Die Gutachter zeigen deutlich die noch nicht abgeschlossene Entwicklung zu einer sich allmählich stabilisierenden Gesundheit der Klägerin auf, die zum Zeitpunkt der im Anschluss an den Unfall vom Amtsarzt des Beklagten vorgenommenen Untersuchung vom 21. Mai 2002 noch nicht erkennbar war. Zu diesem Zeitpunkt war das Gewicht der Klägerin nach dem aus eigenem Entschluss gegen den Willen der Ärzte beendeten Krankenhausaufenthalt, währenddessen das Körpergewicht von 32,8 kg auf 37,5 kg gestiegen war, wiederum auf 34,5 kg gesunken. Im Anschluss daran hat sich dann eine Gewichtszunahme auf 48 kg während des Aufenthaltes in der Klinik in Bad Bramstedt ergeben. Erst aus dem im gerichtlichen Verfahren eingeholten Gutachten ergibt sich sodann, dass ihr nunmehr ein verbesserter Umgang mit Nahrung möglich ist und die Beeinträchtigungen des psycho-physischen Zustandes inzwischen wahrgenommen werden.
Das während des gerichtlichen Verfahrens eingeholte Gutachten, das dem entsprach, das der Klägerin zuvor durch die angefochtenen Verfügungen auferlegt wurde, macht somit in besonderer Weise deutlich, dass es seinerzeit gerechtfertigt war, von der Klägerin die Beibringung eines Gutachtens zu verlangen, das die bestehenden Zweifel an der Eignung der Klägerin zum Führen von Kraftfahrzeugen im Straßenverkehr ausräumt. Die Klägerin hatte sich seinerzeit trotz dieser berechtigten Forderung geweigert, das zusätzliche Gutachten beizubringen, so dass die Entziehung der Fahrerlaubnis gemäß § 3 Abs. 1 StVG i.V.m. § 46 Abs. 1 und § 11 Abs. 8 FeV gerechtfertigt war.
Dass das im gerichtlichen Verfahren eingeholte Gutachten nunmehr mit einer günstigen Krankheits- und Verkehrsprognose endet, vermag an der Rechtmäßigkeit der seinerzeit ergangenen Entscheidung nichts mehr zu ändern. Der Beklagte wird das Gutachten allerdings im Rahmen einer Entscheidung über die Wiedererteilung der Fahrerlaubnis zu berücksichtigen haben, so dass davon ausgegangen werden kann, dass ein entsprechender Antrag der Klägerin alsbald positiv entschieden wird. Die Kammer weist jedoch in diesem Zusammenhang nach Würdigung der vorliegenden Gutachten ausdrücklich darauf hin, dass der Beklagte im Rahmen seiner Wiedererteilungsentscheidung auch darüber zu entscheiden haben wird, ob die Fahrerlaubnis lediglich unter Auflagen gemäß § 23 Abs. 2 FeV erteilt werden kann. Die Kammer neigt insoweit zu der Auffassung, die auch dem Versuch, in der mündlichen Verhandlung einen Vergleich herbeizuführen, zu Grunde lag, dass die Klägerin sichüber eine geraume Zeit in im Einzelnen zu bestimmenden Abständen hinsichtlich der Stabilisierung ihres Gesundheitszustandes untersuchen lassen muss.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 154 Abs. 1 VwGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 167 VwGO i.V.m. §§ 708 Nr. 11, 711 ZPO.
Streitwertbeschluss:
Der Streitwert wird auf 4.000,00 Euro festgesetzt.
Rechtsmittelbelehrung:
Gegen die Streitwertfestsetzung ist die Beschwerde an das Niedersächsische Oberverwaltungsgericht in Lüneburg statthaft, wenn der Wert des Beschwerdegegenstandes 50,00 EUR übersteigt. Die Beschwerde ist spätestens innerhalb von sechs Monaten, nachdem die Entscheidung in der Hauptsache Rechtskraft erlangt oder das Verfahren sich anderweitig erledigt hat, bei dem
Verwaltungsgericht Stade,
Am Sande 4a, 21682 Stade, oder
Postfach 3171, 21670 Stade,
schriftlich oder zur Niederschrift des Urkundsbeamten der Geschäftsstelle einzulegen. Ist der Streitwert später als einen Monat vor Ablauf dieser Frist festgesetzt worden, so kann die Beschwerde noch innerhalb eines Monats nach Zustellung oder formloser Mitteilung des Festsetzungsbeschlusses eingelegt werden. Die Beschwerdefrist ist auch gewahrt, wenn die Beschwerde innerhalb der Frist bei dem Oberverwaltungsgericht in Lüneburg eingeht.
Lassalle,
Reccius