Verwaltungsgericht Stade
Beschl. v. 23.07.2003, Az.: 2 B 1986/02

Außenbereich; Bestandsschutz; heranreichende Wohnbebauung; landwirtschaftlich; Rücksichtnahme; Vorbelastung; Wohnbebauung; Wohnen

Bibliographie

Gericht
VG Stade
Datum
23.07.2003
Aktenzeichen
2 B 1986/02
Entscheidungsform
Beschluss
Referenz
WKRS 2003, 48362
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
[keine Angabe]

Gründe

1

Der Antrag der Beigeladenen gemäß § 80 Abs. 7 VwGO, den Beschluss der Kammer vom 7. August 2002 (2 B 616/02) zu ändern und den Eilrechtsschutzantrag des Antragstellers abzulehnen, hat Erfolg.

2

Vorauszuschicken ist, dass das Gericht auch im Verfahren nach § 80 Abs. 7 VwGO die von einem Nachbarn angefochtene Baugenehmigung nicht umfassend auf ihre Rechtmäßigkeit überprüfen kann. Das Gericht ist darauf beschränkt zu fragen, ob durch das genehmigte Vorhaben subjektiv-öffentliche Rechte des Nachbarn verletzt werden. Der Antragsteller kann sich daher auch in diesem Verfahren nicht mit Erfolg darauf berufen, dass das Wohnbauvorhaben der Beigeladenen nicht zuletzt wegen der im Erörterungstermin vom 5. Juni 2003 bestätigt gefundenen Außenbereichslage des Baugrundstücks an dem vorgesehenen Standort gemäß § 35 BauGB nicht hätte genehmigt werden dürfen und deshalb Überwiegendes für die objektive Rechtswidrigkeit der angefochtenen Baugenehmigungen spricht. Die Vorschriften des Bauplanungsrechts zur Frage, ob ein Vorhaben im Außenbereich zulässig ist oder nicht, dienen nicht dem Schutz der subjektiven Rechte des Nachbarn, sondern bestehen allein im öffentlichen Interesse.

3

Nach nunmehriger Erkenntnislage werden subjektiv-öffentliche Rechte des Antragstellers durch das genehmigte Vorhaben aller Voraussicht nach nicht verletzt. Die weitere Anordnung der aufschiebenden Wirkung seines Widerspruchs und einer eventuell nachfolgenden Anfechtungsklage gegen die angefochtenen Baugenehmigungen ist daher zum gegenwärtigen Zeitpunkt nicht (mehr) gerechtfertigt.

4

Gemäß § 80 Abs. 7 VwGO kann das Gericht der Hauptsache Beschlüsse über Anträge nach Absatz 5 jederzeit ändern oder aufheben. Außerdem kann jeder Beteiligte die Änderung oder Aufhebung wegen veränderter oder im ursprünglichen Verfahren ohne Verschulden nicht geltend gemachter Umstände beantragen. Ein Anspruch der Beteiligten auf eine neue gerichtliche Entscheidung gemäß § 80 Abs. 7 Satz 2 VwGO ist u. a. dann zu bejahen, wenn aufgrund neuer Erkenntnisse im Hauptsacheverfahren eine Veränderung der Prozesslage eingetreten ist (vgl. Kopp/Schenke, VwGO, 13. Aufl. 2003, § 80, Rdnr. 197 m. w. N.).

5

Der Antragsteller kann sich insbesondere nicht (mehr) auf eine Verletzung des Rücksichtnahmegebotes ihm gegenüber berufen. Das Gebot der Rücksichtnahme auf schutzwürdige Individualinteressen der Eigentümer benachbarter Grundstücke ist ein öffentlich-rechtlicher Belang im Sinne des § 35 Abs. 3 BauGB (vgl. bereits zum Bundesbaugesetz: BVerwG, Urteile v. 25.10.1967 - IV C 86.66 - BVerwGE 28, 148, 153; vom 05.04.1068 - IV C 227.65 - BVerwGE 29, 286, 288f sowie vom 25.02.1977 - IV C 22.75 - BVerwGE 52, 122, 125) und deshalb auch bei der Erteilung von Baugenehmigungen für Vorhaben im Außenbereich zu berücksichtigen. Nachteilige, vom Grundstück des Antragstellers ausgehende, auf das Grundstück des Beigeladenen einwirkende Immissionen, insbesondere schädliche Umwelteinwirkungen im Sinne des § 35 Abs. 3 Satz 1 Ziffer 3 BauGB, denen das Grundstück des Beigeladenen ausgesetzt wäre und die diesem nicht mehr zugemutet werden sollen (BVerwG, Urt. v. 25.02.1977 - IV C 22.75 - a.a.O. S. 126 f) und die deshalb als Anknüpfungspunkte für nachbarliche Abwehrrechte in Betracht kommen könnten, sind nicht erkennbar.

6

Das Gebot der Rücksichtnahme soll einen angemessenen Interessenausgleich gewähren. Dabei hat sich die Abwägung daran zu orientieren, was dem Rücksichtnahmebegünstigten und dem Rücksichtnahmeverpflichteten jeweils nach Lage der Dinge zuzumuten ist. Je empfindlicher und schutzwürdiger die Stellung des Begünstigten, umso mehr kann an Rücksichtnahme verlangt werden. Je verständlicher und unabweisbarer die mit dem Vorhaben verfolgten Interessen sind, um so weniger braucht derjenige, der das Vorhaben verwirklichen will, Rücksicht zu nehmen. Dagegen muss er Beeinträchtigungen, die von einem legal genutzten vorhandenen Bestand ausgehen, als Vorbelastungen, die seine Schutzwürdigkeit mindern, hinnehmen (BVerwG, Urt. v. 25.02.1977 - IV C 22.75 - a.a.O. und v. 13.03.1981 - IV C 1.78 - Buchholz 406.19 Nachbarschutz Nr. 44).

7

Für die Bestimmung dessen, was den Bewohnern des Grundstücks der Beigeladenen zugemutet werden kann, ist zu berücksichtigen, dass Bewohner eines - wie hier - im Außenbereich gelegenen Wohnhauses in geringerem Maße schutzwürdig sind, als solche in einem allgemeinen oder reinen Wohngebiet. Im Außenbereich ist ein Wohnhaus nicht vor jeder Art landwirtschaftlicher Immission zu schützen, denn anders als in Wohngebieten ist der Außenbereich durch das Nebeneinander von landwirtschaftlichen Betrieben und diesen zugeordneten Wohnungen geprägt. Nicht landwirtschaftliches Wohnen ist im Außenbereich grundsätzlich nicht zulässig. Grundstücke im Außenbereich sind daher grundsätzlich insoweit vorbelastet, als die dort Wohnenden bis zu einem gewissen Grad mit den für die Landwirtschaft typischen Immissionen rechnen müssen und sich nicht darauf verlassen können, dass es nicht auf Dauer zu stärkeren Belastungen kommt, als sie bereits bei Entstehung des Wohnhauses vorhanden waren. Dies gilt auch, wenn ein Wohnhaus in den Außenbereich einem am Rande des Innenbereichs vorhandenen emittierendem Betrieb quasi „vorgesetzt“ wird (vgl. VGH Baden-Württemberg, Urt. v. 26.02. 1979 BRS 35, Nr. 57, Urt. der Kammer v. 25.03. 1999 - 2 A 85/97, Nds. OVG, B. v. 12.11.1999 - 1 L 3225/99). Die Frage nach dem Maß der von der Beigeladenen auf den Betrieb des Antragstellers zu nehmenden Rücksichtnahme und damit die Frage, ob die erteilten Baugenehmigungen Rechte des Antragstellers verletzen ist nach der Sach- und Rechtslage zum Zeitpunkt der Genehmigungserteilung zu beantworten (BVerwG, Beschl. v. 23.04.1998 - 4 B 40.98 - BauR 1998, 995). Spätere Änderungen zu Lasten des Bauherrn müssen außer Betracht bleiben und künftige Entwicklungen können nur insoweit berücksichtigt werden, als sie im vorhandenen baulichen Bestand ihren Niederschlag gefunden haben. Landwirtschaftliche Betrieb nehmen in dieser Hinsicht keine Sonderstellung ein. Auch bei ihnen verbietet es sich, die bloße Möglichkeit künftiger Betriebserweiterungen oder Umstellungen bereits vollzogenen Änderungen gleichzustellen (BVerwG, Urt. v. 14.01.1993 - 4 C 19.90 - BauR 1993, 445, 447). Andernfalls stünde es im Belieben des Nachbarn, durch bloße Absichtserklärungen die Bebaubarkeit benachbarter Grundstücke zu beeinflussen.

8

In dem Beschluss vom 7. August 2002 (2 B 616/02) hat die Kammer die Anordnung der aufschiebenden Wirkung des Widerspruchs des Antragstellers gegen die der Beigeladenen erteilte Baugenehmigung darauf gestützt, dass nicht ausreichend geklärt sei, ob die heranrückende Wohnbebauung ausreichend vor den vom Betrieb des Antragstellers ausgehenden schädlichen Umwelteinwirkungen geschützt ist. Dabei war ausdrücklich auf die Frage abgestellt worden, ob eine Viehhaltung auf dem Betriebsgrundstück des Antragstellers rechtmäßig ist. Maßgebliche Bedeutung kommt danach der Frage zu, ob die Rindviehhaltung auf dem Grundstück zum Zeitpunkt der Erteilung der angefochtenen Baugenehmigungen vom 21. Dezember 2001 noch Bestandsschutz genoss oder nicht (vgl. S. 5 ff des Beschlussabdrucks). Zu dieser Frage haben sich zwischenzeitlich, insbesondere aufgrund des von dem Berichterstatter der Kammer am 5. Juni 2003 durchgeführten Erörterungstermins, neue Erkenntnisse ergeben, die zu einer Veränderung der Prozesslage führen.

9

Ausweislich eines Vermerks der Bezirksregierung Lüneburg über die am 21. März 2002 durchgeführte Ortsbesichtigung soll der Antragsteller seinerzeit gesagt haben, er habe die Viehhaltung bereits vor Jahren aufgegeben. In der Folgezeit hat der Antragsteller bestritten, eine solche Aussage gemacht zu haben. In dem Erörterungstermin vor dem Berichterstatter am 5. Juni 2003 hat er sich dann jedoch dahingehend eingelassen, etwa ab 1992/1993 habe er auf dem Grundstück nur noch eine sogenannte „Pensionstierhaltung“ betrieben. Er habe in den Folgejahren allerdings Tiere für andere Landwirte und auch für einen Tierhändler vorübergehend in dem Stall untergebracht. Belege oder Unterlagen hierzu existierten jedoch nicht und die Eigentümer dieser Tiere möchten nicht in das vorliegende Verfahren hineingezogen zu werden und weigerten sich deshalb, diese Angabe des Antragstellers nachträglich zu bestätigen. Bemühungen zur Wiederaufnahme einer eigenen Rindviehhaltung habe er erst im Jahre 2001 wieder aufgenommen und die zum Zeitpunkt des Ortstermins vorhandenen Rinder seien erst im Frühjahr 2002 aufgestallt worden. Es seien die einzigen Tiere, die er besitze und es gehe ihm auch nicht darum, die Rindviehhaltung in nächster Zeit auszuweiten.

10

Damit steht durch die eigenen Angaben des Antragstellers nunmehr fest, dass die Haltung eigener Tiere auf dem Grundstück für einen Zeitraum von mindestens acht Jahren unterbrochen war. Nach dem von der Kammer in dem Ausgangsbeschluss bereits zitierten „Zeitschema“ des Bundesverwaltungsgerichts zum nachwirkenden Bestandsschutz (BVerwG, Urt. v. 25.3.1988 - 4 C 21.85 - BauR 1988., 569 ff) spricht daher nunmehr Überwiegendes für ein Erlöschen des Bestandsschutzes für die Rindviehhaltung auf dem Grundstück. Der Zeitraum von ca. acht Jahren ist so lang, dass auch unter Berücksichtigung der noch vorhandenen Stalleinrichtungen nicht mehr davon ausgegangen werden, dass der ursprüngliche Bestandsschutz noch nachwirkt.

11

Hiergegen kann sich der Antragsteller nicht auf die angeblich über mehrere Jahre durchgeführte „Pensionshaltung“ für andere Landwirte und einen Tierhändler berufen. Ungeachtet der Frage, aus welchem Grunde sich diese Personen jetzt weigern, die vorübergehende Unterbringung von Tieren auf dem Grundstück des Antragstellers zu bestätigen, geht dies zu seinen Lasten. Es ist in ständiger Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts anerkannt, dass grundsätzlich derjenige, der sich auf Bestandsschutz beruft, die volle Beweislast für das Vorliegen der den Bestandsschutz begründenden Tatsachen trägt (vgl. Grosse-Suchsdorf/Lindorf/Schmaltz/Wiechert, NBauO. 7. Auflage, § 99, Rdnr. 26 m. w. N.). Nach dem eigenen Vorbringen des Antragstellers wird es unmöglich für ihn sein, diesen Beweis zu führen. Bei der im hier anhängigen Eilrechtsschutzverfahren anzustellenden Prognose über die möglichen Erfolgsaussichten des eingelegten Rechtsmittels in der Hauptsache ist dieser Umstand von der Kammer bei der vorzunehmenden Abwägung der gegenseitigen Interessen des Antragstellers und der Beigeladenen zu berücksichtigen. Da sich schon jetzt abzeichnet, dass der Antragsteller auch im Hauptsacheverfahren den Beweis für die Fortdauer des Bestandsschutzes nicht wird führen können und der eingelegte Rechtsbehelf deshalb aller Voraussicht nach ohne Erfolg bleiben wird, ist das Interesse der Beigeladenen an der sofortigen Ausnutzung der ihr erteilten Baugenehmigungen entsprechend der in § 212a BauGB zum Ausdruck gekommenen Wertentscheidung des Gesetzgebers höher zu bewerten, als das Interesse des Antragstellers zunächst die Hauptsacheentscheidung abzuwarten.

12

Die erst im Frühjahr 2002, d. h. nach Erteilung der angefochtenen Baugenehmigungen im Dezember 2001, wiederaufgenommene Rindviehhaltung rechtfertigt eine weitere Verzögerung des Vorhabens der Beigeladenen ebenso wenig wie die erst im selben Jahr an die westliche Grenze verlegte Dungplatte. Beide Maßnahmen sind offensichtlich vorgenommen worden, um das Vorhaben der Beigeladenen (nachträglich) zu verhindern. Insoweit ist vielmehr darauf hinzuweisen, dass der Antragsteller nach Erteilung der angefochtenen Baugenehmigungen gemäß dem gegenseitigen Gebot der Rücksichtnahme nunmehr seinerseits auf das bereits genehmigte Wohnbauvorhaben jedenfalls in dem Maß Rücksicht zu nehmen hat, wie dieses im Außenbereich liegende Vorhaben Rücksichtnahme gegenüber landwirtschaftlicher Nutzung überhaupt verlangen kann. Dies muss der Antragsteller auch bei zukünftigen Änderungen der Struktur seines Betriebes oder Betriebserweiterungen berücksichtigen.

13

Die heranrückende Wohnbebauung wird nach überschlägiger Prüfung im Eilverfahren auch nicht ein Abschneiden der einzigen Verkehrsader Betriebes des Antragstellers zur Folge haben. Es ist nicht ersichtlich, dass die von einem Betrieb wie dem des Antragstellers ausgehenden Emissionen durch landwirtschaftliche Maschinen, insbesondere das Ein- und Ausfahren, das während der Erntezeit auch in späten Abend- und frühen Morgenstunden erfolgen kann, über das hinausgehen wird, was einer Wohnnutzung im Außenbereich an Immissionen dieser Art grundsätzlich zuzumuten ist. Etwas anderes gilt, soweit der Antragsteller nunmehr vorträgt, die Dung- und „Allzweckplatte“ solle auch der Lagerung von Baumaterial und anderen Materialien sowie dem Abstellen von Maschinen dienen. Hier erscheint schon der betriebliche Nutzen einer solchen Vorgehensweise zweifelhaft, wenn der Antragsteller beabsichtigt, die angeblich so wichtige einzige Verkehrsader des Grundstücks durch abgestellte Maschinen oder Baumaterialien teilweise zu versperren und den Betriebsablauf so zusätzlich zu erschweren, zumal hierfür bis zur Erteilung der angefochtenen Baugenehmigungen offensichtlich ein Bedürfnis nicht bestand und an anderer Stelle auf dem Grundstück ausreichend Platz vorhanden war. Hinsichtlich einer nachträglich begonnenen Verlagerung besonders lärmintensiver oder sonstiger immissionsträchtiger Tätigkeiten auf die Grundstückszufahrt gelten die oben zum Gebot gegenseitiger Rücksichtnahme gemachten Ausführungen. Da diese Verlagerung betrieblicher Abläufe zum Zeitpunkt der Erteilung der Baugenehmigungen nicht erkennbar und vorhersehbar war, kann hierdurch eine unzulässige Beschränkung der Entwicklungsmöglichkeiten des landwirtschaftlichen Betriebes nicht begründet werden.