Finanzgericht Niedersachsen
Urt. v. 08.12.2011, Az.: 16 K 291/11

Kindergeld eines in Deutschland wohnenden und als Arbeitnehmer beschäftigten polnischen Staatsbürgers für ein in Polen im Haushalt der geschiedenen Ehefrau untergebrachtes Kind

Bibliographie

Gericht
FG Niedersachsen
Datum
08.12.2011
Aktenzeichen
16 K 291/11
Entscheidungsform
Urteil
Referenz
WKRS 2011, 30800
Entscheidungsname
[keine Angabe]
ECLI
ECLI:DE:FGNI:2011:1208.16K291.11.0A

Verfahrensgang

nachfolgend
BFH - 28.04.2016 - AZ: III R 4/12

Fundstelle

  • EFG 2012, 849-851

Kindergeld eines in Deutschland wohnenden und als Arbeitnehmer beschäftigten polnischen Staatsbürgers für ein in Polen im Haushalt der geschiedenen Ehefrau untergebrachtes Kind

Tatbestand

1

Der Kläger ist der Vater des am 28. Juni 1995 geborenen Kindes Patryk Z. Er ist polnischer Staatsangehöriger. Seit 2005 hat er in Deutschland einen festen Wohnsitz und ist unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Er verfügt über eine unbefristete Bescheinigung gemäß § 5 Freizügigkeitsgesetz der Stadt D vom 22. Oktober 2008 und geht in Deutschland einer regelmäßigen sozialversicherungspflichtigen Tätigkeit nach.

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Das Kind Patryk lebt in Polen bei der Kindesmutter. Der Kläger ist von der Kindesmutter seit dem 19. Januar 2006 geschieden. Die Kindesmutter war nicht erwerbstätig. In Polen bestand für das Kind kein Rechtsanspruch auf Kindergeld. Es wurde auch kein Kindergeld gezahlt.

3

Mit Bescheid vom 9. März 2011 gewährte die Familienkasse dem Kläger Kindergeld für seinen Sohn Patryk ab Januar 2010. Gleichzeitig hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes gemäß § 70 Abs. 2 Einkommensteuergesetz (EStG) ab Mai 2010, ebenfalls mit Bescheid vom 9. März 2011 auf. Zur Begründung machte die Familienkasse geltend, dass die Kindesmutter das Kind in ihren Haushalt aufgenommen und deshalb vorrangigen Anspruch auf Kindergeld (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG) habe. Der dagegen eingelegte Einspruch war erfolglos. Hiergegen richtet sich die Klage.

4

Der Kläger ist der Auffassung, ihm stünde Kindergeld zu. Kindergeldberechtigter sei ausschließlich er, da er einen festen Wohnsitz im Inland habe. Die Voraussetzungen für eine Anspruchberechtigung der Kindesmutter lägen nicht vor, da sie weder einen festen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland habe. Ferner bleibe sein Kindergeldanspruch durch das europäische Recht gemäßArtikel 67 und 68 der EG-Verordnung 883/2004 i.V.m. Artikel 60 Abs. 1 Satz 2 DVO-EG 987/2009 unberührt. Es handele sich auch nicht um einen vergleichbaren Sachverhalt wie er dem Urteil des Europäischen Gerichtshof (EuGH) vom 26.11.2009 in der Rechtssache Slanina (C-363/08) zugrunde gelegen habe.

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Der Kläger beantragt sinngemäß,

den Bescheid über die Aufhebung der Kinderfestsetzung ab Mai 2010 für das Kind Patryk vom 9. März 2011 und die Einspruchsentscheidung vom 12. August 2011 aufzuheben.

6

Die Beklagte beantragt,

die Klage abzuweisen.

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Der Beklagte ist der Auffassung, dass die Kindesmutter vorrangig Berechtigte sei und beruft sich insofern auf seine ihn bindende Weisungslage (vgl. DA-EZV 214.7, 214. 2 Abs. 3 214.5). Dies ergebe sich aus § 1 BKGG und Artikel 67 und 68 der ab 1. Mai 2010 geltenden VO EG (883/2004) i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO EG (987/2009). Hiernach sei die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Staates fallen und dort wohnen. Der nach § 64 EStG vorrangig berechtigte Elternteil habe selbst dann den vorrangigen Anspruch auf das Kindergeld, wenn er nicht in Deutschland, sondern im EU-Ausland lebe. Da das Kind nicht im Haushalt des Klägers, sondern im Haushalt der Kindesmutter untergebracht sei, stehe ihm kein Kindergeld zu. Diese Rechtslage entspreche der ständigen Rechtsprechung des EuGH (Urteil vom 10. Oktober 1996 RS C-245/94 - Hoever/Zachow; Urteil vom 07.06.2005 RS C-543/03 - Dudel/Oberhollenzer sowie Urteil vom 07.07.2005, RS C-153/03 - Weide, verheiratete Schwarz -) sowie dem Urteil des EuGH in der Rechtssache C-363/08 - Slanina -.

Entscheidungsgründe

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Die Klage ist begründet. Der Kläger hat Anspruch auf Kindergeld für seinen Sohn Patryk ab Mai 2010. Die Festsetzung von Kindergeld gegenüber dem Kläger durfte nicht mit der Begründung aufgehoben werden, dass der in Polen lebenden Kindesmutter, in deren Haushalt Patryk aufgenommen ist, gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG ein vorrangiger Kindergeldanspruch zusteht.

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1.

Der Kläger unterliegt hinsichtlich des von ihm geltend gemachten Anspruchs auf Kindergeld den deutschen und nicht den polnischen Rechtsvorschriften. Dies folgt aus der seit dem 1. Mai 2010 geltenden VO (EG) Nr. 883/2004 (VO (EG) 883/2004), die die Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO (EWG) 1408/71) abgelöst hat.

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a)

Die VO (EG) Nr. 883/2004 ist auf den Kläger anwendbar. Der persönliche Geltungsbereich der VO (EG) 883/2004 ist gegeben (Art. 2 Abs. 1), da der Kläger in Deutschland wohnt, gleichzeitig die polnische Staatsangehörigkeit besitzt und es sich bei Polen um einen EU-Mitgliedstaat handelt. Ferner liegen die Voraussetzungen des sachlichen

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Geltungsbereichs der VO (EG) 883/2004 vor, da der Kläger einen Kindergeldanspruch geltend macht, bei dem es sich um eine Familienleistung im Sinne von Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO (EG) 883/2004 handelt (vgl. EuGH-Urteil vom 4. Mai 1999, C-262/96, Sürül, Slg 1999, I-02685, zur VO (EWG) 1408/71).

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b)

Gemäß Art. 11 Abs. 1 VO (EG) Nr. 883/2004 unterliegt der Kläger als Person, für die die VO (EG) Nr. 883/2004 gilt, den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Da der Kläger in Deutschland eine sozialversicherungspflichtige Beschäftigung ausübt, unterliegt er gemäß Art. 11 Abs. 3 Buchstabe a) VO (EG) Nr. 883/2004 den Rechtsvorschriften dieses Mitgliedstaats.

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2.

Die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch des Klägers für sein noch nicht 18 Jahre altes Kind Patryk liegen nach deutschem Kindergeldrecht für die Zeit ab Mai 2010 gemäß §§ 62 Abs. 1 Nr. 1, 63 Abs. 1 Nr. 1 i.V. mit§ 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG vor. Der Kläger hat im Inland seinen Wohnsitz und ist der leibliche Vater des minderjährigen Kindes Patryk, das in Polen und damit in einem Mitgliedstaat der europäischen Union seinen Wohnsitz hat (vgl.§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).

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3.

Die Prioritätsregeln nach Art. 68 der VO (EG) Nr. 883/2004 sind nicht anwendbar, da ein Anspruch auf Familienleistungen in Polen für das Kind Patryk nicht besteht und diese auch nicht gezahlt werden. Eine Anspruchskonkurrenz i.S. von Art. 68 Abs. 1 der VO (EG) Nr. 883/2004, wonach die Prioritätsregeln gelten, wenn für denselben Zeitraum und für dieselben Familienangehörigen Leistungen nach den Rechtsvorschriften mehrerer Mitgliedstaaten zu gewähren sind, besteht damit nicht.

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4.

Dem Kindergeldanspruch des Klägers steht die in Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 angeordnete sogenannte Familienbetrachtung nicht entgegen.

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a)

Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 sieht vor, dass bei der Anwendung von Art. 67 und 68 VO (EG) Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen. Dies gilt nicht nur bei Anwendung der Prioritätsregeln des Art. 68 VO (EG) Nr. 883/2004, sondern auch dann, wenn diese - wie im Streitfall (vgl. Ziffer 3) - ausgeschlossen sind und nurArt. 67 VO (EG) Nr. 883/2004 zur Anwendung kommt (ebenso Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Teil D.I., Art. 68 Rz 37).

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b)

Die Voraussetzungen von Art. 67 der VO (EG) Nr. 883/2004 liegen in Bezug auf den Sohn Patryk vor. Danach hat der Kläger für den in Polen lebenden Sohn in Deutschland Anspruch auf Familienleistungen als ob dieser in Deutschland leben würde. Die Voraussetzungen von Art. 67 der VO (EG) Nr. 883/2004 liegen jedoch nicht in Bezug auf die Kindesmutter vor, da es sich bei ihr nicht um eine "Familienangehörige" im Sinne der Verordnung handelt. Wer "Familienangehöriger" ist, bestimmt Art. 1 Buchst. j der VO (EG) Nr. 883/2004. Da in den deutschen Rechtsvorschriften keine Person als "Familienangehöriger" bezeichnet ist, gilt die Begriffsstimmung gemäß Art. 1 Buchst. j Ziffer 2 der VO (EG) Nr. 883/2004, wonach "der Ehegatte, die minderjährigen Kinder und die unterhaltsberechtigten volljährigen Kinder als Familienangehörige angesehen" werden. Da die Kindesmutter vom Kläger geschieden ist, handelt es sich bei ihr nicht um eine Familienangehörige im Sinne der VO (EG) Nr. 883/2004.

18

c)

Demgegenüber hat der EuGH zwar in der Rechtssache Slanina (Urteil vom 26.11.2009 C-363/08, Slg. 2009 S. I-11111) zur VO (EWG) Nr. 1408/71 entschieden, dass dem Umstand einer Scheidung keine Bedeutung zukomme. Zwar seien Familiensituationen nach einer Scheidung von der Verordnung Nr. 1408/71 nicht ausdrücklich erfasst. Es lasse sich jedoch nicht rechtfertigen, derartige Situationen vom Anwendungsbereich der Verordnung auszunehmen. Familienleistungen könnten schon aufgrund ihrer Natur nicht als Ansprüche betrachtet werden, die einem Einzelnen unabhängig von seiner familiären Situation zustünden. Folglich komme es nicht darauf an, ob es sich bei dem Leistungsberechtigten um die Kindesmutter oder den Arbeitnehmer selbst, nämlich ihren früheren Ehemann, handele. Art. 73 der Verordnung Nr. 1408/71 sei daher dahin auszulegen, dass eine geschiedene Person, die von dem zuständigen Träger des Mitgliedstaats, in dem sie gewohnt habe und in dem ihr früherer Ehegatte weiterhin lebe und arbeite, Familienbeihilfe erhalten habe, für ihr Kind, sofern es als Familienangehöriger des früheren Ehegatten im Sinne von Art. 1 Buchst. f Ziff. i dieser Verordnung anerkannt sei, den Anspruch auf diese Beihilfe beibehalte, obwohl sie diesen Staat verlasse, um sich mit ihrem Kind in einem anderen Mitgliedstaat niederzulassen, in dem sie nicht berufstätig ist, und obwohl der frühere Ehegatte die betreffende Beihilfe in seinem Wohnmitgliedstaat beziehen könnte.

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d)

Das Gericht hält diese zu der VO Nr. 1408/71 ergangene Rechtsprechung des EuGH nicht auf die VO (EG) Nr. 883/2004 für übertragbar, da in Art. 1 Buchst. j Ziffer der VO (EG) Nr. 883/2004 abweichend von Art. 1 Buchst. f) der Verordnung Nr. 1408/71 nunmehr eine klare Beschreibung des Personenkreises, wer als "Familienangehörige" anzusehen ist, gegeben hat. Da in der Begriffsbestimmung ausdrücklich der Ehegatte, nicht aber der geschiedene Ehegatte genannt ist, sieht das Gericht aufgrund des eindeutigen Wortlauts auch keine Möglichkeit, im Wege der von dem EuGH zur VO Nr. 1408/71 vorgenommen Auslegung den geschiedenen Ehegatten als Familienangehörigen im Sinne der VO (EG) Nr. 883/2004 zu berücksichtigen. Eine entgegenstehende Entscheidung des EuGH zur VO (EG) Nr. 883/2004 liegt nicht vor.

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e)

Da die Fiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009, wonach alle beteiligten Personen unter die deutschen Rechtsvorschriften fallen und in Deutschland wohnen, sich nur auf den Sohn des Klägers, nicht aber auf die Kindesmutter bezieht, kommt es darauf, in wessen Haushalt das Kind aufgenommen ist, nicht an.

21

d)

Selbst wenn Art. 60 Abs. 1 Satz 2 DVO (EG) 987/2009 auch auf die Kindesmutter Anwendung fände, stünde die darin getroffene Fiktion dem Kindergeldanspruch des Klägers nicht entgegen, da die Kindesmutter ihren Anspruch auf Leistung nicht wahrgenommen hat und nach Art. 60 Abs. 1 Satz 3 DVO (EG) 987/2009 in diesem Fall der Antrag des anderen Elternteils, hier des Klägers, zu berücksichtigen ist.

22

5.

Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 1 Finanzgerichtsordnung - FGO -.

23

Die Entscheidung über die vorläufige Vollstreckbarkeit ergibt sich aus § 151 Abs. 3 FGO i.V.m. §§ 708 Nr. 10, 711 Zivilprozessordnung (ZPO).

24

Der Senat lässt die Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung nach § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO zu.