Verwaltungsgericht Braunschweig
Urt. v. 03.03.2005, Az.: 6 A 310/04
Abschiebungshindernis; Atemwegerkrankung; Ausweichen; Bronchitis; inländische Fluchtalternative; Kosovo; Krankheit; Serbien und Montenegro; Widerruf
Bibliographie
- Gericht
- VG Braunschweig
- Datum
- 03.03.2005
- Aktenzeichen
- 6 A 310/04
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2005, 50623
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- [keine Angabe]
Rechtsgrundlagen
- § 77 Abs 1 S 1 AsylVfG
- § 60 Abs 7 AufenthG
- § 60a Abs 1 S 1 AufenthG
- § 70 Abs 3 AufenthG
- § 53 Abs 6 S 1 AuslG
Amtlicher Leitsatz
Leitsatz
1. Einzelfall eines krankheitsbedingten Abschiebungshindernisses für einen mittellosen Roma aus dem Kosovo, für den die notwendigen entzündungshemmenden Medikamente gegen Atemwegserkrankungen unerschwinglich sind.
2. Atemwegserkrankte aus dem Kosovo bilden keine Gruppe im Sinne von §§ 60 Abs. 7 Satz 2, 60a Abs. 1 Satz 1 AufenthG.
3. Zur Unzumutbarkeit eines Ausweichens nach Serbien.
Tenor:
Der Bescheid des Bundesamtes vom 01.07.2004 wird aufgehoben.
Die Beklagte trägt die Kosten des Verfahrens. Gerichtskosten (Gebühren und Auslagen) werden nicht erhoben.
Das Urteil ist hinsichtlich der Kosten vorläufig vollstreckbar.
Die Beklagte kann eine vorläufige Vollstreckung durch den Kläger gegen Sicherheitsleistung in Höhe des festgesetzten Vollstreckungsbetrages abwenden, sofern nicht der Kläger vor der Vollstreckung Sicherheit in derselben Höhe leistet.
Tatbestand:
Der Kläger ist serbisch-montenegrinischer Staatsangehöriger aus der Gemeinde B. im Kosovo, der der Volksgruppe der Roma angehört. Er reiste im Dezember 1988 auf dem Landweg in die Bundesrepublik Deutschland ein. Seine im Anschluss daran betriebenen Asylverfahren blieben erfolglos. Nach entsprechender Verpflichtung durch das Urteil des erkennenden Gerichts vom 19.02.2003 (Az.: 6 A 436/02) stellte das Bundesamt mit Bescheid vom 26.03.2003 das Vorliegen eines Abschiebungshindernisses nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG wegen seiner chronischen Atemwegserkrankung fest.
Mit Verfügung vom 28.10.2003 leitete die Beklagte ein Widerrufsverfahren nach § 73 AsylVfG ein und gab dem Kläger unter dem 13.04.2003 Gelegenheit, hierzu innerhalb eines Monats Stellung zu nehmen. Mit Schreiben vom 10.05.2004 legte der Kläger daraufhin eine Kopie des Attestes vom 30.04.2004 vor, auf die Bezug genommen wird.
Mit Bescheid vom 01.07.2004 widerrief das Bundesamt die im Bescheid vom 26.03.2003 getroffene Feststellung zu § 53 Abs. 6 AuslG.
Gegen den am 05.07.2004 zugestellten Bescheid hat der Kläger am 07.07.2004 Klage erhoben. Zur Begründung macht er im Wesentlichen geltend: Es sei nach wie vor behandlungsbedürftig, könne die lebenserhaltende Behandlung im Kosovo jedoch nicht bekommen. Dazu legt er Bescheinigungen verschiedener Ärzte (Dr. med. C. vom 26. und 29.07.2004, Bl. 22 -24; Dr. D. vom 19.08.2004, Bl. 26 GA, und Dr. med. E. vom 03.02.2005, Bl. 42 GA, und vom 02.03.2005, Bl. 48 GA) vor, auf die verwiesen wird.
Der Kläger beantragt,
den Bescheid des Bundesamtes vom 01.07.2004 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Wegen der weiteren Einzelheiten des Sachverhalts und des Vorbringens der Beteiligten im Übrigen wird auf den Inhalt der Gerichtsakten, auf die Verwaltungsvorgänge der Beklagten sowie auf die in das Verfahren eingeführten Erkenntnismittel verwiesen. Diese Unterlagen waren ihrem wesentlichen Inhalt nach Gegenstand der mündlichen Verhandlung.
Entscheidungsgründe
Die zulässige Klage, über die das Gericht trotz Ausbleibens von Beteiligten verhandeln und entscheiden konnte, da es in der ordnungsgemäßen Ladung auf diese Möglichkeit hingewiesen hat (§ 102 Abs. 2 VwGO), ist begründet. Der angefochtene Bescheid ist rechtswidrig und verletzt den Kläger in seinen Rechten, da er verlangen kann, von einem rechtswidrigen Verwaltungsakt, der seine Rechtsposition schmälert, verschont zu bleiben. Die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Widerruf liegen nicht vor, weil auf Grund der chronischen Atemwegserkrankung des Klägers (weiterhin) ein Abschiebungshindernis besteht.
Der mit dem angefochtenen Bescheid ausgesprochene Widerruf der Feststellungen zu § 53 Abs. 6 AuslG, der zum Zeitpunkt seines Erlasses auf § 73 Abs. 3 AsylVfG a. F. gestützt worden ist, hält der nach § 77 Abs. 1 Satz 1 AsylVfG gebotenen Überprüfung anhand der inhaltsgleichen Vorschrift des § 73 Abs. 3 AsylVfG in der Fassung, die diese Bestimmung durch das insoweit am 01.01.2005 in Kraft getretene Zuwanderungsgesetz vom 30.07.2004 (BGBl. S. 1950) erhalten hat, nicht stand.
Nach der alten wie nach der neuen Gesetzesfassung ist eine Entscheidung, die wegen einer individuellen konkreten Gefährdung des betroffenen Ausländers nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG a. F. bzw. nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG getroffen worden ist, zu widerrufen, wenn die Voraussetzungen nicht mehr vorliegen. Das ist hier jedoch nicht der Fall.
Die Gefahr, dass sich eine Krankheit eines ausreisepflichtigen Ausländers in seinem Heimatstaat verschlimmert, weil die Behandlungsmöglichkeiten dort unzureichend sind, kann ebenso wie nach § 53 Abs. 6 Satz 1 AuslG a.F. auch ein Abschiebungshindernis nach § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG begründen, wenn die befürchtete Verschlimmerung der gesundheitlichen Beeinträchtigung als Folge fehlender Behandlungsmöglichkeit im Zielland der Abschiebung eintritt. Dies setzt voraus, dass die dem Ausländer drohende Gesundheitsbeeinträchtigung von erheblicher Intensität ist und (bei der in diesem Fall, bei feststehendem Abschiebungsschutz hypothetisch zu erwägenden Ausreise) konkret zu erwarten ist, dass die Verschlechterung des Gesundheitszustands alsbald nach der Rückkehr in das Heimatland wegen unzureichender Möglichkeit zur Behandlung der Leiden eintritt (vgl. BVerwG, Urt. vom 25.11.1997 - 9 C 58.96 - BVerwGE 105, 383; Urt. vom 21.09.1999 - 9 C 8.99 - NVwZ 2000, 206; Nds. OVG, Urt. vom 19.10.2001 - 8 L 2824/99). Eine zielstaatsbezogene Gefahr für Leib und Leben besteht dabei auch dann, wenn die notwendige Behandlung oder Medikation zwar allgemein zur Verfügung steht, dem betroffenen Ausländer individuell jedoch aus finanziellen oder sonstigen Gründen nicht zugänglich ist (BVerwG, Urt. vom 29.10.2002 - 1 C 1.02 - DVBl. 2003, 463; Hessischer VGH, Urteil vom 24.06. 2003 - 7 UE 3606/99.A, AuAS 2004, 20 ff). So verhält es sich im Falle des Klägers.
Nach dem gegenwärtigen Sachstand muss weiterhin angenommen werden, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in das Kosovo eine erhebliche krankheitsbedingte individuelle Gefahr droht.
Allerdings folgt dies entgegen der Auffassung des Klägers nicht bereits aus der Tatsache, dass er an einer insulinpflichtigen Diabetes-Erkrankung (Diabetes mellitus II) leidet. Nach der gegenwärtigen Erkenntnislage kann angenommen werden, dass auch diese Erkrankung im Kosovo hinreichend behandelbar und für den Kläger kostenfrei ist. Dies ergibt sich aus den im angefochtenen Bescheid einschlägig zitierten Auskünften, auf die gemäß § 77 Abs. 2 AsylVfG verwiesen wird, aus den von der Beklagten mit Schriftsatz vom 10.09.2004 eingeführten Auskünften sowie u.a. aus den in der mündlichen Verhandlung erörterten Auskünften des Deutschen Verbindungsbüros im Kosovo vom 21.10.2004 an die Stadt Marl und vom 07.10.2004 an den Kreis Gütersloh (vgl. auch Nds. OVG, Beschl. vom 13.08.2004 - 13 LB 212/04; Beschl. vom 16.12.2004 - 8 LA 262/04). Im vorliegenden Zusammenhang ist entscheidend, dass zumindest die Versorgung mit dem Insulinpräparat „Insulin mixtard“ in öffentlichen Apotheken kostenfrei ist (Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros im Kosovo vom 13.05.2004 - zitiert nach Asylis-Web, SER00056249). Dass der Kläger dieses Präparat nicht nehmen könnte, ergibt sich aus den vorgelegten Attesten nicht. Dies braucht hier auch nicht vertieft zu werden, weil ein anderer Grund vorliegt, dessentwegen die tatbestandlichen Voraussetzungen des § 60 Abs. 7 Satz 1 AufenthG erfüllt sind.
Nach den vorliegenden ärztlichen Unterlagen, insbesondere den Bescheinigungen des Arztes für Innere Medizin, Lungen und Bronchialheilkunde und Allergologie Dr. med. C. leidet der Kläger jedoch (weiterhin) an einer chronischen obstruktiven Bronchitis, die eine dauerhafte medikamentöse, die Bronchien erweiternde und inhalativ-antientzündliche Therapie erfordert, damit nicht alsbald erhebliche Verschlechterungen in der Sauerstoffversorgung eintreten, die sogar lebensbedrohlich werden können (vgl. insbes. die Bescheinigung vom 29.07.2004, Bl. 22 GA).
Auch wenn nach den aus einer Vielzahl von Verfahren gewonnenen Erkenntnissen des Gerichts nicht wenige Bewohner des Kosovo an einer Atemwegserkrankung leiden, besteht nach der Auffassung des Gerichts kein Anlass anzunehmen, dass diese Erkrankung die Annahme einer Bevölkerungsgruppe im Sinne des § 60 Abs. 7 Satz 2 AufenthG begründet, deren Abschiebungsschutz grundsätzlich einer politischen Leitentscheidung nach § 60 a Abs. 1 AufenthG überantwortet wäre. Dazu sind die bei dem Krankheitsbild, das verschiedene Ausprägungen und Schwergrade kennt, veranlassten Behandlungsmaßnahmen zu unterschiedlich.
Zwar ist nunmehr gegenüber der Entscheidung des erkennenden Gerichts vom 19.02.2003 die Behandelbarkeit von Erkrankungen der Atemwege, insbesondere auch die Versorgung mit einschlägigen Medikamenten im Kosovo deutlich verbessert. Indessen ist nach wie vor nicht sichergestellt, dass dem Kläger bei einer Rückkehr in das Kosovo die notwendigen Medikamente auch tatsächlich zur Verfügung stünden. Denn nach der Auskunftslage (vgl. etwa Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros im Kosovo vom 12.10.2004 an das VG Düsseldorf) werden die meisten der zur Behandlung von Atemwegserkrankungen verfügbaren Medikamente, namentlich die vom Kläger benötigten kortisonhaltigen Medikamente nicht kostenfrei abgegeben.
Das Medikament Budenosid, das den namensgleichen Wirkstoff enthält, mit dem der Kläger auch in Deutschland behandelt worden ist (und bei nicht unwahrscheinlicher erneuter Verschlechterung seiner Lungenfunktion wird behandelt werden müssen), kostet nach der genannten Auskunft 40 Euro pro „Handelspack“ (Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros im Kosovo vom 12.10.2004 an das VG Düsseldorf), das Medikament Salbutamol mit dem gleichnamigen Wirkstoff kostet 2 bis 4 Euro (Auskunft des Deutschen Verbindungsbüros im Kosovo vom 12.10.2004 an das VG Düsseldorf). Für 40 Tabletten (zu 400 mg) mit dem Wirkstoff Theophyllin müsste der Kläger im Kosovo 3,50 Euro aufbringen (Auskunft des deutschen Verbindungsbüros vom 04.06.2004, SER00056618).
Selbst wenn schließlich mit Blick auf die in der mündlichen Verhandlung vorgelegte Bescheinigung vom 02.03.2004 (Bl. 48 GA) angenommen wird, dass nicht alle der genannten Präparate stets erforderlich sind bzw. hinreichend wirksame, aber kostengünstigere Ersatzpräparate verfügbar sind, verbliebe nach der Überzeugung des Gerichts eine fortdauernde finanzielle Belastung in nicht zu vernachlässigender Höhe, die zu tragen der Kläger wahrscheinlich nicht in der Lage wäre.
Es ist weder vorgetragen noch sonst ersichtlich, dass der des Lesens und Schreibens unkundige und mehrfach erkrankte Kläger, der nach einer Bauchverletzung allenfalls eingeschränkt arbeitsfähig ist, nach glaubhaftem eigenen Vorbringen insbesondere schwere Sachen nicht heben könnte, in dem durch hohe Arbeitslosigkeit geprägten Kosovo über ein Erwerbseinkommen oder über sonstige ausreichende finanzielle Mittel wird verfügen können, um sich die von ihm benötigten (verschiedenen) Medikamente im Kosovo zu beschaffen und die jedenfalls für seine Atemwegserkrankung anfallenden Kosten der Arztbesuche (Zuzahlungen) aufzubringen.
Die im Kosovo gewährten Sozialhilfeleistungen reichen dafür nicht aus. Sie bewegen sich auf sehr niedrigem Niveau und erreichen für eine Familie (abhängig von der Zahl der Personen) höchstens 75 Euro monatlich. Nach Auskunft des Auswärtigen Amtes (Lagebericht vom 04.11.2004) kann der Lebensunterhalt aus Sozialhilfeleistungen kaum bestritten werden.
Ausreichende finanzielle Unterstützung von Verwandten hat der Kläger nach glaubhaftem eigenem Vorbringen, das sein in der mündlichen Verhandlung dazu befragter Bruder Qamil B. bestätigt hat, nicht zu erwarten. Die in Deutschland lebende Schwester ist noch Asylbewerberin und seine Brüder sind entweder arbeitslos oder verfügen allenfalls über ein Einkommen unterhalb der Pfändungsfreigrenze, von dem ausreichende Abzweigungen zugunsten der insgesamt 8-köpfigen Familie nicht erwartet werden können.
Ob die für den Kläger lebenslang erforderliche Medikation aus öffentlichen Kassen der Bundesrepublik Deutschland oder des Landes Niedersachsen sichergestellt werden würde, wenn er tatsächlich in sein Heimatland zurück müsste, kann derzeit nicht festgestellt werden. Das Gericht sieht keinen Anlass, diesbezügliche Ermittlungen anzustrengen, da gegenwärtig davon auszugehen ist, dass der Kläger als Roma nicht abgeschoben werden darf. Insbesondere auch die Ausländerbehörde wird deshalb keinen Anlass sehen, Kostenübernahmeerklärungen für eine gar nicht absehbare Zukunft abzugeben.
Der Kläger könnte der ihm drohenden Gefahr schließlich auch nicht durch ein Ausweichen in das Kerngebiet von Serbien entgehen. Kostenlos können Bürger aus dem Kosovo in den übrigen Landesteilen von Serbien und Montenegro nur dann behandelt werden, wenn sie bei einer Kommunalbehörde registriert oder als Ausgesiedelte, Flüchtlinge oder Vertriebene anerkannt sind; anderenfalls müssen sie die Kosten der medizinischen Versorgung selbst tragen (Deutsche Botschaft Belgrad, Auskunft vom 12.08.2003 an das VG Aachen und vom 22.05.2003 an den Hessischen VGH). Es gibt keine hinreichenden Anhaltspunkte dafür, dass der Kläger einen solchen Status derart zeitnah erreichen könnte, dass die in seinem Fall schon wegen der Diabetes-Erkrankung gebotenen engmaschige Behandlung und Medikation sichergestellt wäre.
Zwar besteht für serbische Staatsangehörige, wie den Kläger, grundsätzlich Niederlassungsfreiheit auf dem gesamten Territorium der Republik Serbien. In der Praxis ist dieser Anspruch jedoch selbst nach der durch diplomatische Rücksichtnahmen geprägten Formulierung des Auswärtigen Amtes „nicht immer problemlos durchsetzbar“ (Auskunft vom 08.02.2005 an das VG Bremen). Nicht nur albanische Volkszugehörige, sondern auch Angehörige anderer ethnischer Minderheiten müssen „mit erheblichem Widerstand der zuständigen Kommunalbehörden rechnen, der im Einzelfall nur durch Beschreitung des Rechtswegs überwunden werden kann“. Dies soll selbst für mittellose Serben gelten. Daneben ist die in der Vergangenheit wohl großzügiger gehandhabte Registrierung als aus dem Kosovo stammender „intern Vertriebener“ für die Personen ausgeschlossen worden, die nicht unmittelbar aus dem Kosovo umsiedeln, sondern - wie der Kläger - aus Drittstaaten zurückkehren (Auswärtiges Amt, a. a. O.).
Die Kostenentscheidung beruht auf den §§ 154 Abs. 1 VwGO, 83b AsylVfG. Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit folgt aus den §§ 167 VwGO, 708 Nr. 11, 711 ZPO.