Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 15.12.2011, Az.: 3 K 155/11
Anspruch auf Kindergeld für in Polen lebende Kinder
Bibliographie
- Gericht
- FG Niedersachsen
- Datum
- 15.12.2011
- Aktenzeichen
- 3 K 155/11
- Entscheidungsform
- Urteil
- Referenz
- WKRS 2011, 33707
- Entscheidungsname
- [keine Angabe]
- ECLI
- ECLI:DE:FGNI:2011:1215.3K155.11.0A
Rechtsgrundlagen
- § 62 EStG
- § 63 EStG
Kindergeld ab August 2010
Kindergeld für Kinder in Polen, wenn die Kindesmutter in Polen wegen Überschreitung der dortigen Einkommensgrenze keine Familienleistungen bezieht
Tatbestand
Streitig ist die Frage, ob dem Kläger Kindergeld für seine in Polen lebenden Kinder zusteht.
Der Kläger lebt in Braunschweig. Er ist weder erwerbstätig, noch bezieht er Rente. Der Kläger ist Vater der am 22. April 1999 geborenen Zwillinge P und K. Mutter der Kinder ist die in Polen lebende Frau S. Die für die Zahlung von Familienleistungen in Polen zuständige Dienststelle hat mit Schreiben vom 11. August 2009 mitgeteilt, dass Frau S dort keinen Kindergeldantrag gestellt hat. Frau S hat mit Schreiben vom 31. August 2009 erklärt, dass sie nicht am Erhalt von Familienleistungen in Deutschland für ihre Kinder interessiert sei. Sie sei polnische Staatsbürgerin und stelle klar, dass sie nicht verpflichtet sei, ausländischen Institutionen irgendwelche Unterlagen zur Verfügung zu stellen. Aufgrund der Weigerung von Frau S zur Aufklärung des Sachverhalts beizutragen ist nicht bekannt, ob sie im streitbefangenen Zeitraum erwerbstätig war und ob sie bei entsprechender Antragstellung für die beiden Kinder P und K Kindergeld erhalten würde.
Der Kläger ist weiterhin Vater des Sohnes F, der in der Slowakei lebt. Das Kindergeld für dieses Kinder bildet den Gegenstand des Klageverfahrens 3 K 154/11.
Der Beklagte hob mit Bescheid vom 13. Juli 2010 das dem Kläger zuvor gewährte Kindergeld für K und P mit Wirkung ab August 2010 auf, weil seiner Ansicht nach die Kindesmutter den vorrangigen Anspruch habe. Der dagegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg.
Der Kläger vertritt die Rechtsauffassung, dass ihm das Kindergeld für K und P zustehe. Der Kläger sei der einzige Anspruchsberechtigte nach deutschem Recht, weil nur er einen Wohnsitz und gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland habe, nicht aber die Kindesmutter.§ 64 EStG komme deshalb nicht zur Anwendung, weil er nur den Fall betreffe, dass zwei Personen nach deutschem Recht Ansprüche auf Kindergeld hätten. Die EU-Verordnungen Nr. 883/2004 und Nr. 987/2009 würden den Kreis der Anspruchsberechtigten nicht erweitern.
Der Kläger beruft sich auf Art. 7 der EU-Verordnung Nr. 883/2004, wonach Geldleistungen nicht aufgrund der Tatsache entzogen werden dürften, dass Familienangehörige in einem anderen als dem zur Zahlung verpflichteten Staat leben würden. Diese Bestimmung habe der Beklagte missachtet. Nach Art. 11 Abs. 3 e) der EU-Verordnung Nr. 883/2004 sei auf den Kläger ausschließlich deutsches Recht anwendbar. Aus Art. 67 der EU-Verordnung Nr. 883/2004 ergebe sich, dass dem Kläger Kindergeldansprüche auch für in einem anderen EU-Mitgliedsland lebende Familienangehörige zustehen würden.
Zwar würde nach der Prioritätsregel in Art. 68 Abs. 1 b) iii) EU-Verordnung Nr. 883/2004 ein vorrangiger Anspruch im Wohnsitzland des Kindes bestehen. Nach Art. 68 Abs. 2 sei jedoch in Höhe der Differenz zum Kindergeldanspruch im anderen Mitgliedsland Kindergeld zu gewähren. Dies sei hier einschlägig. Die Einschränkung in Art. 68 Abs. 2 Satz 3 greife nicht, weil es keine den Leistungsanspruch ausschließende deutsche Rechtsvorschrift gebe.
Auch Art. 60 der EU-Verordnung Nr. 987/2009 stehe dem Anspruch des Klägers nicht entgegen, weil dort geregelt sei, dass dann, wenn ein Elternteil einen Anspruch nicht geltend mache, dann die Behörde den Antrag des anderen Elternteils berücksichtige. Da hier seine geschiedene Frau keine Kindergeldansprüche in Deutschland geltend gemacht habe, sei sein Anspruch positiv zu bescheiden.
Die Entscheidungen des EuGH, auf die sich der Beklagte berufe, seien nicht einschlägig, weil sie einerseits keine Kindergeldleistungen, sondern sozialrechtliche Leistungsansprüche des Ehegatten eines Arbeitnehmers zum Gegenstand hätten und sich zudem auf die inzwischen außer Kraft getretenen EU-Verordnungen Nr. 1408/71 bzw. 574/72 beziehen würden.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
den Aufhebungsbescheid vom 13. Juli 2010 und die Einspruchsentscheidung vom 16. März 2011 aufzuheben.
Die Beklagte beantragt,
die Klage abzuweisen.
Der Beklagte ist der Meinung, dass das Kindergeld für P und K nach der EU-Verordnung Nr. 883/2004 und der zugehörigen Durchführungsverordnung Nr. 987/2009 nicht dem Kläger, sondern der Kindesmutter zustehe.
Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 EU-Verordnung Nr. 987/2009 sei bei der Anwendung der Art. 67 und 68 der EU-Verordnung Nr. 883/2004 die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle Familienangehörigen unter die Rechtsvorschriften des zuständigen Staates fallen und dort wohnen. Dementsprechend seien die nationalen Vorschriften so anzuwenden, als lebte die Familie insgesamt in Deutschland. Nach § 64 EStG stehe das Kindergeld demjenigen Elternteil zu, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen habe. Das sei hier die Kindesmutter. Der Anspruch des Klägers hingegen sei nach § 63 Abs. 1 Satz 4 EStG in Verbindung mit § 2 Abs. 4 BKGG ausgeschlossen. Der Beklagte verweist auf die Entscheidung des EuGH vom 26. November 2009 C-363/08 "Slanina".
Die Beteiligten haben mit Schriftsätzen vom 15. Mai 2011 (Kläger) und 17. Juni 2011 (Beklagter) auf mündliche Verhandlung verzichtet.
Entscheidungsgründe
Die Klage ist begründet.
Dem Kläger steht Kindergeld für seine Kinder P und K zu, weil die Kindesmutter keinen konkurrierenden Kindergeldanspruch in Polen hat.
Bei Kindergeldfällen, die das Kindergeldrecht mehrerer EU-Mitgliedstaaten betreffen, sind die Ansprüche in folgender Reihenfolge zu prüfen:
- (1)
Besteht ein Kindergeldanspruch nach nationalem deutschen Recht ?
- (2)
Besteht ein Anspruch auf Familienleistungen nach dem Recht eines weiteren EU-Mitgliedstaates?
Nur wenn die Fragen (1) und (2) positiv beantwortet werden, kommen die einschlägigen EU-Verordnungen zur Anwendung, anhand deren die Anspruchskonkurrenz zu lösen ist. Zu prüfen ist in diesem Zusammenhang:
- (3)
Welcher der beiden Ansprüche auf Familienleistungen ist nach den überstaatlichen Konkurrenzregeln vorrangig?
- (4)
Hat das EU-Mitgliedsland, dessen Recht nachrangig ist, Kindergeld in Höhe der Differenz zwischen der Familienleistung des anderen Mitgliedslandes und dem nach eigenem Recht zu gewährenden Kindergeld zu leisten?
I.
Im Streitfall kommen die europarechtlichen Konkurrenzvorschriften nicht zur Anwendung, weil bereits keine Anspruchskonkurrenz vorliegt.
(1) Der Kläger hat in Deutschland einen Anspruch auf Kindergeld gem. §§ 62, 63 EStG. Er hat seinen Wohnsitz in Deutschland, so dass er nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG grundsätzlich anspruchsberechtigt ist. Gem. § 63 Abs. 1 Satz 3 EStG werden Kinder, die weder einen Wohnsitz, noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt im Inland oder einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder einem Staat, auf den das Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum Anwendung findet, beim Kindergeld nicht berücksichtigt. Daraus folgt im Umkehrschluss, dass Kinder in einem Mitgliedsland der Europäischen Union mit den im Inland lebenden Kindern gleichgestellt werden. § 64 Abs. 2 EStG steht, worauf der Kläger zu Recht hinweist, einem Kindergeldanspruch nach deutschem Recht nicht entgegen, weil diese Norm voraussetzt, dass nach deutschem Recht mehrere Personen berechtigt sind. Die Kindesmutter hat jedoch keinen Anspruch nach deutschem Recht, weil sie im Inland weder einen Wohnsitz, noch ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat.
(2) Die Kindesmutter erhält demgegenüber in Polen kein Kindergeld. Die für die Gewährung von Familienleistungen in Polen zuständige Behörde hat mitgeteilt, dass an Frau S kein Kindergeld gezahlt wird. Geht es um die Anwendung innerstaatlicher Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats der Europäischen Union, ist die negative oder positive Entscheidung einer ausländischen Behörde für die deutschen Gerichte grundsätzlich bindend, d.h. der Verwaltungsakt der ausländischen Behörde, das ein Anspruch auf Familienleistungen besteht, ist unabhängig davon zu beachten, ob die dort zugrunde gelegte Rechtsauffassung mit dem materiellen Recht des betreffenden Mitgliedstaats im Einklang steht (FG München, Urteil vom 4. Mai 2011 9 K 2928/10, StE 2011, 516; FG Münster, Urteil vom 18. Oktober 2011 15 K 2883/08 Kg, [...]; Herrmann/Heuer/Raupach-Wendl, EStGKStG, § 65 EStG Anm. 6; Blümich-Treiber, EStG, § 65 Rz. 11). Damit steht fest, dass in Polen kein Kindergeld gezahlt wird. Im Übrigen hat auch Frau S selbst erklärt, dass sie keine Ansprüche auf Familienleistungen geltend mache.
(3) Das Gericht geht davon aus, dass Frau S erwerbstätig ist und ihr aufgrund der Überschreitung der Einkunftsgrenzen in Polen kein Kindergeld zusteht. Entsprechende Angaben finden sich für die Vergangenheit in der Kindergeldakte (Bl. 45, 71, 96, 98 KiG-Akte); der Kläger hat zeitnah zum Streitzeitraum den Arbeitgeber von Frau S benannt (Bl. 149 KiG-Akte). Da Frau S ausdrücklich kein Kindergeld in Deutschland begehrt, läge es nahe, dass sie in Polen einen Kindergeldantrag stellen würde, wenn sie dort Anspruch auf Familienleistungen hätte. Es gibt jedenfalls nach Aktenlage keinen Anhaltspunkt dafür, dass sich an den persönlichen Verhältnissen von Frau S im streitbefangenen Zeitraum etwas geändert hat; auch der Beklagte geht davon aus, dass die Verweigerung jeglicher Auskünfte durch Frau S nichts daran ändert, dass ihr in Polen kein Kindergeld zusteht (Bl. 141 KiG-Akte). Im Übrigen hat der EuGH, Urteil vom 14. Oktober 2010 C-16/09 "Schwemmer", ASR 2011, 38 entschieden, dass dem Kindergeld beanspruchenden Elternteil die fehlende Antragstellung durch den anderen Elternteil in dem anderen Staat nicht entgegengehalten werden kann.
Im Ergebnis liegen im Streitfall keine konkurrierenden Kindergeldansprüche in zwei EU-Mitgliedsländern vor, für die der Anspruchsvorrang anhand der EU-Verordnung Nr. 883/2004 zu klären wäre.
II.
Entgegen der Rechtsauffassung des Beklagten steht Frau S nicht gem. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 EU-Verordnung Nr. 987/2009 in Verbindung mit § 1 BKGG ein den Kindergeldanspruch des Klägers verdrängender Kindergeldanspruch in Deutschland zu. NachArt. 60 Abs. 2 Satz 2 EU-Verordnung Nr. 987/2009 ist bei der Anwendung von Art. 68 der EU-Verordnung Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Allerdings begründet Art. 60 Abs. 1 EU-Verordnung Nr. 987/2009 keine zusätzlichen materiell-rechtlichen Kindergeldansprüche, sondern enthält wie die gesamte EU-Verordnung Nr. 987/2009 - "Verordnung zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung Nr. 883/2004" - lediglich verfahrensrechtliche Regelungen zur Umsetzung der EU-Verordnung Nr. 883/2004. Art. 60 Abs. 1 Satz 3 EU-Verordnung Nr. 987/2009 lässt allein zu, dass der nachrangig berechtigte Elternteil an Stelle des vorrangig berechtigten Elternteils dessen Kindergeldansprüche geltend macht. Die Regelung setzt aber das Bestehen von Kindergeldansprüchen des vorrangig berechtigten Elternteiles voraus. Im Streitfall hat die Kindesmutter jedoch keine Kindergeldansprüche in Deutschland, weil sie hierzulande nicht über einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Sinne des § 62 Abs. 1 EStG verfügt.
Darüber hinaus hätte der Kläger selbst dann einen Kindergeldanspruch für seine Kinder K und P, wenn die Familienbetrachtung nach Art. 60 Abs. 2 Satz 2 EU-Verordnung Nr. 987/2009 tatsächlich dem Grunde nach einen Kindergeldanspruch der Kindesmutter begründen würde. Denn der Beklagte hat in diesem Zusammenhang die weitere Regelung in Art. 60 Abs. 2 Satz 3 EU-Verordnung Nr. 987/2009 nicht beachtet. Danach berücksichtigt der zuständige Träger des Mitgliedsstaats, dessen Rechtsvorschriften anzuwenden sind, wenn die Person, die berechtigt ist, Anspruch auf die Leistungen zu erheben, dieses Recht nicht wahrnimmt, einen Antrag auf Familienleistungen, der von dem anderen Elternteil gestellt wird. Art. 60 Abs. 2 Satz 2 EU-Verordnung Nr. 987/2009 verdrängt nach der ergänzenden Regelung des Art. 60 Abs. 2 Satz 3 allenfalls dann den Anspruch des anderen Elternteils, wenn der vorrangig berechtigte tatsächlich einen Kindergeldanspruch geltend macht. Würde Frau S tatsächlich einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld haben, würde dieser dem Kindergeldanspruch des Klägers deshalb nicht entgegenstehen, weil Frau S ausdrücklich erklärt hat, keine Familienleistungen für ihre Kinder beantragen zu wollen.
Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 FGO.
Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 151 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 ZPO.